Opfer im Judentum

Von Iris Noah

Wenn wir heute von „Opfer“ sprechen, dann ist damit gemeint, daß wir uns in irgendeiner Form einschränken um eines höheren Wertes willen, z.B. opfern Leute einen Teil ihres Urlaubs um ein soziales Projekt in einem Krisengebiet durch ihren persönlichen Einsatz zu unterstützen.

1. Konzepte von „Opfer“ in der Antike

Unser heutiges Verständnis von „Opfer“ ist anders als das der Menschen in der Antike. Für sie war es ein religiöser Ritus – meistens ein freudiger. Die Größe und der Umfang des Opfers hing von den Lebensbedingungen / sozialen Status / finanziellen Verhältnissen des Opfernden ab. Das Opfer bezog sich immer auf ein/e göttliche/s Wesen oder Kraft. Opfer wurden auch gebracht um sich Gunst einer Gottheit zu sichern oder um befürchtetes Unheil abzuwenden oder um Reinigung zu erhalten. Aber genauso oft – möglicherweise noch öfter – war es Zeichen der Dankbarkeit und / oder Ehrerweisung.

Die Institution des Opfers ist universell und geht weiter zurück als Geschichte aufgeschrieben wurde und findet sich in einigen Kulturen noch heute. Die Theorien sind vielfältig und spekulativ. Opfer haben viele Formen, die sich unterschiedlich entwickelt haben und aus verschiedenen Motiven speisen. Es gab Gemeinschafts-, Familien- und individuelle Opfer, manche waren verpflichtend und zu bestimmten Zeitpunkten /Anlässen fällig – andere waren freiwillig. Gewöhnlich bestanden Opfer aus Speisen und Getränken, aber auch aus Düften, Räucherwerk und dergleichen (Brot, Milch, Korn, Wein …) aber meist waren es Tieropfer.

Dahinter stand die Grundannahme, daß die übernatürlichen Kräfte (Geister der Toten, Dämonen, Götter) dieselben materiellen Bedürfnisse haben wie wir und sie günstig gestimmt werden können, wenn ihre Bedürfnisse befriedigt werden.

2. Konzepte von „Opfer“ in der Bibel

Es ist nicht leicht, festzustellen, ob die biblischen Autoren davon ausgingen, daß solche Ausdrucksformen wörtlich zu nehmen seien. Es finden sich im Tanach immer wieder Proteste gegen eine solche Grundeinstellung:

„Mein ist das Festland und was es erfüllt. Eß ich das Fleisch der Großstiere? Das Blut der Böcke, trink ichs? So schlacht es Gott zur Huldigung und zahl dem Höchsten, was du ihm gelobt. Und ruf mich an am Tag der Not, ich rette dich, du wirst mich ehren“
(Psalm 50,13-15)

Wahrscheinlich blieben alte Formen und Sätze erhalten, ohne daß man sich klar über ihre ursprüngliche Bedeutung war – so wie wir auch heute bei Lebensübergängen (Heirat / Begräbnis) Rituale haben ohne uns der dahinterstehenden „primitiven“ Konzepte bewußt zu sein und diesen zuzustimmen. (Reis werfen als Glückssymbolik, Erde aufs Grab schaufeln um u.a. böse Geister zu vertreiben etc.)

Viele Völker glaubten, daß Opfer nicht nur da waren um die Gottheit gnädig zu stimmen sondern auch unerläßlich waren um die Vitalität der Gottheit aufrechtzuerhalten. Der Tanach (hebräische Bibel) geht an keiner Stelle davon aus, daß Gott Opfer braucht, sondern besteht wiederholt auf dem Gegenteil.

Es war übliche Praxis, Zukunftsweisagungen mit Opfern zu verknüpfen. Die Babylonier haben eine ganze Wissenschaft daraus gemacht und z.B. vom Zustand bestimmter Organe des Opfertiers auf eintretende Ereignisse geschlossen. Vor geplanten wichtigen Schlachten gingen Römer und Griechen ebenso vor. Nichts davon findet sich in der Praxis des jüdischen Volkes.

In vielen Kulturen war der Opferkult ALLEINIGE Angelegenheit einer priesterlichen Elite und des Herrschers (Mesopotamien). Otto Normalverbraucher hatte nichts damit zu tun.
Der Opferkult in der Bibel war eine mehr demokratische Angelegenheit. Es wurde Vorsorge getroffen, daß sich auch die Armen Opfer leisten konnten.

Solche demokratischen Tendenzen finden sich auch in der Entwicklung von Opferritualen bei Griechen und Kartagern.

