Opfer – Paraschat Vajikra

Von Eli Erich Lasch

Nach der Verkündigung der Zehn Gebote treffen wir auf ein scheinbares Paradox: „Wenn du mir aber einen Altar aus Steinen machen wirst, so sollst du ihn nicht aus behauenen Steinen bauen: Denn wenn du über ihm dein Schwert erhebst, hast du ihn entweiht.“ (Exodus 20,21)

Dieser Satz und der vorangehende, ebenso wie die jetzige Parascha, beschäftigen sich mit Tieropfern, einem Thema, das wesentlich dazu beiträgt, dass moderne Menschen Schwierigkeiten haben die Bibel zu akzeptieren.

Tieropfer spielen eine wesentliche Rolle im vorgeschriebenen Ritual und werden in der Bibel breit diskutiert. Der oben zitierte Satz klingt fast wie Hohn . Warum sollte ein Altar, auf dem ständig ein Schwert oder ein Messer benutzt wird, entweiht werden, wenn man die Steine mit demselben Instrument behaut? Wie ist es möglich, dass der Gott der Liebe und des Lebens es zulässt, dass er mit dem Opfern von Tieren verehrt wird?

Wenn wir zum hebräischen Original zurückkehren, stellen wir fest, dass die Bibel nicht von behauenen Steinen, sondern von bearbeiteten Steinen spricht. Die Vorschrift lautet also: Bewahre den Stein in seiner natürlichen Form. Ein Altar aus Erde, ein Altar aus natürlichem Stein. Tieropfer sind weder grausam, noch unmenschlich. Sie sind Teil der natürlichen Ordnung der Dinge.

Im Gegensatz zu den meisten östlichen Religionen fordert die Torah keinen Vegetarismus außer vielleicht im ersten Kapitel der Genesis. Aber das war, bevor Adam und Eva das Paradies verließen um die materielle Welt zu erleben. Laut der Genesis wurde die ganze lebende Natur von Gott erschaffen; für ihn gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Pflanzen und Tieren. Er hat beiden das Leben gegeben und die Verantwortung für sie dem Menschen übertragen. Wenn wir das Gefühl haben, dass das Töten eines Tieres eine grausame Handlung als das Ernten von Pflanzen ist, dann nur, weil die tierische Form der unseren ähnlicher ist. Wir können uns leichter mit einem Tier identifizieren als mit einer Pflanze. Neuere Forschungen haben allerdings bewiesen, dass auch Pflanzen Furcht zeigen, und jeder Gärtner weiss, dass Pflanzen sehr positiv auf Liebe und Aufmerksamkeit ansprechen. Um wieder die Bibel zu zitieren: „Es wuchs kein Kraut auf dem Felde … denn es war kein Mensch da den Boden zu bebauen.“ (Genesis 2, 5).

Die Tiere wurden erschaffen um den Menschen von seiner Einsamkeit zu erlösen (ebd. 18, 19); und sie wurden nach seinem Vorbild erschaffen. Dieser Ähnlichkeit ist sich jeder Arzt bewusst.

Der menschliche Körper ist seiner Konstitution nach Fleisch- und Pflanzenfresser zugleich und kann sich so oder so ernähren – genau wie die verschiedenen Tierarten. Das bringt allerdings die Gefahr mit sich, dass er sich zu sehr mit dem Tierreich identifiziert und seine Ursprünge vergisst; vergisst, dass die Tierwelt seinetwegen erschaffen wurde, wie die Torah uns zeigt. Er wird sich als ein integraler Teil des Tierreiches ansehen und anfangen zu glauben, dass er nur ein intelligentes Tier sei, das Endergebnis eines langen Evolutionsprozesses, das letzte Glied in einer Kette von Affen, ein Glaube, der heute weit verbreitet ist. Der moderne Mensch hat vergessen, dass er nicht nur von der Erde kommt, sondern ein Teil Gottes ist und identifiziert sich völlig mit seinem tierähnlichen Körper.

