Zum Schlussgebet des Jom Kippur: Verschlossene Tore

Quelle: Sefer haTfiloth, Gebetsbuch für die Hohen Feiertage

Gedanken von Rabbiner Dr. Jonathan Magonet

Neila ist voller Bilder der Endgültigkeit: Die Tore, die geschlossen werden, das Buch, das gesiegelt wird, das Urteil, das Israel und der Welt ausgehändigt wird. Alle äußeren Bilder im Neila-Gottesdienst umschreiben eine Dringlichkeit, eine Entscheidungssituation, eine letzte Chance, in eine Sicherheit zu fliehen. Es ist, als sähen wir tausende von Seelen, die zu den sich schließenden Türen strömen und verzweifelt versuchen, noch hineinzukommen, bevor die Türen zuschlagen.

Dies ist ein Teil der Wahrheit dieser letzten Momente des Jom Kippur – und doch gibt es auch noch eine andere, eine innere Dimension. Denn da gibt es auch ein Gefühl von Erleichterung, von Ruhe und Gewissheit. Denn wenn Israel seine Aufgabe heute erfüllt hat, wird auch Gott das tun, was Gott durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder neu verheißen hat: „Auf dein Wort hin habe ich vergeben“ (Num 14,19-20). Denn dies ist der weiße Fasttag, nicht der schwarze. Es ist eine Zeit der Freude über die Gewissheit der Versöhnung und des Nach-Hause-Kommens.

Für wieviele Menschen gibt es keine Erleichterung, keine Linderung des Leids, kein Gefühl, eine Reise gut hinter sich gebracht zu haben und jetzt nach Hause zu kommen. Wir sind von unserem inneren Leben, von dem inneren Leben unserer Tradition so entfremdet, dass diese jährliche Inszenierung zu wenig bringt und zu spät kommt, vielleicht zu spät. Vielleicht ist es wahr, dass es mehr darauf ankommt, was du mitbringst, als darauf, was du mitnimmst. Aber dabei wird oft vorausgesetzt, was man mitbringen solle, seien die formalen Maßstäbe der Beachtung der Regeln, der Glaubenspraxis und die Beachtung jüdischer Formen, und allein diese machten die Reise erst möglich.

Es ist wahr, dass sie für viele der Weg sind, aber es gibt kein Leben ohne seine Verpflichtungen, ohne seinen Kampf um Werte und seine Suche nach Sinn. In der heutigen, bruchstückhaften Welt, wo wir von den Resten unserer Tradition leben, als Teil des Restes unseres Volkes, ist es nicht leicht zu wissen, worin die Wahrheit unserer jüdischen Aufgabe besteht. Doch wir sollten uns nicht von Gefühlen des Augenblicks betrügen lassen – oder sogar von der Abwesenheit solcher Gefühle.

Denn die Reise durch den Jom Kippur war eine wirkliche Reise, eine Reise, die wir nicht danach beurteilen dürfen, was wir an ihrem Ende fühlen, sondern danach, wie wir unser Leben in den folgenden Tagen, Wochen und Jahren führen, nach dem der letzte Schofar-Ton nicht nur die höchsten Höhen des Himmels durchdrungen hat, sondern auch die tiefsten Tiefen unserer Seelen.

Gedanken zum Viduj im Schlussgebet

Gott, ich möchte dir nicht in den Ohren liegen oder mich wiederholen oder dir meine Liste der Sünden erneut vortragen. Du kanntest die Liste, bevor dieser Tag begonnen hat. Ich habe sie mehr für mich selbst als für dich gesagt. Du kennst sogar alle Sünden, die mir noch unbekannt sind, Sünden, die ich vor mir selbst versteckt habe oder die ich aus Dummheit nicht sehe.

Ich bekenne, dass ich verantwortlich bin für vieles, was unrecht gewesen ist. Ich habe versucht, mehr aus dem Leben herauszuholen, als ich bereit war zu geben. Ich habe nie gelernt, die richtige Frage zu stellen. Ich fragte nicht: „Was kann ich dem Leben geben?“, sondern: „Was gibt das Leben mir?“ Vielleicht habe ich andere betrogen, mit Sicherheit jedoch habe ich mich selbst um viele Dinge betrogen, die ich hätte haben können: um Freundschaft, Liebe und Selbstrespekt.

