H. Simon und M. Simon
Aus: Geschichte der jüdischen Philosophie
Mit Maimonides gelangt die arabischsprachige Philosophie bei den Juden zu einem Höhepunkt. Zugleich jedoch schließt sie mit ihm ab. Das ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass nach Maimonides kein Jude mehr in arabischer Sprache über philosophische Probleme geschrieben hätte. Es lassen sich noch einige Autoren und ihre Werke nennen, aber diese Gelehrten haben die Philosophie nicht über den von Maimonides erreichten Stand hinaus weiterentwickelt.
Obschon die Juden innerhalb der Gesellschaft; in der sie lebten, eine eigene Gemeinschaft konstituierten, waren sie doch weitgehend mit der allgemeinen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklung der vom Islam beherrschten Zivilisation verbunden. Auch diejenige Philosophie, die sich im Rahmen des Islams und in geistiger Auseinandersetzung mit ihm entfaltet hatte, erreichte zu dieser Zeit in Averroes ihren Gipfel und kam damit zugleich zu ihrem Ende. Die Stagnation in ökonomischer Hinsicht und damit gleichfalls in politischer und kultureller Beziehung führte dazu, dass auch die Philosophie zu keiner weiteren Entwicklung mehr fähig war. Die arabischsprachige Welt büßte ihre kulturelle Überlegenheit ein und wurde von der Entwicklung im christlichen Europa überflügelt.
Von den Juden, die innerhalb einer islamischen Umwelt nach Maimonides über philosophische Probleme in arabischer Sprache schrieben, sei zunächst Josef ben Jehuda ibn Schaurun genannt, der aus Marokko stammte. Er ist der jenige Schüler, an den Maimonides seinen »Führer« adressierte. Josef ibn Schaurun war, nachdem er eine Zeitlang die Unterweisung des Maimonides in Ägypten genossen hatte, nach Syrien gegangen, wo er als Arzt tätig war und 1226 in Aleppo starb. Er verfasste auf philosophischem Gebiet eine kleine metaphysische Schrift, die als Abhandlung über das notwendig Existierende und die Art des Hervorgehens der Dinge aus ihm und über die Weltschöpfung« in hebräischer Übersetzung vorhanden ist. In der Literatur wird meist Josef ben Jehuda ibn Aqnin als Name des Maimonidesschülers genannt, jedoch ist das ein Irrtum. D. H. Baneth konnte 1964 nachweisen, dass es zur gleichen Zeit zwei verschiedene Gelehrte namens Josef ben Jehuda gegeben hat: den Maimonidesschüler Ibn Schaurun und Josef ibn Aqnin (1150-1220) aus Spanien, der in Nordafrika lebte und über talmudische und philosophische Fragen schrieb.
Ohne den arabischen und jüdischen Aristotelismus zu berücksichtigen und in anscheinend bewusstem Rückgriff auf neoplatonische Traditionen bot im 14. Jahrhundert Jehuda ben Nissim ibn Malka in Marokko ein System, das den beherrschenden Einfluss der Gestirne auf den Weltlauf, die absolute Unerkennbarkeit G’ttes und die Überlegenheit der rationalen Spekulation über die Lehren der Offenbarungsreligion betonte (verfasst 1365). Doch wesentliche Impulse sind von diesen Denkern nicht ausgegangen.
Es geht uns nicht darum, diese Ausläufer der jüdischen Philosophie in arabischer Sprache dadurch, dass wir nur kurz auf sie hinweisen, als uninteressant abzutun. Sie haben ihre Bedeutung unter kulturgeschichtlichem, soziologischem und literarhistorischem Aspekt, jedoch wird die Philosophiegeschichte, sofern man sie als Prozess fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnis versteht, durch sie nicht bereichert. Auch für die weitere Entwicklung des Judentums, für seine Interpretation und die Bestimmung seines Verhältnisses zur Bildung der Zeit und zu den gesicherten Ergebnissen der Wissenschaft waren sie nicht von Belang.