Babylonische und ägyptische Dokumente bezeugen, daß bei der Durchführung von Opfern liturgische Texte rezitiert werden MUSSTEN. In biblischen Texten finden wir keine Hinweise auf solche fest vorgeschriebenen Texte. Wir wissen aber, daß Opferrituale oft musikalisch begleitet wurden und Psalmen für den Gebrauch im Tempel geschrieben wurden. Was die Priester betraf, gab es sehr detaillierte Vorschriften.

Durch den ganzen Tanach hindurch wird Opfer als normales Element persönlichen, familiären und öffentlichen Lebens betrachtet. Das erste Opfer, über das berichtet wird, war das von Kain und Abel. Biblische Opfer waren sowohl gemeinschaftlich-öffentlich als auch individuell. Die gemeinschaftlichen – öffentlichen Opfer waren fast alle verpflichtend – einige von den individuellen Opfern auch (Reinigungsrituale z.B.). Die meisten individuellen Opfer waren aber freiwilliger Art.

Immer wieder haben sich Propheten dazu geäußert, daß ethisches Verhalten Vorrang hat vor Opferritualen, teilweise in ziemlich extremer Art:

„Ich hasse, ich verwerfe eure Feste und will nicht riechen eure Feieropfer. Wenn ihr Hochopfer mir bringt und Mehlopfer von euch, ich will sie nicht und eure Hochrinder als Opfermahl sehe ich nicht an… Soll nur gleich Wasser Recht fließen und die Gerechtigkeit wie starker Strom“
(Amos 5,21 ff).

Jüdische Tradition geht davon aus, daß diese Ausführungen sich nicht gegen Opfer als solches richten, sondern gegen die Tendenz durch Opfer moralisch-ethisches Verhalten ersetzen zu wollen. Opfer sind o.k., wenn sie mit reinem Herzen in der richtigen Motivation gebracht werden.

Menschenopfer im Judentum

Jedes Jahr an Rosch haSchanah (jüdisches Neujahrsfest) wird in allen Synagogen gelesen, wie G-tt Abraham aufforderte ihm Isaak auf dem Berg Moriah zu opfern (1 Mose 22). Im entscheidenden Moment rief Gott Abraham zu: „Stop! Lege Deine Hand nicht auf den Jungen und tu ihm nichts zuleide“. Die jüdische Tradition geht davon aus, daß keine wahre Religion ein Menschenopfer erfordert in SEINEM – G-ttes – Namen. Wir lernen daraus auch, daß ein Menschenopfer G-tt, verhaßt ist.

Die Torah sagt, daß jeder, der die Abscheulichkeit eines Menschenopfers begeht, sich unwiderruflich vom jüdischen Volk abschneidet (3 Mose 20,2 ff).

3. Talmudische Sichtweisen

Im ersten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung ging die religiöse Führerschaft weitgehend vom erblichen Priestertum auf eine Gruppe gelehrter Laien (Pharisäer) über, die eine große öffentliche Unterstützung hatten. Deswegen war es ihnen möglich, einige Änderungen bei den Abläufen im Tempel einzuführen. Das war auch Ausdruck eines sich ändernden religiösen Verständnisses und eines mehr „demokratischen“ Verständnisses.

Im Jahr 70 u.Z. zerstörten die Römer den Tempel und gestatteten nicht ihn wieder aufzubauen. So kam der Opferkult zum Ende. Zu dieser Zeit war die Synagoge als Ort des Betens und Lernens entwickelt und traf auch die Bedürfnisse der Juden in Palästina aber auch in der Diaspora. Doch der Verlust des Tempels als zentrales Heiligtum ging tief. Nirgends anders konnten nach allgemeinem Verständnis Opfer durchgeführt werden. So wurden Bitten um den Wiederaufbau des Tempels und die Wiederherstellung des Opferkults den synagogalen Gebeten hinzugefügt.

Die Rabbinen – Nachfolger der Pharisäer – führten eine Reihe von Praktiken in den Gottesdienst und das Alltagsleben ein, die mit den Tempelopfern bzw. Tempelritualen in Verbindung gebracht wurden:

  1. Challe nehmen: Beim Backen der Schabbatbrote (Challot) und bei jedem Teig, der schwerer als 1330 g ist, wird „Challe genommen“: Man nimmt ein Teigstück in der Größe einer Olive und spricht den Segensspruch.
    Das Challe nehmen erinnert an die Tempelopfer
  2. Das Zünden der Schabbatkerzen erinnert an die Leuchter im Tempel
  3. Tahara haMischpacha (Familienreinheit) erinnert an die besonderen Reinheitsgebote, die für die Priesterschaft galten.

