Das Buch Numeri und die Literatur des Alten Orients

William W. Hallo
Aus: „Tora in jüdischer Auslegung“

Ein vergleichender literarischer Zugang zum Buch Numeri erfordert zunächst eine literarische Einschätzung des Buches und hierin liegt eine außerordentliche Schwierigkeit. Dem Buch Numeri fehlt der Schwung und die Größe des Buchs Genesis, die theologische Bedeutung des Buches Exodus, die rechtliche Logik von Levitikus und die literarische Einheitlichkeit des Deuteronomiums.

Auf den ersten Blick erscheint es, als sei Numeri gar kein wirkliches „Buch“. Vielmehr bildet es den Abschluss des „Tetrateuchs“ (Genesis – Numeri), im Wesentlichen der priesterschriftlichen Geschichte Israels von der Schöpfung bis zu Moses Tod. Der kanonische Text hat den eigentlichen Bericht über Moses Tod am Ende des Buchs Deuteronomium überliefert, doch diese redaktionelle Änderung war vermutlich notwendig, als das Deuteronomium zum Pentateuch hinzukam. Ursprünglich könnte Deuteronomium vermutlich der Beginn einer zweiten, deuteronomistischen Darstellung der Geschichte Israels gewesen sein, das sogenannte „deuteronomistische Geschichtswerk“, dass mit einer kurzen Zusammenfassung der Erzväterzeit begonnen haben könnte (vgl. Dtn 26,3) und mit dem babylonischen Exil abschloss. Das chronistische Geschichtswerk beginnt noch einmal mit Adam (1. Chronik 1,1) und endet mit dem Wiederaufbau unter Esra und Nehemia (Nehemia 13,31). Noch später stellte Josephus die ganze Geschichte hauptsächlich für ein hellenistisches Publikum in seiner jüdischen Archäologie dar (gewöhnlich als „Jüdische Altertümer“ oder „Antiquitates“ zitiert), ähnlich wie Manetho die Geschichte Ägyptens, Berossos die Mesopotamiens und Phylo von Byblos die phönizische Geschichte festhielten.

Das „Buch Numeri“ in seiner uns überlieferten Gestalt beginnt also ziemlich willkürlich und endet ohne einen logischen Abschluss. Dazwischen bietet es ein offensichtlich buntes Gemisch von Erzählungen, Gesetzen und Genealogien. Vieles davon wird entweder in Numeri selbst oder an anderen Stellen der historischen biblischen Bücher wiederholt.

Doch trotz all dieser literarischen Schwierigkeiten zeigt das Buch bei genauerem Hinsehen Anzeichen einer literarischen Einheit und Bedeutung. Diese sollten wir unter den Gattungsbezeichnungen betrachten, die oben bereits erwähnt wurden, um zu einer angemessenen Beurteilung des literarischen Vergleichsmaterials aus der altorientalischen Umgebung zu gelangen.

Der erzählerische Hintergrund

Die Erzählungen im Buch Numeri schildern eine Zeitdauer von vierzig Jahren, die im Sinai, Negev und Ostjordanland verbracht wurde, d.h. die Zeit der Wüstenwanderung und der beginnenden Eroberung des verheißenen Landes. Das meiste handelt von einem Aufenthalt in Kadesch-Barnea. Hier wurde eine Eroberung des Landes von Süden (Negev) her erwogen und dann verworfen. Stattdessen führten Mose und Josua eine neue Generation durch das Ostjordanland und griffen das Land von Osten her über Jericho und Ai an.

Ob diese Darstellung im Groben oder in allen Einzelheiten historisch korrekt ist oder nicht, mag hier dahingestellt bleiben. Uns kommt es vielmehr auf den literarischen Umgang mit dem Thema an. So betrachtet bietet das Buch Numeri eine Geschichtsdarstellung im Sinne ihres höchsten Anspruchs, dass heißt als „die intellektuelle Art und Weise, in der sich eine Gesellschaft über ihre Geschichte Rechenschaft gibt.“1

Es ist das Bild, dass Israel sich über die Epoche seiner Geschichte machte, in der es zu einem Volk wurde. Dieses Geschichtsbild kann durchaus von einem Redaktor aus der exilischen Zeit stammen (6. Jh. v.d.Z.), doch es wurde aus verschiedenen und manchmal einander widersprechenden Quellen und mündlichen Traditionen zusammengestellt, die aus einer Zeit lange vor dem Großreich Davids (10. Jh. v.d.Z.) stammten und berichtet über Ereignisse am Ende der Bronzezeit (13. Jh. v.d.Z.). Ohne Frage war diese Darstellung anfällig für Verzerrungen und Harmonisierungen und all die anderen Unberechenbarkeiten eines langen und komplizierten literarischen Überlieferungsprozesses (die sog. „Redaktionsgeschichte“). In ihrer endgültigen Form hat die Darstellung sich weit von ihren Quellen und ihrem ursprünglichen Anliegen entfernt, um einige Jahrhunderte mehr als Shakespeare, wenn er sich für seine „Geschichte“ der frühen englischen und schottischen Könige wie Lear, John und Macbeth auf Holinshed und andere englische Chronisten bezog, oder, um ein treffenderes Beispiel zu benutzen, mindestens ebenso weit entfernt wie die Illias von der Belagerung Tojas.

Doch trotz dieses zeitlichen Abstandes von den beschriebenen Ereignissen, werden diese im Buch Numeri nicht idealisiert. Die Helden erhalten keinen heroischen Charakter und menschliche Schwächen werden nicht ausgemerzt. Wie der größte Teil der hebräischen Geschichtsschreibung und im Gegensatz zu den meisten außerbiblischen Erzählungen, wird diese Epoche der Geschichte Israels in sehr realistischer Weise beschrieben. Dies liegt nicht daran, dass sie sich etwa von der entsprechenden Phase in der Geschichte anderer Völker zur Zeit Israels unterschied. Es weist im Gegenteil alles darauf hin, dass die israelitische Wanderung nach dem selben Prinzip ablief wie die großen Völkerwanderungen, die im 13. Jh. die gesamte damals bekannte Welt überrollten.
Dies betraf vor allem zwei ethnische Gruppen. Aus der Ägäis kamen die Seevölker, die man zusammenfassend so nennt, weil sie vom Meer her angereist kamen, der Küstenlinie folgten und sich wo immer es möglich war, auch an der Küste niederließen. Diese Völker haben ihre Namen im ganzen Mittelmeergebiet hinterlassen, von Kilikien und Philistäa (Palästina) im Osten bis Sizilien, Etruria (Toskana) und Sardinien im Westen.
Aus den syrischen und arabischen Wüsten kamen unterdessen Schübe semitisch sprechender Halbnomaden, unter dem Oberbegriff „Aramäer“ bekannt. Im weiteren Sinn waren die Israeliten ein Teil von ihnen (vgl. Dtn 25,5). Wie die Seevölker eroberten sie, wo immer sie konnten, neue Länder, um sich dauerhaft niederzulassen, – in Kanaan, Syrien und Babylonien.

