PARASCHAT Jithro: Die Offenbarung am Berg Sinai

Von Eli Erich Lasch
(„Let there be Freedom – The Bible Unveiled“, Logos Publication, 1989)

Ägypten, das Land der Schmerzen und der Knechtschaft gehört der Vergangenheit an. Das grosse Abenteuer hat begonnen und die Nachkommen Abrahams sind endlich auf dem Weg zur Verwirklichung des Bundes, der Vision. Aber ist die Sklaverei wirklich Vergangenheit? Noch nicht ganz, da sie noch immer in den Herzen des Volkes weiterlebt.

Sie sind noch keine freien Menschen. Sie sind befreite Sklaven, die noch nicht wissen, wie sie mit dem grossen Geschenk der Freiheit umgehen sollen, das sie erhalten haben. Bis jetzt sind sie nur ein Haufen ohne klare Ziele. Sie wissen, was sie zurückgelassen haben, aber sie haben noch nicht begriffen, wohin sie gehen. Und so finden sie sich ohne ausreichende Nahrung und Wasser in der Wüste von Sin, die zwischen Elim [i] und Sinai liegt, und denken natürlich mit Sehnsucht an die Zeit in Ägypten, als sie wenigstens genug zu essen hatten.

„… die ganze Gemeinschaft der Kinder Israel kam in die Wüste … Und die ganze Gemeinschaft der Kinder Israel murrte gegen Moses und Aaron in der Wüste: Wären wir doch durch die Hand des Herrn im Lande Ägypten gestorben, als wir bei den Fleischtöpfen sassen und Brot in Fülle zu essen hatten. Denn ihr habt uns in die Wüste herausgeführt, um diese ganze Gemeinschaft Hungers sterben zu lassen.“ (Exodus, 16, 1-3)

In diesem Moment befinden sie sich auf halbem Wege zwischen den Götzen Ägyptens und dem Gott, der im Begriff steht sich ihnen am Sinai zu offenbaren. Der Weg zurück ist allerdings versperrt und so müssen die Kinder Israel lernen umzudenken, damit sie in der Wüste überleben können. Doch bekamen sie dabei Hilfe. Das Manna und die Wachteln, die beide übernatürlich und natürlich zugleich sind. Aber das gehört zur vorigen Parascha.

Die ersten Lektionen sind gelernt. Die Sklaven gewöhnen sich allmählich daran, was Freiheit bedeutet. Sie beginnen zu lernen, dass man ohne menschliche Herren leben kann, dass auch eine andere Autorität möglich ist, dass die Wege Ägyptens nicht die einzigen sind. Und so ziehen sie weiter, bis sie schliesslich Sinai erreichen.

Drei Monate sind vergangen, drei Monate, in denen sie von einer Realität in eine andere übergegangen sind; denn im Sinai werden sie durch eine begriffliche Revolution gehen. Sie und mit ihnen die ganze Menschheit. In diesem Moment wird alles, was als natürliche Ordnung angesehen wurde , auf den Kopf gestellt. Die Anbetung des Todes hat sich in die Anbetung des Lebens verwandelt. Und das hat die Menschheit bis heute nicht verkraftet. Bis heute ist der Tod der Herrscher.

Von versteinerter Ewigkeit zum ewigen Leben, von der Anbetung steinerner Götter zur Anbetung eines Gottes, dessen wichtigstes Gebot ist:

„Du sollst dir keine Abbildung machen und ihm dienen“. Versuche nicht Mir eine Form zu geben, denn Bilder und Formen werden deine Wahrnehmung von Mir beschränken. Nicht einmal einen Namen sollst du Mir geben, denn auch dieses grenzt ein.

Denke an Mich als „ICH BIN UND WERDE EWIG SEIN“, als das ewige Sein ohne Form und Grenzen. Nicht Mein Name ist wichtig, sondern die Tatsache, dass Ich bin und immer sein werde. Es ist diese Aussage, die mehr als alles den Wechsel von spiritueller und mentaler Sklaverei zu völliger Freiheit symbolisiert. Aus diesem Grund benutzt die Bibel die folgenden Worte, um die Ankunft der Kinder Israel im Sinai zu beschreiben:

„Im dritten Monat des Auszugs der Kinder Israel aus Ägypten, an DIESEM Tage kamen sie in die Wüste Sinai.“ (Exodus 19,1)

Dieser Tag ist ein Tag, der aus dem Zeitgefüge ausgeschlossen ist. Dieser Tag wird immer in der Gegenwart bestehen. Dieser Tag wird nie zu einem Ende kommen, sondern wie der brennende Busch sein und für immer fortdauern.