Die Auseinandersetzung um den Wert und die Bedeutung der philosophischen Lehren, um die Herausforderung, die die Beweise der Wissenschaft für die religiösen Ansichten darstellten, um die Berechtigung und die Möglichkeit, das wissenschaftliche Weltbild zu akzeptieren; ohne dadurch das Judentum in seinem Kern aufgeben zu müssen, vollzog sich in Hinkunft im abendländischen Bereich: im christlichen Spanien und vor allem in der Provence. Hierbei kam Maimonides die Rolle einer Symbolfigur zu; die jüdischen intellektuellen Kreise spalteten sich in Maimonisten und Antimaimonisten, in solche, die die Beschäftigung mit aristotelischer Philosophie und deren Ausgleich mit der Religion als legitim und notwendig akzeptierten, und diejenigen, die die Philosophie als der Religion feindlich erachteten und sie daher prinzipiell ablehnten. Dieser Kampf wurde mit einer ausserordentlichen Heftigkeit geführt und erschütterte die jüdischen Gemeinden während des 13. Jahrhunderts in starkem Masse. Gegenseitig sprachen Vertreter der beiden Richtungen übereinander den Bann aus, und die allen Veränderungen abholden Vertreter der althergebrachten Tradition gingen sogar so weit, die Inquisition zu Hilfe zu rufen und die angeblich ketzerischen Schriften des Maimonides verbrennen zu lassen. Die Kirche von der Gefährlichkeit der Maimonidischen Lehren zu überzeugen war nicht allzu schwierig, da Maimonides im Lichte der aristotelischen Philosophie biblische Formulierungen interpretiert hatte, die für das Christentum gleichfalls verbindlich waren. Während für Juden und Christen eine gemeinsame Textgrundlage der Offenbarung besteht, mussten die im Rahmen des Islams tätigen Philosophen auf die Lehren des Korans, nicht auf die der Bibel Rücksicht nehmen.
Die gesamte jüdische Philosophie der Epoche nach Maimonides knüpft an diesen an, wobei sie in ihrem Aristotelesverständnis über ihn hinausgeht, da sie die Interpretationen, die Averroes den aristotelischen Lehren gegeben hatte, zugrunde legen konnte: Dazu fühlte sie sich um so mehr berechtigt, als Maimonides die Kommentare des Averroes empfohlen hatte, obwohl er selbst sie für sein Werk nicht benutzt hat. So nimmt es nicht wunder, dass die Aristoteleskommentare des Averroes uns in hebräischen Versionen vor liegen, aus denen später die lateinischen Übersetzungen geflossen sind. Im arabischen Original ist von den Werken des Averroes weit weniger erhalten geblieben, so dass er für die Nachwelt mehr ein hebräischer und lateinischer Autor als ein arabischer ist. Die Sprache der jüdischen Philosophie in der Zeit nach Maimonides ist hebräisch, nicht mehr arabisch. Damit ist die jüdische Philosophie, die sich im christlichen Bereich entwickelte, in stärkerem Masse von ihrer nichtjüdischen Umwelt isoliert, als das in einer arabischsprachigen Umgebung der Fall gewesen war, wo gesprochene Sprache und Wissenschaftssprache übereinstimmten. In den christlichen Ländern hingegen unterschied sich die Sprache der Wissenschaft von der des täglichen Lebens. Während diese Christen und Juden gemeinsam war, bedien ten sich die Christen in der Wissenschaft des Lateinischen, während die Juden hebräisch schrieben und die Bildungssprache Europas, das Lateinische, selten beherrschten.
Insgesamt ist das 13. Jahrhundert keine sonderlich schöpferische Zeit in der Entwicklung der jüdischen Philosophie, so dass wir uns relativ kurz fassen können. Zu nennen ist Schemtov ibn Falaqera (etwa 1225-nach 1290), der in Spanien lebte; des Arabischen kundig war und eine profunde Kenntnis der philosophischen Literatur besass. Besonders bekannt geworden ist er durch seinen hebräischen Auszug aus des Gabirol »Lebensquelle« und durch einen Kommentar zum »Führer« des Maimonides. Schemtov ist völlig davon überzeugt, dass Philosophie und Religion dasselbe lehren, und betont die Notwendigkeit der Philosophie für den Glauben. Dabei interessieren ihn Unterschiede zwischen verschiedenen philosophischen Lehrmeinungen nicht sonderlich; im Prinzip vertreten nach seiner Meinung alle Philosophen dieselbe Wahrheit: Während er in einem Buch über die Seele sich an Avicenna anschliesst, ohne des Averroes Lehre von der Einheit des Intellekts auch nur zu er wähnen, folgt er in anderen Werken den Ansichten des Averroes. Dessen Thesen hat er auch in seinem Kommentar zum »Führer« des Maimonides berücksichtigt und sie, ohne dazu selbst Stellung zu nehmen, mit den Lehren des Maimonides konfrontiert.