Die besondere Verantwortlichkeit für diese drei Bereiche liegt bei den Frauen. Ihre wichtige Stellung in der Familie („Priesterin des Hauses“) wird damit deutlich.

Die Rabbinen unternahmen aber keine Anstrengungen, um so eine Art „Zwischenopfer“ einzuführen, bis wieder ein Tempel da sein würde. Dies wäre durchaus möglich gewesen, denn dafür gab es außerhalb von Jerusalem durchaus potentielle Vorbilder trotz der Verbote in 5 Mose 12,5-6.

Im 5. Jahrhundert v.d.Z. hatte eine jüdische Militärkolonie in Ägypten einen Tempel. Außerdem gab es einen Tempel im ägyptischen Leontopolis, der vom Hohenpriester Onias IV 170 v.d.Z. eingerichtet wurde. Dieser Tempel existierte bis ihn die Römer nach dem Fall von Jerusalem schlossen. Die Rabbinen haben niemals seine Legitimität anerkannt, aber andererseits ihn niemals als völlig sündig kritisiert.

Sie haben auch niemals den Wert des Tempelkultes in Frage gestellt. Sie beteten für seine Wiederherstellung und diskutierten die Abläufe und Notwendigkeiten des Tempelrituals bis ins kleinste Detail. Sie erklärten auf diese Situation bezogen, daß das Studium der Opfergesetze für Gott genauso akzeptabel sei wie die Durchführung des Opfers. (Dieser Gedanke ist nur sinnvoll und logisch, wenn man davon ausgeht, daß Gott keine Opfer braucht).

Kurz nach der Zerstörung des Tempels ging Rabbi Jochanan Ben Zakkai mit seinen Schülern zu den Ruinenresten. Einer der Schüler beklagte das Ende der Riten für die Vergebung der Sünden. Jochanan ben Sakkai antwortete ihm „Klage nicht, mein Sohn. Wir haben ein Mittel, das dem Opfer gleichwertig ist: Das Ausführen guter Taten (Mizwot)“.

Einige Jahrhunderte später erklärte Rabbi Isaak, daß das Gebet Vorrang hat vor Opfern.

4. Mittelalter

Moses Maimonides (1135-1204) ging davon aus, daß der Opferkult ein Zugeständnis an die Schwäche des Menschen war. In einer antiken Gesellschaft war ein Leben ohne Opferkult nicht vorstellbar. Ohne Opfer hätte die Gefahr bestanden, daß sonst anderen Göttern geopfert worden wäre. Der biblische Opferkult war also das Mittel, sie von Häresie abzuhalten.

Die Tierarten, die als Opfertiere genommen wurden waren solche, die bei den Hindus, Ägyptern u.a. Völkern als heilig galten und von ihnen nie als Opfertiere verwendet worden wären. Damit beinhalten die biblischen Opfer eine Zurückweisung heidnisch-abergläubischer Praktiken. (Interessanterweise sind viele Tiere, die als nicht koscher gelten solche, die in den Umweltkulturen Israels für Opfer benutzt wurden!!!)

Ein Jahrhundert vor Maimonides hat Juda Halevi argumentiert, daß der Tempel und die Opfer unerläßlich sind für die Wiederherstellung einer vollständigen Beziehung zwischen Gott und Israel – und durch Israel, zwischen Gott und der Menschheit.

5. Moderne

Mit dem Aufstieg des Reformjudentums in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Konzept, daß der Opferkult wiederhergestellt würde, aufgegeben. Die Reformer gingen davon aus, daß zu welchem Zweck auch immer das Opfer früher gedient hätte, dieser Zweck jetzt hinfällig geworden sei und keine Bedeutung für die Zukunft habe.
Deshalb wurden aus den Gebetbüchern alle Passagen, die sich auf die Wiederherstellung des Opferkultes bezogen, herausgenommen. Auch die konservativen und die rekonstruktionistischen Juden gehen nicht von einer Rückkehr zu Tempelopfern aus.

Ich hoffe, daß deutlich geworden ist, wie einschneidend die Entwicklung vom Opferkult zum Gebet / Lernen gewesen ist. Es war – aus meiner Sicht – eine revolutionäre Leistung der Rabbinen. Außerdem ging es darum, den Fortbestand des jüdischen Volkes – das in die Länder zerstreut war – zu sichern und das ohne eigenes Land und ohne zentrales Heiligtum.

Anregungen für diese Ausführungen verdanke ich :
Guttmann, A: The End of the Jewish Sacrificial Cult, Hebrew Union College Annual, Vol 38
sowie dem (reformjüdischen) Torahkommentar von Günter Plaut