Durch diese beiden Bewegungen wurden – wenn sie sich nicht anpassten – einheimische Bevölkerungsgruppen vertrieben. Dies führte zu einer Serie ethnischer Wanderungen im Innern. Die großen Weltreiche jener Zeit gerieten unter diesen heftigen Angriffen ins Wanken. Einige, wie die Hetither in Anatolien oder die Kassiten in Babylonien, fanden dadurch ihr Ende. Andere, wie die Ägypter unter der langen Regierungszeit Ramses II. und die Assyrer unter dem kriegerischen Tukulti-Ninurta I. schafften es, die Eindringlinge abzulenken, zu besiegen oder zu kaufen. In jedem Fall jedoch hatte sich das Gesicht des alten Orients grundlegend verändert und eine neue Epoche, die Eisenzeit, begann.

Diese Wanderungen könnten – möglicherweise – durch die Plünderung Trojas um 1250 v.d.Z. und dem anschließenden Niedergang der mykenischen Städte des griechischen Kernlandes ausgelöst worden sein. Zumindest sind es diese Ereignisse, die sich später in der Literatur am nachhaltigsten niedergeschlagen haben. In der Illias ist ein Bericht über den trojanischen Krieg erhalten und sowohl die Odyssee als auch Vergils Epos Äneas erzählen über die anschließenden Wanderungen und Neugründungen der Überlebenden beider Seiten. Weiter östlich berichten das Tukulti-Ninurta-Epos und andere Texte der assyrischen Staatsarchive einige der Ereignisse dieser Epoche. Wie das fast gleich alte Deboralied in Richter 5 haben sie alle einen heroischen Klang. In wahrhaft epischer Weise besingen sie den Heldenmut und die Ordnung des Volkes, die Würde und Weisheit seiner Anführer und das beständige und gewöhnlich besorgte Eingreifen ihrer Götter, – kurz: Sie behandeln diese Epoche als ein heroisches Zeitalter.

Wenn es in Israel je eine solche Deutung der Wanderung und der Eroberung des Landes gab, dann könnte sie in der apokryphen Prophetie von Eldad und Medad zu finden sein (vgl. 11,26f), die nach einer rabbinischen Ansicht generell aus nur zwei Versen bestand (10,35f, vgl. Ps 68,2),2 oder im „Buch der Kriege des Ewigen“ (21,14) oder gar im „Buch des Aufrechten“ (Sefer haJaschar Jos 10,13; 2.Sam 1,18)3
Auf der Grundlage der poetischen Fragmente, die aus ihm zitiert werden4, könnte es sich hierbei „vielleicht um eine poetische Erzählung, vielleicht um ein kriegerisches Epos mit wunderhaften Elementen“ gehandelt haben.5 Keine dieser Zuordnungen trifft jedoch auf das Buch Numeri selbst zu, obwohl man annimmt, dass es gleichwohl eine epische Grundschicht enthält.6

Trotz seiner langen Redaktionsgeschichte bietet es keine schmeichelhafte Darstellung der Vergangenheit Israels. Die Erzählungen des „Buchs über Israels Niederlagen“7 schildern ein aufsässiges und halsstarriges Volk, das seine Anführer verdächtigt, sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens sehnt (Exodus 16,3; die Einzelheiten in der Beschreibung der ägyptischen Nahrung in Numeri 11,5 haben eine starke Ähnlichkeit mit literarischen Fruchtbarkeitstopoi in ägyptischen Texten wie z.B. im „Lob auf die Stadt Ramses“10), und des Verheißenen Landes unwürdig ist.

Eine bunt gemischte Menschenmenge schloss sich ihnen an. Gelegentlich wird sogar das ganze Volk durch abwertende Alliterationen wie ‚erew raw („Mischmasch“, vgl. das englische riffraff, Ex 12,38) oder asafsúf („Massen-Ansammlung“ 11,4) bezeichnet.
Die Anführer des Volkes zeigen viele Momente der Schwäche und bringen sich mit Ausnahme von Josua und Kaleb (26,65; 32,12; vgl. Dtn 1,36-38) um ihre Chance, das Land Kanaan selbst zu betreten. Selbst der Gott Israels wird im Buch Numeri nicht sehr schmeichelhaft beschrieben. So wird er zum Beispiel nur aufgrund mehrfacher Bitten Moses davon abgehalten, sein Volk zu verlassen, und Mose argumentiert nicht mit den Verdiensten der Israeliten, sondern damit, dass Gottes Name und Ruhm entehrt werde, wenn das Volk seine gerechte Strafe bekäme. Kurz: Die Epoche, in der das Volk Israel entstand, ist nach diesem Geschichtsbild alles andere als eine rühmliche.

Diese Beschreibung trifft in erster Linie auf die Zeit der Wüstenwanderung zu und ihren immer wiederkehrenden Krisen, die durch Mangel und militärische Rückschläge hervorgerufen werden. Doch auch die Anfänge der Eroberung und Sesshaftwerdung östlich des Jordans werden im Buch Numeri ohne heroischen Unterton beschrieben.

Die assyrischen Königsinschriften dagegen entwickelten recht früh einen schwülstigen Stil, die Gottheit, den König und die Armee zu verklären und beschrieben hingebungsvoll alle blutrünstigen Einzelheiten eines jeden siegreichen Feldzugs. Die Berichte im Buch Numeri stehen dazu in einem starken Gegensatz. In der Darstellung des Siegs über Sihon und seines amoritischen Königreichs (21,21-31) werden zum Beispiel weder Mose (wie im Parallelbericht in Deuteronomium 2,26-37) noch Gott erwähnt (im Unterschied zu dem Parallelbericht zu diesem Ereignis und zu einem anderen in Richter 11,19-26). In keiner dieser drei Versionen wird die Schlacht selbst besonders hervorgehoben.8 Was übrig bleibt ist ein nüchterner Bericht über die Sorgen der Einwanderung und die harte Wirklichkeit des Gebietserwerbs ohne romantische Ausschmückungen. Die wahre Bedeutung des Textes muss von daher außerhalb seines Erzählrahmens gesucht werden.

Der genealogische Rahmen

Traditionell bildet das erste Wort bzw. bilden die ersten Wörter (das sogenannte „incipit“) den Namen des Buches „In der Wüste“. Dieser Name beschreibt zutreffend den vermeintlichen Hintergrund dieses Werks. Die rabbinische Bezeichnung ist „das Buch der Tora über die gezählten“‚ und sein griechisches, lateinisches und modernes Pendant ist „Numeri“ (lat. „Zahlen“), ein Name, der besser zu der zugrundeliegenden Struktur des Buches passt.