Das ist meines Erachtens der biblische Grund für die Tieropfer. Tieropfer waren die meistverbreitete Form des Gottesdienstes in der Antike und die meisten Bibelforscher seit dem Rambam[i] glauben, dass sie aus diesem Grund in den biblischen Ritus aufgenommen wurden. Nach dieser Auffassung konnten sich die Menschen einfach keinen Gottesdienst ohne Opfer vorstellen.

Obwohl diese Erklärung sicher stichhaltig ist und möglicherweise einer der Gründe für die Aufnahme des Opfers in den biblischen Ritus war, kann die Macht der Gewohnheit nicht der Hauptgrund sein. Nicht umsonst haben die Propheten gegen diesen Brauch gewettert und immer aufs Neue wiederholt, dass es nicht Gott ist, der die Opfer braucht, sondern die Menschen. Viele der Bibelgelehrten der Vergangenheit haben die Sache einfach damit erklärt, dass es sich um ein Gebot Gottes handele, das man nicht hinterfragen dürfe.

Wenn die Bibel keine anderen Motive gehabt hätte, als Gewohnheiten nachzugeben, hätte sie die Opfer verboten, genau so wie die Götzenanbetung, die gleichfalls weit verbreitet war. Im Gegensatz zum Christentum hat das Judentum auch die Götzen nicht übernommen und in Heilige umgewandelt. [ii] Die Bibel ist ein revolutionäres Werk und gibt niemals Gewohnheiten nach. Was war nun das wirkliche Motiv?

Auch wenn die Opferpraktiken zu Ehren der Götzen den biblischen zu ähneln scheinen, gehen sie von völlig unterschiedlichen Voraussetzungen aus. Während es das Ziel der damals üblichen Opfer war, die Götter zu besänftigen, indem man sie ernährte, waren die biblischen Opfer symbolische Handlungen.

Sie können grob in drei Gruppen unterteilt werden – Sündopfer, Dankopfer und das tagtäglich wiederkehrende Opfer. Wenn wir mit den Opfern beginnen, die als Buße für begangene Sünden dargeboten werden, müssen wir zur ursprünglichen Bedeutung von Sünde zurückkehren. Wie ich in diesem Buch schon einmal erwähnt habe, hat Sünde nichts mit Bösartigkeit zu tun. Das Wort bedeutet vielmehr: das Ziel verfehlen, den falschen Weg gehen oder einfach einen Fehler machen und die Konsequenzen annehmen. Das könnte der Hintergrund der Opferidee sein. Ein Weg für Fehler zu bezahlen ist etwas zu opfern, das einem gehört, und so den Vorgang der Buße greifbar zu machen.

Aber warum ein Tier dafür töten? Wenn es Ziel der Bibel ist, dem Menschen den Weg zurück zu seiner Göttlichkeit zu zeigen, wird Sünde, das Abweichen vom Weg Gottes zum Rückfall. Aus dieser Sicht würde Sündigen bedeuten: den Weg wählen, der zurück zur Identifikation mit der Tierwelt führt. Dieses ist der Weg, der vom lebendigen Gott und dem ewigen Leben fortführt. Die Götter, die ihn repräsentieren, sind Tiere (wie die Götzen Ägyptens) und ihr Ziel ist die Versklavung an die Erde und den Tod. So ist es sehr angebracht, dass nach dem Verlassen dieses Weges, sein Symbol, das domestizierte, versklavte Tier, geopfert wird.

Diese Sichtweise erklärt auch das Sündopfer, das man darbringt, nachdem man von einer Krankheit geheilt wurde. Die Bibel zeigt uns damit, dass Krankheit mit Sünde gleich gestellt werden soll. Krankheit ist aber keine Bestrafung für eine begangene Sünde, sondern eher das logische Resultat unseres Nachgebens gegenüber so ungöttlichen und tierähnlichen Impulsen wie Angst, Ärger und Sorgen. Oft resultiert Krankheit auch daraus, dass wir unserem Körper Falsches zumuten. Die meisten heutigen Krankheiten sind Zivilisationskrankheiten, die auf „Sünden“ wie Stress, Überessen u.ä. zurückzuführen sind. Wie schon gesagt, ist Krankheit aber keine Strafe eines zürnenden Gottes. Sie wird auch nicht durch innere und äußere Einflüsse ausgelöst, über die wir keine Kontrolle haben. Wir haben die Macht gesünder zu leben und unsere Umgebung zu verändern. Das ist genau das, was die Bibel erreichen will, und nicht umsonst finden sich in ihr und im Talmud so viele Gebote, die sich mit dem beschäftigen, was man heute als sanitäre Vorschriften bezeichnen würde. [iii] Wir sind es, die unseren Körper und unsere Umgebung erschaffen, genauso wie wir selbst unseren Körper und unsere Krankheiten sowie ihre Auslöser entwickeln. Wir und niemand anders sind dafür verantwortlich.