Ich bekenne, dass viele meiner Probleme entstanden sind, weil ich die Wahrheit über mich selbst oder über mein eigenes Leben nicht wirklich wissen wollte. Ich habe versucht zu kaufen, was nicht käuflich ist. Ich habe Dauerhaftigkeit von vergänglichen Dingen erwartet. Ich bin der Menge gefolgt, weil ich nicht den Mut hatte, allein zu stehen.

Und ich bekenne, dass ich mein Wissen über dich habe schwinden lassen. Viele Hoffnungen und Träume sind gestorben, weil ich ihnen nicht vertraut haben, obwohl sie Zeichen deiner Gegenwart in meinem Leben waren.

Ich bin heute durch so viele Gebete gegangen, habe so viele Worte ausgesprochen, dass ich teilweise das Gefühl für ihre Bedeutung verloren habe. Ich bin verblüfft über ihre Sicherheiten und ihre Forderungen. Lass zumindest dieses Bekenntnis wahr sein, lass es mein eigenes Gebet sein.

Denn ich bekenne, dass viele meiner Bekenntnisse nicht wirklich wahr waren. Ich habe mir für die verkehrten Dinge die Schuld gegeben. Ich habe meine Versäumnisse erwähnt, aber nicht meine Sünden. Ich habe vorgegeben, jemand anderes zu sein, nicht die Person, die du geschaffen hast.

Ich bin zu gering, um dich zu erreichen, und du bist zu groß für mich, um dich zu begreifen. Deshalb will ich versuchen, still zu sein und in dieser Stille geduldig zu warten, bis du mich findest. Du bist so groß, du kannst dich zu mir herabbeugen, und deine Liebe kann die Distanz zwischen uns überbrücken, die mein Verstand nicht zurücklegen kann.
Vergib mir, verzeih mir, gib mir Versöhnung.

Unser Gott und Gott unserer Vorfahren, lass unsere Gebete dich erreichen. Sei nicht taub für unsere Bitte um Erbarmen. Denn wir sind nicht so hochmütig und nicht so stur, dass wir in deiner Gegenwart, unser Gott und Gott unserer Vorfahren, behaupten würden, wir seien gerecht und hätten nicht gesündigt. Vielmehr bekennen wir: Wir und unsere Vorfahren haben gesündigt.

Wir waren Arrogant, Boshaft und Charakterlos.
Wir haben Diebstahl begangen und uns Eingeschmeichelt. Wir haben Frevelhaft gehandelt und Getötet. Wir sind Hartnäckig gewesen und haben andere Irregeführt. Wir haben ohne Jede Vorsicht über andere geredet und waren Kaltherzig.
Wir haben Lügen erdichtet, Macht missbraucht und die Not anderer übersehen.
Wir haben gegen die Obhut Gottes rebelliert und uns von Prestige-Gedanken leiten lassen. Wir haben anderen Qualen zugefügt und Ratschläge erteilt, die schlecht waren.
Wir haben uns Schuldig gemacht und sind Treulos gewesen.
Wir waren Gott Ungehorsam und haben uns Verfehlt. Wir haben Gottes Weisung unbeachtet gelassen und X-beliebige eigene Wünsche in sie hineingelesen.
Unser Verhalten war Zerstörerisch.

תפילת נעילה ליום קיפור

Wir sind von deinen Geboten und von deinen guten Satzungen abgewichen. Doch es hat uns nichts genützt. Du aber hast gerecht gehandelt bei all dem, was über uns gekommen ist. Ja, du hast uns Treue erwiesen, wir aber taten Unrecht. (Nehemjah 9.33)

Gott, du bist uns so fern — was könnten wir in deiner Gegenwart sagen?
Gott, du bist uns so hoch überlegen wie der Himmel über uns – was könnten wir dir erzählen?
Doch dir ist alles Geheime und alles Offenkundige bekannt. Du verstehst die verborgenen Sehnsüchte des Herzens. Du lässt dich von Äußerlichkeiten nicht täuschen, und nichts ist vor dir verborgen. Du kennst die Rätsel der Welt! Du weißt um die gehüteten Geheimnisse aller Lebewesen. Du kennst das Innerste des Körpers. Du weißt um die Gefühle und Gedanken. Nichts ist vor dir versteckt, nichts deinem Blick verborgen.

Ewiger, unser Gott und Gott unserer Vorfahren,
gib uns Versöhnung für all unsere Verfehlungen.
Verzeih uns all unsere Verkehrungen.
Vergib uns all unsere eigensüchtigen Taten und Gedanken.