Immer wieder stoßen wir in diesem Buch auf Listen: Listen über die Stämme, über ihre Anführer, ihre Opfergaben, ihre Marschordnungen, ja sogar über ihre Beute (31,25-54). Diese Listen lassen sich zwei Kategorien zuordnen: die einen beziehen sich auf die Stämme, die anderen auf die Priesterschaft. In den Stammeslisten ist die Zwölfzahl bestimmend. Dies ist zwar in gleicher weise die Anzahl der Söhne Jakobs in den Erzvätererzählungen der Genesis, doch zwischen diesen beiden Systemen stimmt weder ihre Zusammensetzung noch die Reihenfolge der Namen überein.

Einige Wissenschaftler sahen sowohl die Beständigkeit der Zahl als auch den Wechsel der Reihenfolge und Zusammensetzung als Beweis für den amphiktionistischen Charakter des israelitischen Stämmesystems. Eine Amphiktionie ist eine Form der religiösen und politischen Organisation, in der sich verschiedene Stämme zu einen gemeinsamen Kult verbinden und sich ein zentrales Heiligtum oder einen Tempel teilen, für dessen kultische Verpflichtungen die Mitglieder (im Idealfall nach dem Gleichheitsprinzip) auf der Grundlage eines Zwölf-Monats-Kalenders turnusmäßig verantwortlich sind. Derartige amphiktionistische Zusammenschlüsse sind seit langem aus dem klassischen Griechenland bekannt und wurden auch in Mesopotamien für das Ende des dritten Jahrtausends nachgewiesen.10

Einige Wissenschaftler halten diese Parallelen für aussagekräftig 11, andere bestreiten ihren Wert 12. In jedem Fall kann das Vorhandensein eines organisierten israelitischen Stämmeverbandes vor der Eroberung Kanaans und der Richterzeit nicht nachgewiesen werden. Deswegen können wir den historischen Aspekt hier außer Acht lassen und zum literarischen zurückkehren und feststellen: Der Verfasser oder Herausgeber des Buchs Numeri wollte den nötigen Übergang von den Erzväterbiographien des Buchs Genesis zu den Stammesgeschichten im Richterbuch herstellen. Genesis handelte fast nur von Einzelpersonen, das Richterbuch von den Angelegenheiten historisch fassbarer Stämme. Das Buch Numeri besetzt ein Mittelfeld, in dem jede handelnde Person mit einem der zwölf Söhne Jakobs genealogisch verbunden wird (dies wird im Falle von Nahschons Sohn Amminadab, dem Urgroßenkel Judas deutlich; vgl. auch Elischama von Ephraim), die gleichzeitig bereits als Vertreter oder Anführer eines der späteren Stämme handeln. Das Buch verwandelt die Söhne Jakobs in die eponymen Vorfahren der späteren Stämme oder, umgekehrt formuliert, schafft den Stämmen eine überzeugende genealogische Verbindungslinie.

Die Bedeutung von Genealogien wurde bereits im Buch Genesis deutlich, dessen zehn Abstammungslinien die grundlegende literarische Struktur des Buches bildeten — ein Merkmal, das gewöhnlich der priesterschriftlichen Quelle zugeschrieben wird.13 Diese Struktur findet im Buch Numeri eine literarische Wiederaufnahme (3,1), doch das priesterliche Interesse an den Genealogien zeigt sich vor allem im zweiten Aspekt der Listen im Buch Numeri, nämlich in ihrer Beschäftigung mit den Leviten. Nach den Genealogien und Erzählungen der Genesis ist Levi einer der vier Söhne, die Lea, die erste Frau Jakobs, gebar und steht gleichrangig neben Reuben, Simeon und Juda. Auch in dem Segen, den Jakob den zwölf Söhnen auf dem Sterbebett gab (Gen 49) und im Mosessegen (Dtn 33) ist dies so dargestellt. Doch das Stämmesystem der Richterzeit (Richter 1) weicht gerade in der Behandlung des Stammes Levi von diesen Beschreibungen ab. Das Buch Numeri gibt sich darum Mühe, diesen Unterschied jedes Mal, wenn es einer seiner Listen einführt, hervorzuheben, und schildert die besondere Behandlung, die den Leviten vorbehalten ist.

Wir wollen mit der Anordnung der Stämme beginnen, die einmal (Kap. 2) im Zusammenhang mit ihrer Aufstellung um das „Begegnungszelt“ (Stiftszelt) herum beschrieben wird und ein anderes mal (Kap. 10) im Zusammenhang der Marschordnung, wenn sich das Lager fortbewegt. (Das „Begegnungszelt“ könnte, wie das Vergleichsmaterial zeigt, nicht nur ausschließlich kultische Bedeutung gehabt haben. Beide Begriffe tauchen als Lehnwörter außerhalb des Hebräischen auf und beschreiben die besonderen politischen Strukturen der Westsemiten. „Zelt“ (a’lu) kennzeichnet in den neuassyrischen Inschriften Assurbanipals die Verbünde oder Amphiktionien der arabischen Stämme14 und „Begegnung“ (mw’dwt) bezeichnet in der ägyptischen Erzählung von Wen-Amon aus dem 11.Jh. die Versammlung der phönizischen Stadt Byblos.)15
Sowohl in Numeri 2 als auch in Kapitel 10 werden die zwölf Stämme in Vierergruppen von je drei Stämmen unterteilt und nach dem wichtigsten Stamm in jeder Gruppe benannt. Jede Einteilung ist durch eine Standarte (degel) gekennzeichnet. Genau dieser Begriff bezeichnet die soziomilitärischen Einheiten der Kaufleute, einschließlich der jüdischen, die zur Zeit des persischen Reichs in der Militärkolonie Elephantine in Ägypten dienten. Und sowohl in den Elephantine-Papyri als auch im Buch Numeri werden die priesterlichen Familien bei keiner dieser Einteilungen berücksichtigt. Was das Buch Numeri beschreibt ist demnach im wesentlichen eine militärische Organisationsform, die aus der nachexilischen Zeit bekannt ist.16