„Und es geschah am dritten Tag, als es Morgen wurde, und es kamen Stimmen und Blitze und ein schweres Gewölk auf dem Berge und der Schall des Widderhorns war sehr stark, so dass das ganze Volk, welches sich im Lager befand, erschauderte vor Angst … Und Moses führte das ganze Volk aus dem Lager Gott entgegen und sie stellten sich am Fusse des Berges auf. Und der Berg Sinai war ganz in Rauch gehüllt, denn der Herr fuhr auf ihn herab im Feuer und der Rauch stieg auf wie der Rauch von einem Schmelzofen, und der ganze Berg bebte. Und der Schall des Widderhorns wurde lauter und lauter und Moses sprach und Gott antwortete ihm mit donnernder Stimme (Exodus 19, 16-20) … „Und das ganze Volk sieht die donnernden Stimmen und das Feuer und den Schall des Widderhorns und den rauchenden Berg und das Volk fürchtete sich und sie zogen sich zurück und blieben in der Ferne stehen (Exodus 20,18).

So überwältigend war die Offenbarung, dass die anwesenden Menschen die donnernde Stimme und den Schall des Widderhorns sahen. Ein klarer Fall von Synästhesie, eine Überkreuzung von sensorischen Wahrnehmungen.

Bevor wir ins Detail gehen, lassen Sie uns sehen, was die Zehn Gebote und den darauf aufbauenden Gesetzescode so einmalig, so revolutionär machten. Der erste und wahrscheinlich wichtigste Punkt ist, dass sie so öffentlich gemacht wurden, wie es nur möglich war. Gesetzescodes waren nichts Aussergewöhnliches im antiken Nahen Osten; der berühmteste war der Code des Hammurabi, des babylonischen Königs, der im 18. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung lebte. Die Entdeckung dieser Gesetze löste grosse Aufregung in wissenschaftlichen Kreisen aus, da es viele Ähnlichkeiten zwischen diesen Gesetzen und den biblischen gibt. Spätere Entdeckungen haben jedoch gezeigt, dass Hamurabis Gesetze nie in die Praxis umgesetzt wurden. Die Stelen, auf die sie geschrieben waren, wurden in den Tempeln aufgestellt, den Göttern zugewandt. Ihr Zweck war nicht, das Los des Volkes zu verbessern, sondern den Göttern zu beweisen, was für ein gerechter König Hamurabi war. Die Gesetze als solche wurden in all den Hunderten von legalen Dokumenten, die man aus der Zeit entdeckt hatte, nicht ein einziges Mal erwähnt. Wenn wir dies mit der Bibel vergleichen, sehen wir, dass die Gesetze, die durch Moses offenbart wurden, nicht nur so öffentlich wie möglich verkündet wurden, sondern die Menschen wurden ermutigt, sie gründlich zu lernen, untereinander darüber zu sprechen und sie ihren Kindern zu lehren. Was für eine Veränderung gegenüber all dem, was voraus gegangen ist! Da diese Gesetze göttlich waren, waren sie für Könige und Bettler gleicher Massen bindend.

Das ist vielleicht heutzutage in den westlichen Demokratien selbstverständlich, aber damals war es eine unglaubliche Revolution. Damals hat es angefangen.

Hier haben wir die erste Erklärung der allgemeinen Menschenrechte, der Gleichheit nicht nur vor den Augen Gottes, sondern auch vor dem Auge des Gesetzes. Vor fast 3000 Jahren hat die Bibel erklärt, dass alle Menschen gleich geboren sind und dass alle Menschen Grundrechte haben, aus dem einfachen Grund, dass sie als menschliche Wesen geboren sind. Die Bibel kennt keine Menschen, die mehr gleich sind oder weniger, keine Aristokraten und Plebejer. Die meisten Gesetze gelten sogar nicht nur für das Volk Israel, sondern auch für die Fremden, die in seinen Toren leben. Selbst die Sklaven haben Rechte.

