Von Zwi Braun
Über die Feiertage des Jüdischen Jahres berichtet die Tora an verschiedenen Stellen, am ausführlichsten in dieser Parascha (Waj. 23, 1-44).
Beginnend mit dem Schabbat wird der Bogen von Pessach über Schawuot bis Sukkot gespannt. Doch folgt auf Schawuot nicht unmittelbar Rosch Haschana, wie wir es erwartet hätten, der zeitliche Ablauf wird durch den Einschub einer ganz anders gearteten Mizwa unterbrochen.
„Und wenn ihr die Ernte eures Landes schneidet, sollst du die Ecke deines Feldes (,Pea‘) nicht ganz fortnehmen indem du schneidest, und das Aufzulesende — versehentlich zu Boden Gefallene — deiner Ernte (,Leket‘) sollst du nicht auflesen; dem Armen und dem Fremden sollst du sie lassen, Ich bin G’tt, euer G’tt“ (Waj. 23, 22).
Raschis Enkel, der Raschbam, verknüpft diesen Passuk mit einer vorangehenden Stelle, welche das Darbringen des Omeropfers aus der neuen Ernte am Ausgang des 15. Nissan vorschreibt (Waj. 23, 10ff). Durch dieses Opfer und das daran anschliessende „Omerzählen“ wird ja bekanntlich Pessach mit Schawuot, dem 50. Tag der Omerzeit verbunden. Rabbiner Dr. D. Hoffmann führt diesen Gedanken genauer aus:
„Ohne Zweifel steht diese Vorschrift im engen Zusammenhang mit dem ersten Gebot unseres Abschnitts über das Omeropfer. Letzteres Gebot betrifft das zuerst Geerntete; der Schluss des Abschnittes verfügt über das Letzte der Ernte. Das Erste soll G’tt geweiht werden; vom übrigen soll nicht alles bis auf den letzten Halm von Eigentümer eingeheimst, sondern der Rand des Feldes und die Nachlese sollen den Armen überlassen werden. Die Anerkennung G’ttes als den Herrn des Bodens, die durch die Weihung des zuerst Geernteten zum Ausdruck kommt, hat die Gabe von ,Pea‘ und ,Leket‘ an die Armen zur Konsequenz. Ich bin der Ewige, euer G’tt, schliesst die Vorschrift: ‚Des Reichen und des Armen G’tt bin Ich, dem ihr ja gemeinsam das Erste eurer Ernte dargebracht habt‘.
Einen weiteren Aspekt, warum die Tora die Mizwot von „Pea“ und „Leket“ hier erwähnt, zeigt Rabbi Chajim Attar in seinem Kommentar „Or Hachajim“ auf. Der Feldbesitzer könnte nach dem Darbringen des Omeropfers auf den Gedanken kommen, sich hiermit bereits seiner „religiösen“ Verpflichtungen entledigt zu haben. Da erinnert ihn die Tora daran, dass das „Erste“ vom Feld G’tt, das „Letzte“ aber dem sozial schwächer gestellten Mitmenschen gehört.
Dass die Tora diese Gleichstellung unserer Verpflichtungen gegenüber G’tt und dem Mitmenschen gerade nach dem Erwähnen des Schawuotfestes betont, ist bedeutsam. An Schawuot, wenn wir der g’ttlichen Offenbarung am Sinai gedenken, die Tafeln mit den Zehn Geboten vor uns sehen, und vielleicht in unserer Ergriffenheit nur noch die ersten Gebote vernehmen, die sich auf G’tt allein beziehen, da besteht die Gefahr, dass wir in der jüdischen Religion nur das Gebundensein gegenüber G’tt wahrnehmen. Hier korrigiert uns die Tora — jüdische Religion ist im gleichen Umfang auch Verpflichtung gegenüber dem Mitmenschen.
Quelle: Zwi Braun, Zeitlos aktuell, Morascha Zürich