Du reichst denen, die sich gegen dich auflehnen, deine Hand.
Dein rechter Arm ist denen entgegengestreckt, die umkehren.
Ewiger, unser Gott, du hast uns gelehrt, alle unsere Verkehrungen in deiner Gegenwart zu bekennen, damit wir aufhören, Gewalt zu üben.
Deinen Worten gemäß wirst du unsere vollständige Umkehr annehmen, als hätten wir dir Feueropfer dargebracht oder Wohlgerüche aufsteigen lassen. Endlos wären die Feueropfer, die wir für unsere Schulden bringen müssten, und unzählig die Wohlgerüche, die für unsere Verschuldungen aufsteigen müssten.

Du aber kennst unser Ende: Es ist Wurm und Made.
Deshalb hast du die Mittel zur Vergebung vermehrt.

Was sind wir? Was ist unser Leben? Was ist unsere Liebe?
Was ist unsere Gerechtigkeit? Was sind unsere Erfolge? Was ist unsere Kraft? Was ist unsere Macht?
Ewiger, unser Gott und Gott unserer Vorfahren, was könnten wir in deiner Gegenwart sagen?

Ist nicht unsere Kraft wie nichts vor dir? Und sind nicht ruhmreiche Menschen so, als wären sie nie gewesen? Sind nicht Kluge vor dir wie solche ohne Wissen, und Intelligente wie solche ohne Einsicht?
Ja, die meisten unserer Werke sind vor dir wie Nichtigkeiten, und die Tage unseres Lebens sind wie nichts vor dir. Selbst „der Vorrang des Menschen vor den Tieren wird bedeutungslos“ (Koh. 3,19). Ja, alles ist wie nichts vor dir – außer einer reinen Seele. Denn diese wird eines Tages in ihrer Verantwortlichkeit ernst genommen werden vor dem Thron deiner Herrlichkeit.

In deinem großen Erbarmen tilge aus, wo ich mich gegen dich verfehlt habe, aber tilge es nicht durch Leid und schlimme Krankheiten…
… denn nicht hast Du Gefallen am Tod des Menschen, sondern, dass er umkehre – und lebe!

Du hast die Menschen von Anfang an von allen Geschöpfen unterschieden und sie dazu bestimmt, deine Gegenwart zu erkennen. Doch wer könnte dich über dein Tun zur Rechenschaft ziehen. Selbst die Gerechten, was könnten sie dir geben?
Du aber, Ewiger, unser Gott, hast uns in Liebe diesen Tag der (Ruhe und diesen Tag der) Versöhnung geschenkt. Er bedeutet das Ende all unserer Verkehrungen, ihre Verzeihung und Vergebung, damit wir aufhören, Gewalt zu üben und damit wir zu dir zurückkehren, um von ganzem Herzen deinen Willen zu tun.

Du wirst dich in deinem großen Erbarmen über uns erbarmen, denn du hast keinen Gefallen an der Zerstörung der Welt, wie gesagt ist: Sucht Gott, denn Gott ist zu finden! Betet zu Gott, denn Gott ist nahe!
(Jeschajahu 55,6)

Und es ist gesagt: Der Ungerechte verlasse seinen Weg, der Mensch, der Böses im Sinn hat, lasse ab von seinen Gedanken. Zu unserem Gott soll er zurückkehren, dann wird Gott sich seiner erbarmen, denn bei unserem Gott ist viel Vergebung.
(Jes.55,7)

Du bist ein Gott der Vergebung, gnädig und barmherzig, nachsichtig, von unendlicher Liebe und Treue und erfinderisch darin, Gutes zu tun. Dir gefallt es, wenn Ungerechte umkehren, du hast keinen Gefallen an ihrem Tod. Denn es ist gesagt: Sage zu ihnen: So wahr ich leben, Ausspruch Gottes, des Ewigen, habe ich Gefallen am Tod eines Ungerechten? Nein, sondern dass ein Ungerechter umkehrt von seinen Wegen und lebt. Kehrt um! Kehrt um von euren bösen Wegen. Warum wollt ihr sterben, Familie Israels?
(Jecheskel 33,11)

Und es ist gesagt: Ich habe keinen Gefallen am Tod eines Menschen, Ausspruch Gottes, des Ewigen. Kehrt um und lebt!
(Jech.18,32)

Ja, in dir ist Vergebung für Israel, in dir ist Verzeihung für Jeschurun in jeder Generation. Und außer dir haben wir niemanden, der über uns regiert, der uns verzeiht und vergibt.