Während in den meisten alten Gesetzescodes eine Person, die einen entlaufenen Sklaven versteckt, schwer bestraft wird, erklärt die Bibel klar: „Du sollst einen Sklaven, der vor seinem Herrn zu dir geflüchtet ist, nicht an seinen Herrn ausliefern; er soll bei euch leben, an dem Ort, den er wählen wird, wo es ihm am besten gefällt, und du sollst ihn nicht bedrücken“. (Deuteronomie 23, 16) Der hebräische Sklave ist nicht einmal ein wirklicher Sklave, sondern das, was wir heute einen Angestellten nennen würden, denn nach sechs Jahren ist er frei. Und die Bibel fährt fort: „Denke daran, dass du ein Sklave warst im Lande Ägypten“. Kein Mensch ist sicher vor der Versklavung. Ein Sklave zu sein mindert nicht seine Menschlichkeit.

Was wir hier sehen ist die erste Menschenrechtserklärung. Die Zehn Gebote (oder wie die hebräische Bibel sie nennt, die Zehn Sprüche) schaffen die Grundlage für das Recht des Menschen auf Freiheit, auf Würde und Sicherheit. Die Zehn Gebote ermutigen den Menschen sich von den Götzen und Dämonen zu befreien, die ihn heimsuchen, und so sich selbst treu zu sein und seine Göttlichkeit wieder zu gewinnen. Die Zehn Gebote ergeben eine Verfassung für die Menschheit als ganze. Sie waren nicht nur für die Kinder Israel bestimmt, sondern für jeden. Das Volk Israel wurde nur zum Hüter und Flaggenträger der neuen Idee gewählt.

Es wurde erwählt, um der Menschheit als ganzer den Begriff der Menschenrechte im Gegensatz zu den menschlichen Pflichten aufzuzeigen, einen Begriff, der für die Menschheit bis auf den heutigen Tag problematisch zu sein scheint. Denn sind nicht Wendungen wie „Ich muss“, du musst“, „er muss“ noch immer die vorherrschenden in menschlichen Beziehungen? Es scheint, dass die Menschheit die wirkliche Bedeutung dieser zehn Grundsätze noch nicht verstanden hat. Oder könnte es sein, dass sie beschlossen hat sie zu missdeuten. Dass die Menschheit noch nicht bereit ist ihre Bedeutung anzunehmen? Könnte das der Grund für den Antisemitismus sein?

Die Bedeutung der Zehn Sprüche wird uns noch klarer, wenn wir bedenken, dass diese von Gott selbst ausgesprochen wurden. In den vorigen Abschnitten erwähnten wir immer wieder die Attribute Gottes. Hier, zum ersten und wahrscheinlich zum einzigen mal in der menschlichen Geschichte offenbart sich Gott selbst einem ganzen Volk. Dieses ist das Tor zu einer neuen Welt, das ermöglichen soll Gottes Reich auf Erden einzuleiten. Deswegen sagt auch die Bibel, dass das Volk die Offenbarung sieht (und nicht „sah“), wer sehen will, kann sie auch heute noch sehen. Es ist deswegen auch kein Zufall, dass laut der Überlieferung die Seelen aller Israeliten und Juden bis auf alle Ewigkeit am Sinai dabei waren. Für sie ist die Offenbarung noch immer Gegenwart. Sie waren und sind ihre ewigen Zeugen. Ist es das, was das jüdische Volk bis heute am Leben erhalten hat?

Die Zehn Gebote sind nun seit über 3000 Jahren weit bekannt. Seit 2000 Jahren sind sie zu einem festen Bestandteil des Christentums und später des Islam geworden. Aber wurde ihr tieferer Sinn wirklich je verstanden? Oder sind sie wie die Gesetze Hamurabis zwar auf Stelen eingemeisselt, die sich in jeder Synagoge oder Kirche befinden, aber genau so wenig verwirklicht wie diese – ein Lippenbekenntnis? Von einem Gott der Liebe und der Freiheit ist der „alttestamentarische Gott“ zu einer Figur geworden, die man an erster Stelle fürchten soll: der strenge, rachsüchtige Gott des Alten Testaments.

Ist es wirklich das, was die Bibel uns lehren wollte? Warum schreibt uns dann die Bibel vor, wir sollen Gott über alles lieben, auch die Aufforderung: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ stammt nicht von Jesus, sondern aus dem 3. Buch Moses.