Indem wir körperliche Krankheiten entwickeln, erlauben wir es unserer Schöpfung, unserem Tierkörper, uns zu beherrschen und unsere Probleme zu lösen – ein Zustand, den die moderne Medizin als psychosomatische Krankheit oder „Flucht in die Krankheit“ bezeichnet. Krankheit ist daher nicht nur das Resultat von Sünde, sondern die Sünde selbst, und ihre Heilung sollte als Rückkehr auf den richtigen Weg betrachtet werden. Daher, wie schon gesagt, das Sünd- oder Sühneopfer.

In diesem Zusammenhang ist es interessant zu bemerken, dass die Bibel auch die Askese[iv][v] als Sünde ansieht, für die man durch ein Opfer büßen muss. Der Mensch sollte nicht versuchen Gott, das Prinzip des Lebens, anzubeten, indem er auf das Leben verzichtet. Auch sollte er den Schöpfer nicht dienen, indem er seinen Körper ablehnt, den Teil seiner selbst, den er beständig aufs Neue erschafft. Diese Sichtweise ist genau das Gegenteil der christlichen Tradition, die die Askese befürwortet, da sie den Körper als Feind ansieht, der bestraft und besiegt werden muss.

Die Torah sieht Askese nicht als die Erfüllung von Gottes Willen an; deswegen muss jemand, der der Askese gefrönt hat, ein Sühneopfer bringen. Die Bibel befürwortet ein volles Leben inklusive Geschlechtsverkehr.

Brandopfer haben allerdings eine tiefere Bedeutung, die nur von einer Generation verstanden werden kann, die über unser Wissen verfügt. Was ist es eigentlich, das da geopfert wird, und was geschieht tatsächlich?

Wie wir zuvor gesehen haben, gibt es viele verschiedene Arten von Opfern. Einige werden zum Teil verbrannt und zum Teil verzehrt, andere werden völlig verbrannt. Bei bestimmten Opfern werden nur Säugetiere geopfert, andere schließen auch Vögel ein, während ein dritter Typus nur aus Brot und Olivenöl besteht. Man könnte fast sagen, dass eine Vielfalt von kompletten Mahlzeiten zum Verbrennen zubereitet werden. Wenn wir dieses in unsere moderne Sprache übersetzen, stellen wir fest, dass Opfer tatsächlich vollständige Mahlzeiten sind, die Eiweiße, Fett und Kohlehydrate enthalten. Im Gegensatz zum Götzendienst werden sie aber nicht benutzt, um die Götter zu ernähren, sondern sie werden durch das Opferfeuer von materieller in spirituelle Energie verwandelt. Aber tun wir nicht genau das mit der Nahrung, die wir essen? Wird nicht ständig durch unseren Körper und unser Gehirn essbares Material in Energie umgewandelt? Während Tiere sich nur ernähren um am Leben zu bleiben, wird beim Menschen ein Teil dieses Prozesses benutzt, um geistige Energie zu erzeugen, das, was den Menschen zum Menschen macht. Dieses ist der wirkliche Unterschied zwischen Mensch und Tier.