Die Reihenfolge der Abteilungen auf dem Marsch und im Lager war die folgende: Juda – Reúben – Ephraim – Dan. Dieselbe Ordnung und dieselben Personen, die die einzelnen Stämme repräsentieren, kehren bei der Weihe des Altars (Kap.7) wieder. Dieses Kapitel, das offenbar nur eine nüchterne und sich wiederholende Aufzählung gleicher Opfergaben mit anschließenden Summen ist, galt lange als stilisierter späterer Einschub. Nach Noth zum Beispiel wollte „der späte Verfasser die Bedeutung dieser Inhalte durch genaue Einzelheiten und permanente Wiederholung hervorheben.“17
Doch dieses Urteil muss im Licht der überreichlichen Bezeugung in den Keilschriftarchiven korrigiert werden. Solche Archivtexte haben typische, immer wiederkehrende Merkmale und enthalten nicht nur genaue Angaben und endlose Wiederholungen, sondern auch dieselbe Stellung von Summarien und Aufzählungen, von Angaben über verwendete Maßeinheiten, sowie über die Arten und die Mengen der verwendeten Waren und einen sehr knappen erzählerischen Rahmen. Sie beziehen sich oft auf kultische Ereignisse und sind dann eine Art beschreibendes Ritual, d.h. ein Bericht über Opfergaben, der über den Ablauf einer religiösen Zeremonie Buch führt. Die Weihe des Altars in Num 7 könnte deshalb unmittelbar von einem authentischen Archivbericht abhängen, wenn auch über ein späteres Ereignis.18

Die Anordnung der bereits erwähnten Abteilungen kehrt mehr oder weniger bei der Aufteilung des Westjordanlandes wieder (34,19-28). Hier mussten die Veränderungen berücksichtigt werden, die aus der Tatsache entstanden waren, dass zweieinhalb Stämme sich bereits im Ostjordanland niedergelassen hatten. In den übrigen Dienstplänen des Buches Numeri wird jedoch eine andere Reihenfolge genannt, nämlich Reúben -Juda – Ephraim – Dan. Mit anderen Worten, Reúwen und Jehudah (und mit ihnen zwei andere Stämme, die ihrer jeweiligen Abteilung zugeordnet werden) haben eine feste Stellung. Es gibt verschiedene Erklärungen für diese Unterschiede. Unter literarischem Aspekt betrachtet ist es höchst wahrscheinlich die Absicht des Verfassers, die Stammesstruktur enger mit den Erzvätererzählungen und Genealogien im Buch Genesis zu verbinden. Dort bestimmte das jeweilige Alter der Söhne Jakobs und die Stellung ihrer jeweiligen Mutter ihren Rang. So stehen Reúwen und Schimeon, die erstgeborenen Söhne Leas, der ersten Frau Jakobs, an der Spitze der Stammesvertreter, die ausgesendet wurden, um das Land zu erkunden (Kap 13). Ihr begeisterter Bericht über seine Fruchtbarkeit, vor allem seine Trauben (13,23) und die Milch und den Honig (13,2/) wurden feste Bilder in Kunst und Literatur. Sie haben jedoch einen Vorgänger in der Beschreibung des Landes Yaa in der berühmten ägyptischen Erzählung von Sinuhe.

Im Wesentlichen wird diese Reihenfolge auch in den beiden Volkszählungslisten des Buches Numeri verwendet. Hier wird Reúwen sogar als der Erstgeborene Israels bezeichnet (1,20; 26,5). Der historische Wert dieser Listen wird im Allgemeinen aus zwei Gründen in Frage gestellt. Zum einen sind es die unwahrscheinlich hohen Zahlenangaben, die uns berichtet werden, zum andern allgemein das Fehlen von urkundlich festgehaltenen Parallelen aus der biblischen Welt und speziell die überlieferte Abneigung gegen Volkzählungen in Israel. Diesen beiden Einwänden kann man nun auf literarischer Ebene entgegentreten. Die Listen bewahren nicht zwangsläufig einen authentischen Bericht über die Zeit der Wüstenwanderung, sind aber auch nicht völlig frei erfunden. Vielmehr haben wir es wieder mit archivierten Materialien zu tun (welchen Datums auch immer), die in den Erzählzusammenhang eingeflochten wurden.

Es sei besonders daraufhingewiesen, dass beide Listen (anders als die vergleichbare Volkszählung in 1. Chron 12) stets „Hunderte“ wie auch „Tausende“ einschließen. Dann kann jedoch tatsächlich gesagt werden, dass die ursprünglichen Listen „Hundert“ in der Regel im numerischen Sinn verwendet haben, während das Wort, das mit „Tausend“ übersetzt wird (und wohl so auch von dem Redaktor verstanden wurde), ein Begriff für eine militärische Einheit ist.“ Diese Einheit bestand im Durchschnitt aus zehn Männern, das heißt, sie war kleiner als eine moderne Militäreinheit, aber ist in der antiken Kriegsführung gut bezeugt, zum Beispiel von den babylonischen usratú der Hammurabi-Zeit und den emanti-Einheiten der Hurriter in Nuzi bis hin zu den römischen dekuriae.

Auf dieser Grundlage ergeben die einzelnen Einträge in beiden Listen nicht die Summe von unglaublichen 600.000 Menschen, auf die seltsamerweise in Numeri 2,32 (und Exodus 12,37 u. 38,26) Bezug genommen wird,20 sondern lediglich 600 Einheiten mit zusammen 6000 Männern.21 Diese Zahl ist durchaus vergleichbar mit den Armeen des Alten Orients. Um ein Beispiel zu nennen: In einem Brief des Königs Schamschi-Addu von Assyrien, einem älteren Zeitgenossen Hammurabis, an seinen Sohn, den Vizekönig von Mari, wird diesem gesagt, er solle eine Armee von 6000 Männern mustern aus den verschiedenen Stämmen, die ihm unterstehen, während er selbst 10.000 aufbringen wird und aus dem verbündeten Königreich Eschnunna weitere 6.000.22

Die Archive aus Mari und aus anderen nordmesopotamischen Orten während der Erzväterzeit liefern ebenso ausführliches Material für das Vorhandensein einer ausgearbeiteten Methode für die Volkzählung im Zusammenhang mit dem Militärdienst. Dieser Vorgang wird durch einen technischen Begriff beschrieben, der wörtlich übersetzt „Reinigung“ heißt und eindeutig einige religiösen Riten einschloss. Jeder Stamm bzw. Volkseinheit wurde von dazu bestimmten Vertretern gemustert und allen wurden Rationen zugewiesen. Das Verfahren dauerte mehrere Monate, weckte manchmal ein gewisses Maß an Feindschaft und fand in ungefähr gleichlangen Zeitabständen statt. Freilich, es war teilweise ein Mittel, die zentrale Kontrolle über die halb unabhängigen Stämme im Verwaltungsgebiet der großen Stadtstaaten dieser Zeit zu behalten.23

Zahlreiche „Kataster“-Register aus anderen Zeitepochen und Gebieten des Alten Orients zeigen das allgemeine Interesse an Bevölkerungsstatistiken im Zusammenhang mit Landerwerb, wenn nicht auch als Selbstzweck. Wir kennen nur ein keilschriftliches Dokument, das als „Geburtsurkunde“ und zwei andere, die als „Sterbeurkunden“ beschrieben werden könnten. Das Vergleichsmaterial jedoch weist deutlich daraufhin, dass die Volkszählungsidee in Numeri zurückgeht auf eine Situation, in der die politische Struktur Israels durch Stämme bestimmt war und geformt wurde.24