Ewiger, mein Gott, und Gott meiner Vorfahren, ich bin ein Gefäß voller Schmach und Schande. Gott, du regierst in Gnade und Barmherzigkeit, lehre mich, meinen Trieb zu bezwingen; lehre mich, dir zu dienen, damit ich nicht sündige. In deinem großen Erbarmen tilge aus, wo ich mich gegen dich verfehlt habe, aber tilge es nicht durch Leid und schlimme Krankheiten.
(bJoma 87b)


Mein Gott, bewahre meine Zunge vor böser Rede und meine Lippen vor Lüge. Denen gegenüber, die mir Böses wollen, lass mich angemessen reagieren, und meine Seele möge gelassen bleiben, was auch geschieht.
Mache mich bereit für deine Weisung. Nach deinen Geboten will ich leben. Eilig aber zerbrich die Pläne derer, die Böses gegen mich ersinnen, und vernichte ihre Gedanken. „Die Worte meines Mundes und meine Gedanken mögen dir angenehm sein, Ewiger, mein Fels und mein Heil.“
(Ps 19,15) (bBer 7a)

Gott schafft Frieden in der Höhe.
Möge Gott uns und ganz Israel Frieden geben.
Darauf sprecht: Amen!


DIE TORE ZUR BARMHERZIGKEIT

Selichot für Neilah

Mögen die Gedanken unseres Herzens übereinstimmen mit den Worten unseres Mundes, zur Zeit, da die Tore zur Barmherzigkeit sich schließen.

Öffne uns das Tor zur Zeit, da die Tore sich schließen, denn der Tag hat sich geneigt.
Der Tag neigt sich, die Sonne geht unter. Lass uns durch deine Tore gehen.
Bitte, o Gott, vergib doch, verzeih doch, hab‘ Nachsicht, verschon‘ doch, erbarm‘ dich, sühn‘ doch, zertritt doch die Sünde und Schuld.

Wenn das Licht des Tages vergeht, beten wir um Licht. Wir denken an das Ehrliche und Gute, an die Lichter, die in unserer Geschichte geschienen haben. Wir denken an das Licht, das in jedem und jeder scheint und auch in uns. Wir erkennen dieses Licht, und wir kennen es: Es ist das Licht der Güte, es ist Gott.

Wenn das Licht des Tages vergeht, begegnen wir der Dunkelheit der Welt und der Dunkelheit, die auch in uns selbst ist. Viel Arbeit wartet jeden Augenblick auf uns und fordert uns heraus: Die Hungrigen brauchen unsere Nahrung, die Vernachlässigten brauchen unsere Liebe, die An-den-Rand-Gedrängten brauchen unser Verständnis. Wir brauchen dein Licht, damit wir sie nicht enttäuschen oder in der Dunkelheit zurücklassen.

Wenn das Licht des Tages vergeht, wenden wir uns der Dunkelheit zu, die in uns liegt: Den Wunden, die nie heilen werden, dem Wachstum von Bitterkeit und Neid, das die Zeit nicht verschwinden lässt, dem Hass, den wir gegen andere hegen, und die Abneigung, die wir uns selbst gegenüber empfinden.

 

Pesikta Rabbati 20:
Als Moscheh auf den Berg Sinai stieg…

Eine Parabel zum Abschluss des Jom Kipur

Als Mose auf den Berg Sinai stieg, um die Thora zu empfangen, erschien zu seinen Füßen eine Wolke. Sie öffnete sich, und er ging hinein, er ging, als liefe er auf festem Boden.

Dann traf er den Engel Kemuel, den Türhüter, der der Vorgesetzte über die Wächter am Eingang zum Himmel ist.
Er fuhr Mose scharf an: „Was tust du hier, Sohn Amrams, an diesem Ort, der den Engeln des Feuers gehört?“
Mose antwortete: „Ich komme mit der Erlaubnis des Höchsten – Gottes Heiligkeit sei gepriesen! -, um die Torah in Empfang zu nehmen und sie hinunter zu Israel zu bringen.“
Aber Kemuel ließ ihn nicht eintreten. Mose drängte ihn zur Seite und ging weiter.

Dann erschien der Engel Hadarniel, der 60 Myriaden Parasangen größer ist als die anderen Engel. Als er sprach, kamen Blitze aus seinem Mund. Und mit donnernder Stimme fuhr er Mose an: „Was tust du hier, Sohn Amrams?“
Mose erschrak und wäre von der Wolke gefallen, hätte Gott nicht Mitleid mit ihm gehabt. Gott sprach zu Hadarniel, und plötzlich wurde dieser Engel wie ein Diener des Mose und führte ihn zu dem nächsten Engel, Sandalfon, vor dem selbst er sich fürchtete.