Ungefähr gleichzeitig mit Schemtov ibn Falaqera lebte in Italien Hillel ben Samuel aus Verona (etwa 1220 – etwa 1295), ein Vertreter der Philosophie des Maimonides, der allerdings nicht bereit war, auf dem Wege des Rationalismus weiter voranzuschreiten, und infolgedessen die Weiterentwicklung und schärfere Fassung des Aristotelismus durch Averroes ablehnte. Folgerichtigkeit des Denkens war ihm weniger entscheidend als die Aufrechterhaltung der biblischen und talmudischen Wunderberichte in ihrem wörtlichen Sinne; allegorische Deutungen lehnte er ab. Nicht als philosophischer Kopf ist Hillel für den Gang der Philosophiegeschichte von Bedeutung, sondern er verdient Erwähnung, weil er zu den ersten jüdischen Gelehrten gehörte, die Kenntnisse des Lateinischen besassen und aus dem Latein ins Hebräische übersetzten. Von ihm stammt eine hebräische Fassung der lateinischen Version des neoplatonischen »Liber de causis«, eines ursprünglich arabischen Auszuges aus des Proklos Institutio theologica; Hillel, der als Arzt tätig war, übersetzte auch lateinische Texte medizinischen Inhalts. In einer philosophischen Schrift, deren Titel in nicht sehr glücklicher deut scher Übersetzung »Vergeltung der Seele« lautet, setzt sich Hillel mit dem Problem der Unsterblichkeit auseinander, mit dem Wesen der Seele und dem, was ihr nach dem Tode zuteil werde. Für Maimonides hatte das postmortale Leben nicht im Zentrum des Interesses gestanden, und das Problem war im Rahmen seiner philosophischen Lehren nicht systematisch behandelt worden; in der Folgezeit hatte sich allerdings die averroistische Interpretation der bei Aristoteles nicht eindeutigen Seelenlehre auch bei den Juden verbreitet. In dieser Fassung wird die von Maimonides nicht ausdrücklich bestrittene individuelle Unsterblichkeit abgelehnt. Nach Averroes ist die vernünftige Seele des Menschen – und nur um diesen Seelenteil geht es in der Frage des individuellen Überdauerns des spezifisch Menschlichen nichts Individuelles, sondern in allen Menschen manifestiere sich derselbeGeist, der die Fähigkeit habe, die separaten Formen zu begreifen und sich mit dem aktiven Intellekt, dem er wesensmässig zugehöre, zu vereinen. Das Glück des Menschen, das in intellektueller Erkenntnis bestehe, beruhe daher auf einer in jedem Menschen angelegten Potenz; die zu verwirklichen seine Aufgabe sei und im Prinzip schon zu seinen Lebzeiten realisiert werden könne. Die Vereinigung des erworbenen menschlichen Intellekts mit dem Geistigen schlechthin, dem aktiven Intellekt, hebt die Individualität der Einzelseele in einer für den Rationalisten Averroes bemerkenswerten mystischen Weise auf; dabei schliesst sie gleichzeitig individuelle Unsterblichkeit und damit die Vorstellung von Lohn und Strafe im Jenseits aus: Stärker noch als für die jüdischen Auffassungen, die ins gesamt der irdischen Welt mehr Gewicht beilegen als der jenseitigen Ewigkeit, galten im christlichen Denken solche Vorstellungen als ketzerisch, zumal da sie den Menschen von Furcht befreiten und das Selbstbewusstsein des Individuums ebenso zu steigern wie die erlösende Funktion der Kirche und die Herrschaft des Klerus zu erschüttern geeignet waren. Hillel sucht nun die Ansichten des Averroes von der Einheit des Intellekts zu widerlegen und beruft sich dabei auf dessen christliche Gegner, ohne allerdings deutlich zu machen, dass seine Argumente von Thomas von Aquino stammen. Er ist der erste jüdische Denker, der – obgleich Anhänger einer aristotelischen Philosophie – über Maimonides hinausführende Konsequenzen ablehnt und die Ansichten des Averroes kritisiert; er ist auch der erste, der nachweislich direkt an die europäische Scholastik anknüpft und ihre Argumente verwendet.