Gesetzgebung

Obwohl das Buch Numeri ein wesentlicher Bestandteil der Tora bzw. des Gesetzes ist, besteht es nicht nur aus Gesetzgebung. Die Gesetze bilden einen wichtigen Bestandteil des Buches, aber sie beschränken sich auf bestimmte Bereiche, die von der Erzählung oder dem bereits dargestellten stammesgeschichtlichen Rahmen vorgegeben sind, wobei sie die Leviten in besonderer Weise berücksichtigen. Vom literarischen Standpunkt aus gesehen, fehlt der Gesetzgebung des Buches Numeri ein systematisches Erscheinungsbild und eine formale Einheit, die man sonst bei den Gesetzeskodices im Pentateuch findet, also dem Bundesbuch in Exodus, dem Heiligkeitsgesetz in Levitikus, dem deuteronomischen Gesetz im Deuteronomium, den verschiedenen Dekalogen, Fluchsprüchen und anderen festen Formulierungen, die sich überall in diesen drei Büchern finden. Stattdessen werden die gesetzlichen Abschnitte im Buch Numeri eingeschoben und in einem Ausmaß unmittelbar vom Erzählzusammenhang abgeleitet, das sich sonst nirgends findet. Von den 30 Gesetzen, die die priesterschriftliche Quelle in dieser erzählerischen Art und Weise in den ersten vier Büchern der Bibel formulierte, begegnen einer bestimmten Zählung zufolge sechzehn auch im Buch Numeri.25

Das vielleicht deutlichste Beispiel dieser Form ist das Gesetz über die Erbberechtigung von Frauen. Nach der zweiten Volkszählung (Kap. 13) fordern die Töchter Zelophehads eine Bestimmung, die den Fall berücksichtigt, dass ein Vater – wie der ihre – ohne männliche Nachkommenschaft stirbt. Mose erhält hierzu eine göttliche Antwort (Kap. 27) und später werden weitere Bestimmungen bezüglich desselben Sachverhalts festgelegt (Kap. 36). Alle Bestimmungen sollen für alle Zeit gültig sein, dass heißt also, es handelt sich um einen Präzedenzfall.

Man hat seit langem gesehen, dass der größte Teil der Zivilgesetzgebung, sowohl in der Bibel als auch im Alten Orient kasuistisch, d.h. im Modus eines Konditionalsatzes formuliert ist. Dies trifft auch auf den berühmten Kodex Hammurabi und seine älteren Vorbilder in Babylonien wie auf die assyrischen und hethitischen Gesetze zu. Es gilt ebenfalls für das Bundesbuch (Exodus 21f) und seine deuteronomis-tischen Entsprechungen (vor allem Deuteronomium 21f). Dass die gleichen Formulierungen in Numeri 27 in einen Erzählzusammenhang eingebunden sind, lässt vermuten, dass ihr Verfasser wusste, was sich unter modernen Wissenschaftlern erst allmählich durchsetzte: Die kasuistische oder bedingte Gesetzgebung gründet sich auf jeweils gegebene besondere Einzelfälle. (An dieser Stelle erhellt die Bibel das altorientalische Vergleichsmaterial.) Dies bedeutet nicht, dass der Präzedenzfall immer eine historische Tatsache ist. Vielmehr haben wir es mit der allgemeinen Vorliebe des altorientalischen Denkens zu tun, ewige Wahrheiten aus einmaligen Begebenheiten abzuleiten. Ihren allgemeinsten Ausdruck finden solche Aussagen zwar in der Mythologie, doch sie spiegeln sich auch in der Weisheitsliteratur wieder und das kasuistische Recht steht der Weisheit oft geistig sehr nahe, wie das „salomonische Urteil“ (1. Könige 3) zeigt.

Die Geschichte der Töchter Zelophehads ist aber nicht allein als Präzedenzfall wichtig, sondern auch aufgrund des besonderen Anliegens, um das es geht:

um das Erbrecht nämlich. Im Buch Numeri geht es zu einem großen Teil um die Zuteilung der Eroberungen im Ostjordanland und um die zukünftige Aufteilung des Landes Kanaans, das als Erbbesitz der zwölf Stämme angesehen wird. In diesem Zusammenhang rückt der genealogische Aspekt der Stämmelisten erneut ins Blickfeld, denn Erbangelegenheiten werden auf der Grundlage des Familienrechts geklärt Hier können wir nicht nur die ausführlichen Bestimmungen in den keilschriftlichen Kodices zum Vergleich heranziehen, sondern auch die überreichlich vorhandenen Zeugnisse des tatsächlichen Rechtslebens in Mesopotamien und anderswo, die vom Erbrecht vor allem in Bezug auf Immobilien handeln. Sie zeigen dieselbe Sorge, den Erbbesitz innerhalb einer Familie zu bewahren, wie es Numeri 36 tut, wenn auch auf eine andere Art und Weise, und erlauben den Töchtern im Allgemeinen nur dann, am Erbe teilzuhaben, wenn sie unverheiratet sind oder, wenn sie als Priesterinnen bestimmter Klassen freiwillig auf eigene Kinder verzichtet haben. In der Praxis kam im Alten Orient das Fehlen männlicher Erben weniger häufig vor, denn es gab eine größere Bereitschaft zur Adoption (im Gegensatz zu Abrahams Furcht in Gen 15,3) und zum Konkubinat. Dagegen betont die biblische Gesetzgebung die Blutsverwandtschaft des Sohnes und den korrekten Status der Mutter. Das Buch Numeri besteht auf dem vollen Recht für alle Stämme, einschließlich derjenigen, die ihre Herkunft auf die Konkubinen Jakobs zurückführen, vermutlich deshalb, weil die Söhne von seinen Frauen adoptiert worden sind (Gen 30,3).