Aber wieder griff Gott ein, und Mose wurde Schritt für Schritt an all den Engeln vorbeigeführt, die die Thora bewachten, bis er sie erreichte.

(nach Pesikta Rabbati 20)

 

Pesikta Rabbati 20:
Vor dem Gesetz steht ein Türhüter

Franz Kafka
… eine Parabel zum Abschluss des Jom Kipur

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne.

Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es ist möglich“, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere.

Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal mehr ich ertragen.“ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt.

Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schluss sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne.

Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: „Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.“
Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die andern Türhüter und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen.
Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange.
Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zu ungunsten des Mannes verändert. „Was willst du denn jetzt noch wissen?“ fragt der Türhüter, „du bist unersättlich.“ „Alle streben doch nach dem Gesetz,“ sagt der Mann, „wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“
Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“

 

Herr der Vergebungen:
Adon haSelichoth

Dieser Pijuth listet in alphabetischer Reihenfolge Eigenschaften Gottes auf. Sie basieren sämtlich auf biblischen Wendungen, die jedoch so abgeändert wurden, dass eine alphabetische Reihenfolge möglich war und sich alle Begriffe auf die Silbe -oth reimen.

Die biblischen Quellen (nach der Reihenfolge des hebräischen Textes) sind: Ps 103,8; 1. Chron 29,17; Hiob 11,6-8; Jes 45,19; Ps 111,36 Lev 26,42/Dtn 4,31; Jer 17,10; Ps 119,68; Ps 51,8; Mi 7,19; Jes 59,17; Ps 51,6; Ex 15,11; Ps 103,3; Ps 20,2; Ps 74,12; Jes 41,4; Ps 68,5; Prov 15,29; Hiob 36,4.

Die deutsche Übersetzung gibt die hebräischen Wendungen wieder, jedoch in einer anderen Reihenfolge, um die alphabetische Struktur des Textes auch im Deutschen erscheinen zu lassen. Um einen inklusiven Sprachstil zu bekommen, wurden die Partizipien bzw. Adjektive als direkte Anrede übersetzt.

Gott aller Vergebung,
du bringst Hilfe.
Du bist gut und erweist deinen Creaturen Gutes;
du sprichst, was gerecht ist.

Wir haben uns vor dir verfehlt. Sei barmherzig mit uns.

Du erhörst uns in Zeiten der Not.
Du bist fehlerlos.

Du gedenkst des Bundes mit den Vorfahren.
Du hörst Gebet.

Wir haben uns vor dir verfehlt. Sei barmherzig mit uns.

Du bist in Gerechtigkeit gekleidet.
Du kennst die Beweggründe unserer Taten.

Du wirst in Lobliedern gewürdigt.
Du hast Macht über die Natur.

Wir haben uns vor dir verfehlt. Sei barmherzig mit uns.

Nicht erforschbar ist dein Wissen.
Du offenbarst die Tiefen.

Du prüfst die Herzen.
Du rufst die Generationen.

Wir haben uns vor dir verfehlt. Sei barmherzig mit uns.

Du siehst die Zukunft.
Du bist geschmückt mit deinen großen Taten
und mit deinen Wundern.
Du vergibst Verkehrung.

Du weißt alles Verborgene.
Du zertrittst die Schuld.

Wir haben uns vor dir verfehlt. Sei barmherzig mit uns.

Alternative Übersetzung (wörtlich, ohne alphabetische Berücksichtigung)

Adon haSelichoth
Bochen Lewawoth
Goleh ‚Amukoth
Dower Zedakoth
Chatanu lefanekha
Rahem ‚alenu…

Herr der Vergebung
Prüfer der Herzen
Tiefgründig Erforschender
Verkünder wohltuender Gerechtigkeit
Wir haben vor Dir gesündigt
Hab‘ Mitleid mit uns…

 

Bei Dir ist die Versöhnung und Dein Spruch: „Ich habe vergeben!“

Bei Dir ist das Erbarmen, und das ist Deine Größe,
daß Du bist mild und gnadenvoll!

Schau auf uns in unserer Zerknirschtheit,
auf uns in unserer Erniedrigung.
Ein Gefäß voll Schmach und Schande.
Oh Ewiger, G’tt, beschäme uns nicht!

Du willst doch, dass wir leben,
lass uns nicht sterben in unserer Schlechtigkeit.
Lass uns leben,
lösche uns nicht aus im Zorn.