Die Brandopfer symbolisieren den unüberbrückbaren Abgrund zwischen der Menschheit und dem Tierreich. Tiere, ebenso wie die Pflanzen, gehören der Erde an und sind im Grunde nichts anderes als Glieder einer endlosen Nahrungskette. Ihr Leben ist von drei Trieben erfüllt: Überleben, Ernährung und Fortpflanzung. Während auch der Mensch dieselben Bedürfnisse und Triebe hat, nimmt ihre Erfüllung nur einen Teil seiner Zeit in Anspruch. Da er nicht nur der Erde angehört, ist er mehr als nur ein Glied in der Nahrungskette der Natur, sondern kontrolliert sie in weitem Maße. Er kann es sich daher leisten, Nahrung zu benutzen um Wünsche und Triebe zu befriedigen, die über die tierischen Grundbedürfnisse hinausgehen. Es ist diese Freiheit, die durch das Brandopfer symbolisiert und sogar zelebriert wird. Der moderne Mensch verabscheut zeremonielle Opfer und nennt sie barbarisch, grausam und primitiv. Aber feiern wir nicht alle unseren Überfluss indem wir Tiere opfern um große Gelage abzuhalten? Und was ist mit dem so genannten Jagdsport? Wie viele Tiere werden von Jägern nur zum Vergnügen getötet? Ich frage mich, welcher Brauch barbarischer ist. Zwar bin ich nicht der Meinung, dass wir Tieropfer wieder einführen sollten; aber ich glaube, dass wir versuchen sollten ihre Bedeutung zu verstehen und aufhören sollten sie (und andere Vorschriften der Bibel) als Gebräuche anzusehen, die nur für Primitive taugen. Tieropfer sind nicht verschwunden; nur ihre Form hat sich verändert. Statt Tiere zu opfern um den spirituellen Teil in uns zu ehren, den wir Gott nennen, opfern wir sie zu Ehren unserer niedrigsten (und oft bestialischen) Gelüste und Triebe. Wir opfern sie nicht um zu essen, sondern uns zu überfressen; nicht um unseren Hunger zu stillen, sondern unsere Gefräßigkeit.

Bevor wir dieses Thema verlassen, wollen wir uns noch mit dem Thema der Menschenopfer befassen. Dieses war ein Gebrauch, der von der Bibel aufs Schärfste verurteilt wurde, aber im Volk von Judäa trotzdem weit verbreitet war.[vi] Damals opferte man Menschen um die Gemeinde zu retten. Und heute? Heute opfern wir Körperteile um den Körper zu retten. Wir versuchen nicht den Körperteil zu heilen, sondern schneiden ihn heraus. Haben wir uns wirklich verändert?

Wenn wir jetzt zum Anfang dieses Beitrags zurückgehen, können wir verstehen, warum die Torah den Gebrauch eines Schwerts zum Behauen der Steine des Altars verbietet. Die Torah sieht das Töten von Tieren nicht als einen Akt der Gewalt an, solange es einem positiven Zweck dient und nicht aus einem Zerstörungstrieb heraus geschieht. Das Tier wird auf jeden Fall getötet werden um als Nahrung zu dienen. Wenn nicht durch einen Menschen, so durch ein Raubtier. Das Schwert hingegen wird nur zur Zerstörung benutzt. Selbst das hebräische Wort für Schwert bedeutet: „das, was zerstört“ und hat denselben Stamm wie das Wort für Trockenheit. So ein Instrument beim Bau eines Altars zu benutzen würde diesen entweihen.

[i] Rambam, Der Lehrer der Verwirrten
[ii] Die christliche Religion hat die Götzen zum Teil in Heilige verwandelt. So wurde z.B. Isis in Maria, die Mutter Gottes verwandelt oder, wie C.G. Jung behauptet, Osiris in Jesus. Das hat das Judentum nicht getan.
[iii] Als in Europa der schwarze Tod (die Pest) wütete, waren die Juden kaum betroffen, weil sie die Toten sofort gewaschen und in Leichentücher eingewickelt haben. Deswegen hat man sie beschuldigt die Brunnen vergiftet zu haben.
[iv] hebr. „nazir“; Numeri 6, 13-21
[v]
[vi] 2. Könige, 23.10 und Jeremiah 32.35

Nach „Let there be Freedom – The Bible Unveiled“, Logos Publication, 1989; Übersetzung: der Verfasser und Cornelia Fuchs