Die Gesetze über die Priester und Leviten sind in ähnlicher Weise in den Erzählzusammenhang des Buches Numeri eingeflochten. Wieder mag hier ein Beispiel genügen. Die ausführlichen Bestimmungen über die Beziehungen der Priester und Leviten zu den übrigen Israeliten in Kapitel 18 wird gelegentlich als scheinbare Doppelung oder Erweiterung der weniger umfangreichen Bestimmungen in früheren Abschnitten des Buches gesehen. Doch dieser Eindruck kann durch eine genaue Analyse der gesamten levitischen Terminologie und seiner Entsprechungen in den ausführlichen kultischen Vorschriften im übrigen Alten Orient korrigiert werden. Tatsächlich konnte überzeugend nachgewiesen werden, dass Numeri 18 auf eine wirkliche Änderung der vorhanden Beziehung zwischen Priestern, Leviten und Israeliten abzielt, eine Veränderung, die offenbar durch die schreckliche Erfahrung des im Anschluss erzählten Schlags der Korachiten (Kap 17) hervorgerufen wurde. Der Altar und andere geweihte Gegenstände des Stiftszeltes und seines Hofs hatten eindeutig die Macht, diejenigen, die sich ihnen näherten, zu töten und die Vergeltung auf das gesamte Volk zu übertragen. Von daher bildeten die diensttuenden Priester, die diese Gegenstände als einzige ungestraft sehen und benutzen konnten, ihre vorderste Verteidigungslinie. Doch die Hauptaufsichtspflicht kam den Leviten zu, die weit von den Priestern entfernt waren und als bewaffnete Wächter zusammen mit den Priestern die Sorge für das Heiligtum trugen und in besonderer Weise damit beauftragt waren, das Eindringen von Laien oder unauthorisierten Priestern oder Leviten zu verhindern. Solche Eindringlinge mussten auf der Stelle von den Leviten getötet werden, denen dies unter Todesstrafe geboten war. So würde niemals mehr das gesamte Volk unter den schrecklichen Folgen eines solchen unbefugten Eindringens leiden. Die Erzählung und die Gesetze zeigen also die große Angst vor jenen geweihten Gegenständen, die die Priester benutzten und gemeinsam mit den Leviten bewachten. Die immens hohe Vergütung der priesterlichen und levitischen Dienste, die das Buch Numeri in diesem und in anderen Zusammenhängen nennt, sind unter diesem Gesichtspunkt ein recht verständlicher Aspekt. Das anzunehmende hohe Alter der zugrundeliegenden Vorstellung wird durch eine hethitische Analogie bestätigt, den „Anweisungen für Tempelbeamte“ aus dem zweiten Jahrtausend. Auch hier wird die Aufsicht über den Tempel zwischen den Priestern, die das Innere des Heiligtums, seinen Hof und seinen Eingang bewachen, und einem bewaffneten Wächter, der unter der Aufsicht eines Priesters wie die Leviten in Numeri 18 das Äußere des heiligen Bezirks schützt, aufgeteilt. Sowohl die Priester als auch die Wächter sind auch hier unter Todesstrafe verpflichtet, jeden unautorisierten Eindringling zu töten, jedoch mit dem einzigen Unterschied, dass ihre Bestrafung von Menschen, nicht von Gott vollstreckt wird.26

Das Buch Numeri und die Archäologie

Wenn wir den strukturellen Aufbau und die Hauptthemen des Buches Numeri betrachten, ist nötig, auch kurz

auf die zahlreichen Einzelabschnitte zu sprechen zu kommen, d.h. auf die eigenständigen literarischen Einheiten, die in dieses Buch aufgenommen wurden, obwohl auch sie in vielen Fällen durch Ausgrabungen und Schriftfunde erhellt werden. Das hohe Alter der zahlreichen poetischen Fragmente, von denen einige ausdrücklich aus verlorengegangenen hebräischen Werken zitieren (z.B. 21,14), wird durch verschiedene Verbindungslinien zu anderen altorientalischen literarischen Texten bestätigt. Der erste der beiden Ladesprüche (10,35f) kehrt zum Beispiel mit leichten Veränderungen am Anfang von Ps 68 wieder, einer der altertümlichsten Stellen im ganzen Psalter, der hauptsächlich auf dieser Grundlage als eine Liste früher hebräischer lyrischer Gedichte gedeutet wurde, die mit ihren Anfangsworten (den“incipits“) zitiert werden.27 Ein vergleichbarer Brauch ist bereits vor dem Ende des dritten Jahrtausends in der sumerischen literarischen Bibliographie bezeugt, aus der wir etwa zwanzig solcher Kataloge kennen.28 Der poetisch formulierte Tadel von Aaron und Mirjam (12,6-9) bezieht sich auf nächtliche Visionen als Mittel, Gottes Willen zu erfahren, eine Methode, die aus den mesopotamischen Überlieferungen der Vorhersage-Methoden, wie zum Beispiel im assyrischen Traum-Buch allzu gut bekannt sind, und stellt dies der Stellung Moses als Liebling oder Vertrauter der Gottheit gegenüber. Dies wird mit einem Epitheton ausgedrückt, dass sich auch in den ugaritischen Epen findet: „Knecht [Gottes]“.29 Das „Brunnenlied“ (21,17f) hat eine enge Parallel in der Poesie der arabischen Wüste,30 während die „Ballade von Heschbon“ (21,27-30) der Stelle Jeremia 48,45f. so ähnlich ist, dass man wohl annehmen muss, dass beide Versionen auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen. Schließlich, ist die gesamte Bil’am-Geschichte (Kap 22-24), die eindeutig um seine vier prophetischen Orakel herum entstand, eine erzählerische Erweiterung, die durch diese Gedichte angeregt wurde. Indem die Geschichte Bil’am aus Petor am Euphrat kommen lässt und ihn in gewisser Weise als Wahrsager zeichnet, hat sie gewisse mesopotamische Klänge, doch eine wiederentdeckte aramäische Inschrift stellt diesen Fragenkomplex in ein neues Licht: Auf diesem Zeugnis aus dem achten Jahrhundert31, spricht Bil’am, der „Seher der Götter“ Prophetien und, nachdem sie zurückgewiesen wurden, Flüche, die an die biblischen Sprüche erinnern. Der Fundort dieser Inschrift liegt am Jabbok-Fluss östlich des Jordans und wurde vorläufig mit dem ostjordanischen Sukkot identifiziert, in dem unter anderem die Geschichte von Gideon (Richter 8) spielte. Die Bil’amgeschichten im Buch Numeri und die wiedergefundene Inschrift haben also den ostjordanischen Hintergrund gemein.32 Die jüdische Tradition verband den Begriff Peor aus der Geschichte über den Abfall an den moabitischen Kult, der unmittelbar anschließend erzählt wird, mit dem bet-marzeach oder Trauerhaus (Jer 16,5), dessen Vorhandensein nun aus Schriftfunden aus der gesamten antiken Welt bezeugt ist, d.h. in den staatlichen Archiven von Ugarit, den jüdischen Papyri aus Elephantine und verschiedenen semitischen Inschriften in Marseilles, Athen, Petra und Palmyra.33 Die Hauptperson der Geschichte, Pinchas, trägt wie andere Priester einen Namen mit einer offensichtlich ägyptischen Herkunft.34 Er hält dem Zorn Gottes stand, der hier und wiederholt im Buch Numeri (z.B. 15,37; 17,9-15) in Form einer Plage zum Ausdruck kommt, indem er auf der Stelle zwei der Schuldigen tötet. Dieses Thema findet sich auch in dem akkadischen Erra-Epos, wo eine Gottheit die Pest und eine Verbrannte-Erde-Taktik einsetzt und erst auf Bitten des Götterboten Ischum („Feuer“) besänftigt wird.35 Als Belohnung wird Pinchas und seinen Nachfahren der ewige Anspruch auf den Priesterdienst samt den damit verbundenen Einkünften versprochen. Der „Freundschaftsvertrag“, der diese Verheißung vermittelt, ist ein Schutzbündnis, in der Art, wie es uns aus den nicht bedingten königlichen Schutzerklärungen bekannt ist, die in den Urkunden aus Alalach und anderswo häufig zu finden sind. Im Gegenzug werden der besondere Einsatz für und die Achtung vor dem König versprochen.