Einen philosophischen Aristotelismus averroistischer Prägung vertritt gegen Ende des 13. Jahrhunderts Isaak Albalag, über dessen Lebensumstände nichts überliefert ist. Allgemein nimmt man Katalonien als seinen Wohnsitz an. Von ihm ist eine kommentierte hebräische Übersetzung von Alghazalis »Ziele der Philosophen« erhalten, einer Darstellung des arabischen Aristotelismus, vor allem der Lehren Avicennas. Das Werk, das von Alghazali zum Zwecke derWiderlegung der Ansichten der Philosophen abgefasst worden war, dient Albalag als Material zur philosophischen Kritik, die sich nicht nur gegen Alghazali richtet, sondern auch gegen Maimonides und den nach Ansicht des Autors inkonsequenten Aristotelismus von Alfarabi und Avicenna.
Albalag erläutert seine eigenen philosophischen Ansichten, die im wesentlichen durch die Autorität des Averroes bestimmt sind, in Form von zum Teil ausgedehnten Exkursen, so dass das Buch nach der Meinung des Verfassers nicht eine blosse Übersetzung, sondern ein selbständiges Werk darstellt. Das Schwergewicht legt Albalag auf Fragen der Metaphysik und der Kosmologie. Seine Ansichten sind naturgemäss durch die Kommentarform, die ihn an einen vor gegebenen Text bindet, wenig systematisch dargestellt.
Gestützt auf Averroes ist Albalag ein strikter Verfechter der These von der Ewigkeit der Welt und interpretiert den biblischen Schöpfungsbericht in diesem Sinne. Die Ewigkeit G’ttes als des bewegenden Prinzips bedingt eine ewige Wirkung, so dass Schöpfer und Geschöpf beide gleichermaßen ewig und die beiden Begriffe korrelat sind. dass der Bibel text keineswegs die Zeitlichkeit der Schöpfung eindeutig behauptet, hatte auch Maimonides anerkannt. Die deutsche Übersetzung »Im Anfang« ist nur eine Interpretation der auch in anderer Weise verstehbaren hebräischen Formulierung. Den Beweis dafür, dass die für ihn zeitlose Schöpfung nicht aus dem Nichts erfolgt ist, findet Albalag im zweiten Satz des Bibeltextes, in den Worten »die Erde war Tohuwabohu«; dass das hebräische Verbum eine Form der Vergangenheit ist, beweist ihm, dass die Welt des Entstehens und Vergehens immer so war, wie sie jetzt ist, und sich nicht ändert. Die Tätigkeit G’ttes geht dem Vorhandensein der konstitutiven Elemente der Erde, Materie und Form, die Albalag im Anschluss an Abraham bar Chija mit Tohu bzw. Bohu identifiziert, nicht zeitlich voraus. Der Autor spricht nicht von Weltewigkeit, sondern von ewiger Schöpfung, doch ist das nur eine Anpassung an die traditionellen Sprachüblichkeiten.