Hör‘ doch auf mein Gebet,
als käme es aus einem reinen Herzen.
Schreib mich zum Leben und zum Glück,
errette mich und alle die mit mir.

Leg‘ Dein Siegel an in Erbarmen.
Reich mir Deine Hand, vergib mir alle meine Schand‘,
vergib was Schlechtes ist an meinem Thun,
und lass mich in Gewissheit ruhn,
dass du zum Guten mich ansiehst
und mir vergibst, und mir vergibst.

Aus dem Schlußgebet, nach der g’ttesdienstlichen Ordnung im israelitischen Bethause zu Wien, 1908

Wer hat Angst vor G’tt?
G’tt könnte uns in die Wüste führen

Rabbi Lionel Blue

Vielleicht kann G’tt nicht G’tt selbst sein, weil wir G’tt gegenüber nicht wir selbst sind, nicht unser wahres Selbst. Vielleicht haben wir nicht so zu G’tt gebetet, wie wir wirklich sind, sondern so, wie wir meinten, dass wir sein sollten, oder so, wie es andere von uns verlangen, oder so, wie wir dachten, dass G’tt es von uns erwarten würde. Dieses letzte ist am schwierigsten zu entdecken, denn es birgt eine Verwechslung oder eine G’tteslästerung.

Vielleicht begegnet G’tt uns, aber wir erkennen G’tt nicht. G’tt kann zu uns in einer zufälligen Bemerkung sprechen, die wir überhören, durch einen nebensächlichen Gedanken in unserem Bewusstsein, durch ein Wort des Gebetbuchs, das in uns nachklingt. Vielleicht ist ein Nebeneingang der einzige Weg, den wir G’tt offengelassen haben. Die anderen haben wir gut verteidigt oder verrammelt, so dass G’tt sich in uns hineinstehlen muss wie ein Dieb in der Nacht.

Vielleicht gefällt es uns nicht, was G’tt sagt, aber wir fürchten uns, uns dies einzugestehen. Lieber tun wir so, als wären wir G’tt niemals begegnet, und wir können G’tt in der Tat nicht begegnen, weil G’tt ja nur eine Idee ist. G’tt aus dem Weg zu gehen ist eine natürliche Reaktion, denn in G’ttes Augen kann unser Erfolg ein Scheitern sein und unsere ehrgeizigen Ziele nur Staub.

Vielleicht sind wir zufrieden mit unserem Leben und haben gar kein Interesse daran, G’tt zu begegnen. So singen wir unsere Gebete und unsere Hymnen, um die wenigen Augenblicke der Stille zu verhindern, denn G’tt könnte in der Stille reden.

Vielleicht haben wir es nicht zugelassen, dass G’tt über uns urteilt, weil wir unser Urteil über G’tt bereits gefällt haben und dem Wort G’ttes zuvorgekommen sind. G’tt könnte uns mehr lieben, als wir ahnen; G’tt könnte uns besser kennen, als wir uns selbst kennen. G’tt könnte uns immer noch überraschen.

Vielleicht haben wir Angst vor dem, wohin G’tt uns fuhren könnte. G’tt könnte uns aus unser Heimat herausführen. G’tt könnte uns in die Wüste führen. G’tt könnte uns 40 Jahre lang darin wandern lassen und von uns verlangen, dass wir unsere Sicherheit in etwas finden, das für uns nicht greifbar ist. Wird G’tt uns den Mut geben, der so groß ist wie unsere Bedürfnisse, wenn wir beten?

G’tt zu begegnen kann recht einfach sein, aber nichts wird geschehen, wenn wir es nicht wollen. Wenn wir G’tt suchen, kann G’tt gefunden werden. G’tt wird es zulassen, dass wir G’tt finden, wenn wir G’tt mit all unserer Kraft suchen.

Rabbi Lionel Blue is well known as a writer and broadcaster, Rabbi Lionel Blue read history at Oxford and Semitics at London University before being ordained as a Rabbi in 1960, Between 1960 and 1963 he was at Settlement Synagogue and Middlesex New Synagogue until he became the european director of the World Union for Progressive Judaism. In 1967 he took up his present position as lecturer at Leo Baeck college London. In 1989 he scripted and presented the television series „In Search of Holy England“. His many books include Bright Blue, Kitchen Blues, Bolts from the Blue, Blue Heaven, Blue Horizon and the Little Blue Book of Prayer (1993), He enjoys cooking, visiting monastries, package holidays and window shopping.