Diese Beispiele zielten nicht darauf ab, die Ursprünglichkeit des Bibeltextes in Frage zu stellen. Vielmehr hilft der Vergleich, seine besonderen Merkmale deutlicher zu erkennen, wie auch diejenigen, die der Text mit seiner antiken Umwelt gemein hat. Dass man zum Beispiel keine Parallele zu den Zufluchtsstädten (Kap 35, vgl. Ex 21,12f; Dtn 4,41-43.19,1-B)36 ausmachen kann, unterstreicht die Einzigartigkeit dieser menschlichen Einrichtung. Andererseits können wir die zunehmenden archäologischen Entdeckungen nicht unberücksichtigt lassen. Bei Ausgrabungen in Tanis (dem bibüschen Zoan) in Ägypten fand man zum Beispiel eine Stele an dieser ehemaligen Hauptstadt der Hyksos, auf der das vierhunderste Jahr ihrer Gründung gepriesen und dies als die Grundlage für eine „Zeitrechnung der Stadt Tanis“ benutzt wird37 Die Gründung von Hebron scheint in dieselbe Zeit zu fallen (13,22). Die Ausgrabungen in Dibon, der alten Hauptstadt von Moaw (21,30; 32,34), bereicherten unsere Kenntnis über die Moabiter, wie auch verstreute Schriftfunde von moabitischen Inschriften. Und die Entdeckung des antiken Arad warf neues Licht auf die Midjanitischen Verbindungen des Keniters Hobab, der Mose in der Wüste führte (10,29-32) und könnte uns Informationen über die Art und Weise der Eroberung und Niederlassung geben, die Israels Besetzung des Ne-gev und des Verheißenen Landes bestimmten.38

Fazit

Das Buch Numeri bildet trotz seines uneigenständigen Charakters eine gewisse literarische Einheit. Der Vergleich mit den epischen Berichten anderer Völkerwanderungen am Ende der Bronzezeit zeigt, dass es eine einzigartige Fundgrube von Traditionen ist, die sich mit der Wanderung der Israeliten verbanden und eine unverzichtbare Verbindung zur Theologie der jüdischen Geschichte darstellt. Das Buch Numeri liefert die genealogische Kontinuität zwischen den Erzvätertraditionen und den rechtlichen und moralischen Grundlagen der Eroberungen, die berichtet oder vorweggenommen werden. In seinen Erzählungen schafft es juristische Präzedenzfälle und Neuerungen und widmet sich besonders den Fragen der Erbschaft und den Pflichten und Rechten der Priester und Leviten. Obwohl es in seiner Darstellung des Volkes eigenartig unerbaulich ist und sich manchmal alles andere als schmeichelhaft über seine menschliche und göttliche Leitung äußert, zeigt es sowohl in der Beschreibung als auch in seinen Vorschriften die Notwendigkeit der Reinigung von Aufsässigkeit und Sünde. Es legt die Grundlage sowohl für die Stämmeamphiktionie der Richterzeit als auch für die theokratische Politik, die ihr folgte. In seinem freien Gebrauch biblischer und außerbiblischer Motive erweist es sich als Ganzes als einzigartiges Kompendium des altisraelitischen Geschichtsbildes.