Die ewige Welt ist durch Notwendigkeit bestimmt. Daher kann Albalag mit dem religiösen Glauben an Wunder, durch die die Naturkausalität durchbrochen wäre, wenig anfangen. Infolgedessen unterscheidet er zwischen Vernunftwahrheiten und Offenbarungswahrheiten und vertritt als erster im Rahmen der jüdischen Philosophie die Theorie einer doppelten Wahrheit, die eine der bekanntesten Thesen der christlichen Anhänger der averroistischen Philosophie war. dass Albalag die Ansichten der lateinischen Averroisten kannte, ist nicht unwahrscheinlich, da er, wie er selbst berichtet, Kontakte zu Klerikern besaß. Trotzdem lässt es sich nicht erweisen, dass er mit seiner Trennung von Vernunft und Offenbarungswahrheiten von der Scholastik abhängig ist, da er im Gegensatz zu ihr von den arabischen Originaltexten des Averroes ausgehen konnte. Zwar findet sich bei Averroes die Vorstellung von einer doppelten Wahrheit nicht; sondern für ihn gibt es nur eine Wahrheit, die der Philosophie, aber so, wie Albalag seine Ansichten formuliert, kann man sie auch ohne Rückgriff auf die lateinische Tradition aus der Position des Averroes herleiten. Albalag macht es deutlich, dass allein die Vernunftwahrheiten für den Menschen von Bedeutung sind; nur der philosophischen Wahrheit verdankt der Mensch seine intellektuelle Vollkommenheit, während die Offenbarungswahrheiten nur den Propheten, die es indessen seit langem nicht mehr gibt, zugänglich waren; nach dem Erlöschen der Prophetie können sie nicht begriffen werden. Im Gegensatz zu Maimonides, dem Albalag vorwirft, im religiösen Interesse die philosophische Wahrheit umgebogen zu haben, versucht er nicht, Glauben und Wissen miteinander zu versöhnen. Er bestreitet den Wert des Glaubens für die Moral in keiner Weise, aber zur Erkenntnis tragen die Offenbarungswahrheiten nicht bei. Was Allialag im Gegensatz zu den christlichen Averroisten möglich ist und wovon er Gebrauch macht, ist die Auslegung des Bibeltextes mit Hilfe der Vernunft. Die Interpretation heiliger Texte ist im Judentum wie im Islam nicht durch verbindliche Dogmen einer religiösen Obrigkeit gehindert. Und so enthalten die Offenbarungsschriften einen inneren Sinn, der sich dem Gelehrten durch die wissenschaftliche Forschung erschließt, während er der Masse der Menschen verborgen bleibt. Die Scheidung zweier Wahrheiten voneinander, die Albalag vornimmt, ist im Grunde für ihn nur ein Mittel, das es ihm gestattet, die philosophische Wahrheit vertreten zu können, weil religiöse Gegengründe nicht beweiskräftig sind. Dadurch, dass sie zwar als wahr anerkannt, aber als Wahrheit eigener Art abgestempelt werden, die dem Menschen uneinleuchtend bleiben muss, verlieren sie im Hinblick auf die Erkenntnis, die das Ziel des Weisen darstellt, ihren Einfluss, so dass Alba lag womöglich deutlicher als die lateinischen Averroisten nur eine Wahrheit anerkennt, mit deren Hilfe auch die Offenbarung einsichtig wird, soweit der Mensch sie überhaupt begreifen kann. Das deutliche Übergewicht, das für Albalag im Anschluss an Averroes und die aristotelische Tradition die dianoetischen Tugenden besitzen, macht die philosophische, rationale Wahrheit zur Bedingung und Grundlage des Glücks, dessen der Gelehrte – und nur er teilhaftig wird. Der Ratio entgegenstehende, ihr nicht ein leuchtende und von ihr nicht beweisbare Ansichten werden als traditionelle Werte, die für den Bestand der Gesellschaft nützlich sind, zwar anerkannt, können aber die Erkenntnis nicht hemmen, zu deren Fortschreiten allerdings Albalag selbst nicht wesentlich beigetragen hat.
Jüdische Philosophie dient seit ihren Anfängen dazu, auf immer neue und zeitgerechte Weise den Widerspruch zwischen Beharren und Fortschreiten aufzuheben, das bedeutet zwischen der Wahrung der eigenen Identität durch das Fest halten am Gesetz, das das eigene Territorium ersetzt, und dem Progress der wissenschaftlichen Erkenntnis. dass notwendig heterogene Komponenten verbunden werden, führt zu steter Spannung; die Eigenständigkeit und Besonderheit jüdischer Philosophie liegt in ihrer Einheit der Gegensätze.