Nicht um zu Sklaven von neuen Götzen zu werden, verliessen die Kinder Israel Ägypten. Die historische Rolle Israels war es den Götzendienst in all seinen Formen zu bekämpfen – die Bibel erwähnt dieses Thema 44 mal. Aber was ist die Verbindung zwischen Götzenverehrung und der Abwesenheit menschlicher Freiheit? Und welche Relevanz hat der Kampf gegen Götzenverehrung in einem Zeitalter von Monotheismus oder Atheismus, in einem Zeitalter, in dem Religion als Ganzes ihre Anziehungskraft verloren hat? Könnte es sein, dass wir einfach eine Garnitur von Götzen gegen eine andere ausgetauscht haben? Könnte es sein, dass all die verschiedenen –ismen nur moderne Götzen sind, die einfach „fortgeschrittener“ sind als die , welche im Altertum angebetet wurden. Könnte es sein, dass der sogenannte Atheismus nichts anderes ist als die völlige Unterwerfung unter diese modernen Götzen, wie z.B. Wirtschaft und Wissenschaft. Einige moderne Philosophen definieren Götzen als alles, für das wir unser wahres Selbst opfern, und meinen damit die Jagd des modernen Menschen nach materiellen Gütern und Errungenschaften. Für mich ist ein Götze etwas vom Menschen Erschaffenes, das dazu dient die Menschen zu unterdrücken.

Das Kennzeichen eines Götzen ist und bleibt die Sklaverei und seine Waffe ist die Furcht. Nach dieser Definition sind heutzutage auf der religiösen Ebene die stärksten Bastionen der Götzenverehrung die etablierten Religionen, die den Monotheismus in ein Mono-Götzentum und Gott in einen Super-Götzen verwandelt haben, den der Mensch aufgrund von Furcht lieben soll – ein Widerspruch in sich selbst. Das ist auch der Grund, dass man Fürsprecher braucht wie im Christentum Jesus Christus und die Jungfrau Maria und im Judentum der Vorvater Isaak, dazu die ganze Schar der Heiligen. Wenn Gott wirklich „der liebe Gott“ wäre, wäre das alles nicht nötig.

Um noch einmal zu den Zehn Geboten oder Zehn Sprüchen zurückzukehren: Als ich einmal „gefragt“ habe, ob es noch eine andere Bedeutung als die überlieferte gibt, bekam ich die folgende Antwort: „ Lies die Gebote vom Ende zum Anfang!“ Wie lautet denn das letzte Gebot? „Du sollst nicht begehren nach dem Haus deines Nächsten, … nach irgend etwas, was dein Nächster hat“. Ist das nicht genau die Einstellung, die unser Leben regiert? Ist das nicht der unterliegende Grund für Hass und Eifersucht? Wenn wir uns davon endlich befreien, ergeben alle anderen vorhergehenden Gebote einen neuen Sinn. Alle vier vorausgehenden Gebote werden als „Du sollst nicht …“ übersetzt, „Du sollst nicht töten“ usw. Auf Hebräisch wird ein Verbot meist mit dem Wort „al“ eingeleitet. In den Zehn Geboten hingegen wird das Wort „lo“ benutzt, was auch als „Du wirst nicht“ ausgelegt werden kann. Mit anderen Worten sagt uns hier die Bibel nicht „du darfst oder sollst nicht“, sondern „du wirst nicht“. Wenn du einmal das Begehren und den Neid überwunden hast, wirst du einfach nicht mehr töten oder stehlen. Dann wirst du auch deine Eltern ehren und so werde ich der Gott sein, der euch aus Ägypten, dem engen Land des Todes und der Knechtschaft, herausgeführt hat in eine neue Welt der Liebe und der Freiheit. Das ist was ich gemeint habe, als ich schrieb, dass die Offenbarung am Sinai „das Tor zu einer neuen Welt“ öffnet, und „Gottes Reich auf Erden“ einleitet.

[i] Elim bedeutet auf Hebräisch Götter.

Übersetzung: der Verfasser und Cornelia Fuchs (Jesaja, 5.2). Alle Bibelzitate sind der Übersetzung von Buber/Rosenzweig entnommen.