(1) J. Huizinga, A definition of the concept of history, in: R. Klibansky / HJ. Paton (Hg.), Philosophy and History: essay presented to Ernst Cassirer, Oxford 1936,1-10,9; vgl. W.W.Hallo, Biblical history in its Near Eastern setting: the contextual approach, in: C.D. Evans / W.W. Hallo / J.B. White, Scripture in Conext Essays on the comparative Method (Pittsburgh Theological Monograph Series 34) 1980,1-26, 6f.
(2) S. Z. Leiman, The inverted nuns at Numbers 10:35-36 and the Book of Eldad and Medad, JBL 93 (1974) 348-355; doch vgl. B. Levine, More on the inverted nuns of Num. 10: 35-36, JBL 95 (1976), 12-124.
(3) Sh. Talmon, Heiliges Schrifttum und kanonische Bücher aus jüdischer Sicht, Judaica et Christiana 2 (1987), 45-79 Anm. 27 nahm an, dass die beiden letzteren letztendlich identisch seien.
(4) Jos 10,13; 2. Sam 1,18, siehe dazu jetzt W.W. Hallo, The expansion of cuneiform literature, PAAJR (1979/80) (Jubilee Volume), 307-322, 3196 Sh. Talmon, Did there exist a biblical national epic? Proceedings of the Seventh World Congress of Jewish Studies: studies in the Bibel and the Ancient Near East, 1981, 11-61, 46 und vielleicht mit der Septuaginta 1. Kön 8,13.
(5) R. Alter, The Art of Biblical Narrative, New York 1981,35.
(6) F. M. Cross, Canaanite Myth and Hebrew Epic: essay in the history and the religion of Israel, Cambridge Mass 1973 (v.a. S. 198-201, 301-322) und ders.,The epic traditions in early Israel: epic narrative and the reconstruction of early Israelite institutions, in: R.E. Friedman (Hg.), The Poet and the Historian (Harvard Semitic Studies 26), Cambridge Mass 1983, 13-39. Anders Ch. Conroy, Hebrew epic: historical notes and critical reflections, Biblia 61 (1980), 1-30; Sh. Talmon, Did there exist a biblical national epic? Proceedings of the Seventh World Congress of Jewish Studies: studies in the Bible and the Ancient Near East, 1981,11-61.
(7) Sh. TaLmon, The „desert motiv“ in the Bible and in Qumran literature, in: A. Altmann (Hg.), Biblical Motifs: Origins and Transformations, Cambridge Mass 1966,31-63,46.
(8) Vgl. J. van Seters, The conquest of Sihons’s kingdom: a literary examination, JBL 91 (1972), 12-187 und ders., Once again – the conquest of Sihon’s kingdom, JBL 99 (1980), 117-119.
(9) Z.B. mJoma 7,1, zitiert bei E. Rivkin, A Hidden Revolution: the Pharisees‘ search for the kingdom within, Nashville 1978,228.
(10) W.W. HaJlo, A Sumerian amphictyony, JCS 14 (1960), 88-114; M. Tanret, Nouvelles données à propos de l’amphictyonie neo-sumenenne,Akkadica 13 (1979), 28-45.
(11) M. Bamouin, Les recensements du livre des nombres et l’astronomie babylonienne, VT 27 (1977), 280-303, v.a. S. 285.
(12) Siehe das Kapitel „Das Buch Deuteronomium innerhalb der Literatur des Alten Orients“. Zu einer neueren Übersicht über die Diskussion siehe H. Chambers, Ancient amphktyonies, sie et non, in W.W. Hallo/J.C. Moyer/L.G. Perdue, Scripture in Context 2: more essays on the comparative method, Winona Lake, Ind. 1983,39-59.
(13) Vgl. im Einzelnen S. Tengström, Die Toledotformel und die literarische Struktur der priesterlichen Erweiterungsschicht im Pentateuch (Coniectanea Biblica-OT Series 17), 1981.
(14) Vgl. F. M. Cross, Canaanite Myth and Hebrew Epic: essay in the history and the religion of Israel, Cambridge Mass. 1973,7f und Anm. 13 und 16.
(15) Pritchard ANET* 25-29 und Anm. 40; vgl. H. Goedicke, The Report of Enamun (Johns Hopkins Near Eastern Studies [6]) 1975,123..
(16) B. Porten, Archhres from Elephantine, Berkeley 1968,28-35.
(17) M. Noth, Numeri.
(18) B. Levine, The descriptive ritual texts of the Pentateuch, JAOS 85 (1965), 307-318; s. o. „Das Buch Exodus innerhalb der Literatur des Alten Orients“.
(19) In der Achämenidenzeit kann MT auch im Sinne einer organisierten Körperschaft von Männern (unbestimmter Anzahl) verwendet werden, die in diesem Fall jedoch aus Zivilisten besteht; A. Temerev, Social organization in Egyptian military setüements of the sixth-fourth centuries B.C.E.: dgl and m’t, in: FS D.N. Freedman (ASOR Special Volume Series 1), Cambridge Mass. 1983,523-525.
(20) Zur letzten Stelle vgl. B. Levine, the descriptive ritual texts of the Pentateuch, JAOS 85 (1965), 307-318, 310 und Anm. 13. Er zitiert R.B.Y. Scott, Weights and measures of the Bible, Biblical Archaeologist 22 (1959), 22-40,32f (603.550 erwachsene Männer die je einen halben Schekel bezahlen der jeweils 301,775 Schekel oder 100 Talente oder 1775 Schekel wert war; vgl. Exodus 38,25).
(21) Alternativ kann man von einer Standard „Brigade“ von 600 Männern und einer Summe von „Tausend Brigaden“ ausgehen; A. Malamat, The Danite migration and the pan-Israelite Exodus-Conquest a Biblical narrative pattern, Biblica 51 (1970), 1-16,9f.
(22) Ähnlich Karana 4, übersetzt von St Dalley, Mari and Karana: Two Old Babylonian Cities, London/New York 1984,38.
(23) E.A. Speiser, Census and ritual expiation in Mari and Israel, BASOR 149 (1958), 17-25, Nachdruck in Oriental and Biblical Studies (1976 j, 171-186.
(24) R.H. Pfeiffer, Introduction to the Old Testament, Nex York 1941, 250-253. Zu einer anderen Zählung siehe den Kommentar von Bamberger (Band III dieses Torakommentars).
(25) VgL Z. Ben-Barak, Inheritance by daughters in the Ancient Near East, JSS 25 (1980), 22-33.

(26) VgL 2. Chron 23,7 und siehe oben, „Das Buch Levitikus innerhalb der Literatur des Alten Orients“.
(27) W. F. Albright, A catalogue of eariy Hebrew lyric poems, HUCA 23/ al (1950-51) 1-39. (28)
(28) Siehe zB W.W. Hallo, On the antiquity of Sumerian literature, JAOS 83 (1963), 167-176; ders., Another Sumerian literary catalogue? Studia Orientalia (Salonen Volume) (1975), 77-80 und ders., Notes from the Babylonian Collection, II: Old Babylonian HAR-ra, JCS 34 (1982), 81-92; S.N. Kramer, History Begins at Sumer: Thirry-nine firsts in mans’s recorded history, Pennsylvania 1981,250-254.
(29) z.B. Pritchard ANET2 (1955), 144 Zeile 152-155, wo König Keret „Knecht Eis (oder „Gottes“)“ genannt wird. Zu diesem Begriff mit einer anderen Konnotation im hellenistischen Ägypten siehe H. Bonnet, Die Bedeutung des Titels „Gottesknecht“ im hellenistischen Ägypten, Zeitschrift für Ägyptische Sprache 80 (1955), 1-5.

(30) R. H. Pfeiffer, Introduction to the Old Testament, New York 1941, 274.
(31) Zur Datierung siehe J. Naveh, The date fo the Deir ‚Alla inscription in Aramaic Script, IEJ 17 (1967), 256-258 und ders., Review of Hoftijzer and van der Kooij, Aramaic Texts frorn Deir ‚Allä, IEJ 29 (1979), 133-136.
(32)J. Hoftijzer, the prophet Balaam in a 6th [!] Century Aramaic inscription, BA 39/1 (1976), 11-17. 
(33) Siehe M. H. Pope, the Song of Songs: a new Translation (AncB 7c), Garden City NY 1977,210-229.
(34) Vgl. zB. Putiel in Ex 6,25, Hofni in 1. Sam 1 -4; Paschhur in Jer 20,1 -6. Zu diesen Namen und nicht-hebräischen Namen unter der übrigen israelitischen Bevölkerung siehe R. Zadok, Die nichthebräischen Namen der Israeliten vor dem hellenistischen Zeitalter, UF17 (1985), 387-398 v.a. 392-395.
(35) M. Weinfeld, The covenant of grant in the Old Testament and in the Ancient Near East, JAOS 90 (1970), 184-202; v.a. S. 201f.
(36) A. L. Oppenheim, The Interpretation of Dreams in the Ancient Near East, with a translation of an Assyrian Dream-Book (Transactions of the American Philosophical Society 46/3), 1956.

(37) Siehe unten „Das Buch Deuteronomium innerhalb der altorientalischen Literatur, S. 96ff.
(38) B. Mazar, The sanctuary of Arad and the family of Hobab the Kenite, INES 24 (1965), 297-303 und PL LI; Y. Aharoni, Nothing early and nothing late: re-writing Israel’s conquest, Biblical Archaeologist 39/ 2 (1976), 54-76.

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