Unter diesem Gesichtswinkel ist das System des Maimonides trotz aller Einwände, die mit Recht und mit Unrecht gegen sein Werk erhoben wurden, ein überragendes Ereignis und eine denkerische Leistung höchsten Ranges. Maimonides hat in gewisser Weise auch den Weg gewiesen, wie sich jüdische Philosophie, die sowohl als Philosophie als auch als spezifisch jüdisch zu bezeichnen ist, in der Folgezeit zu entwickeln habe, nämlich in der Verbindung der jüdischen Tradition mit dem fortgeschrittensten Stand der Wissenschaft. Wo und wofern eine solche Verbindung von Vernunft und Offenbarung auf Grund des jeweils gültigen wissenschaftlichen Weltbildes als nicht mehr möglich erscheint oder eine Synthese gar nicht erst angestrebt wird, kann von jüdischer Philosophie im Sinne eines umfassenden Weltbildes nicht mehr gesprochen werden.
Nun hatte aber Maimonides seine Synthese auf einer Basis vollzogen, die schon zu seinen Lebzeiten, mehr noch in der Folgezeit nicht mehr tragfähig war, weil die Lehren des Averroes manchen der Lösungen des Maimonides die philosophischen Grundlagen entzogen. Diejenigen Philosophen der Folgezeit, denen sich die Wissenschaft in der Form der averroistischen Interpretation des Aristotelismus darstellte, stehen darum vor dem Problem, dass das Gebäude, das Maimonides errichtet hatte und das durch das Gleichgewicht der in ihm zur Einheit gezwungenen Elemente aufrecht erhalten wurde, ins Wanken geriet.
Hillel von Verona und Isaak Albalag sind zwei Beispiele für diese Krise, deren Eintreten immer unvermeidlich ist; wenn ein großes System einen End- und Höhepunkt gesetzt hat, dann aber seine Lösungen durch die trotzdem nicht beendete Dynamik der Geschichte überholt werden. Bei Hillel neigt sich das Gebäude nach der religiösen Seite, insofern als er sich weigert, über Maimonides hinauszugehen, und darum die Lösungen des Averroes teilweise zu bestreiten versucht. Seine Absieht, die individuelle Unsterblichkeit der Seele aufrechtzuerhalten, entspringt dem religiösen Interesse, das gegenüber der philosophischen Forschung Vorrang hat. Gegen eine solche Deutung liesse sich einwenden, dass die Seelenlehre des Averroes durchaus ebenso wenig empirisch beweisbar ist wie die älteren mehr dem Neoplatonismus entsprechenden Vorstellungen Avicennas, doch die Richtigkeit einer philosophischen These wird von den Denkern dieser Epoche nicht an der Realität gemessen, sondern an der korrekten Interpretation der Lehrmeinungen des Aristoteles.
Bei Albalag dagegen schlägt das Pendel nach der anderen Seite aus. Die religiöse Tradition wird aus der wissenschaftlichen Forschung im Prinzip ausgeschieden, indem alles, was mit dem neuesten Stand der Philosophie nicht in Übereinstimmung zu bringen ist, als intellektuell nicht einsichtig erklärt wird. Damit wird eine Trennung von Glauben und Wissen vollzogen, die die Religion auf ihren ethischen Wert einschränkt. dass Albalag trotzdem ein jüdischer Philosoph bleibt, liegt weniger in seinen philosophischen Ansichten begründet als vielmehr in der Tatsache, dass er nichts anderes als Jude sein will und kann, dass er für Juden schreibt, dass er die Lehren der Bibel als Material philosophischer Erklärungen benutzt. Subjektiv ist er ein orthodoxer Jude, wie auch Averroes ein orthodoxer Muslim ist, aber objektiv heben beide den Anspruch der Religion, nicht nur Gesetz, sondern auch Lehre und verbindliche Weltsicht zu sein, auf. Derartige Positionen führen in der Konsequenz zur Aufhebung der Religion, bzw. es wird zur freien Willensentscheidung des einzelnen; sie zu erhalten, sofern nicht der Stand der gesellschaftlichen Entwicklung dem Individuum die praktische Ausübung religiösen Kults zur Pflicht macht.
Auch in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist in philosophiegeschichtlicher Hinsicht die Entwicklung bei den Juden dadurch gekennzeichnet, dass an den Aristotelismus des Maimonides angeknüpft wurde. Die Kommentierung des »Führers der Unschlüssigen« spielte eine hervorragende Rolle in der geistigen Arbeit derer, die auf der Höhe der Wissenschaft ihrer Zeit stehen und die jüdische Tradition im Lichte der Vernunft sehen wollten. Wissenschaft war ihnen identisch mit den Lehren des Aristoteles, und Maimonides hatte den Weg gewiesen, wie eine Synthese von aristotelischem Wissen und jüdischer Religion vollziehbar war. So stellt sich die philosophische Tätigkeit als eine Präzisierung des Aristotelismus des Maimonides auf der Basis der Lehrmeinungen des Averroes dar, dessen Aristotelesinterpretation den neuesten Stand des philosophischen Weltbildesrepräsentierte. Auf diese Weise wurde auf den Fundamen ten, die Maimonides gelegt hatte, weitergebaut, ohne zu grundsätzlich neuen Positionen zu kommen.
Der Schwerpunkt jüdischen Philosophierens lag im Süden Frankreichs, und hier sind vor allem drei Namen zu nennen: Zunächst Josef Kaspi, dann Lewi ben Gerson und schliesslich Moses von Narbonne (Moses Narboni). Der bedeutendste dieser Denker ist ohne Zweifel Lewi ben Gerson (Gersonides), der den Aristotelismus averroistischer Prägung selbständig und kritisch fortführte und mit äusserstem Scharfsinn auf hohem wissenschaftlichen Niveau eine strikt rationalistische Welterklärung bot, der er die jüdische Lehre anpasste.
Bevor wir uns den philosophischen Lehren des Gersonides zuwenden, soll kurz von Josef Kaspi und Moses von Narbonne die Rede sein. Josef Kaspi (ca. 1279-ca. 1340) stammte aus Largentiere in Südfrankreich. Sein Name (ab geleitet vom hebräischen Wort kesef = Silber) weist auf seine Herkunft hin (franz. argent = Silber). Kaspi war ein vielseitiger Gelehrter, der sich mit hebräischer Philologie, Bibelexegese und Philosophie beschäftigte. Er hat zahlreiche Werke geschrieben, von denen ein Teil ediert ist. Die Auswertung der Texte ist vor allem unter philosophischem Aspekt bisher unzureichend. Besondere Beachtung verdienen zwei von ihm verfasste Kommentare zum Führer« des Maimonides. Kaspis philosophisches Anliegen ist der Nach weis, dass die Lehren des Aristoteles vollständig mit denen der jüdischen Religion übereinstimmen. Mit Hilfe der Logik und der Methoden der Philosophie will er die Bibel verstehen, d. h., er will dort, wo zwischen Vernunft und Offenbarung Divergenzen zu bestehen scheinen, den verborgenen Sinn des Bibeltextes deutlich machen, der mit den Lehren des Aristoteles übereinstimme. Kaspi ist davon überzeugt, dass diese seine Meinung völlig mit der des Maimonides identisch sei. Wo Maimonides dem Aristoteles zu widersprechen scheine, gelte es, die eigentlichen Ansichten des Maimonides, die dieser nicht so deutlich formuliert habe, ans Licht zu bringen. Die averroistische Interpretation der Aristotelischen Lehren ist für Kaspi die genuine Meinung des Aristoteles, und dieser Philosophie entsprechen auch die richtig verstandenen Ansichten des Maimonides. Kaspi ist davon überzeugt, dass Maimonides die Ewigkeit der Welt annehme; er unterlegt ihm also seinen eigenen Standpunkt, um dann eine Identität der Lehrmeinungen zu konstatieren.
Auch Moses ben Josua von Narbonne (gest. 1362) ist vor allem als rationalistischer Kommentator philosophischen Schrifttums von Bedeutung. Vornehmlich der Kommentierung des Averroes hat er sich gewidmet. Sein Kommentar zum »Führer« des Maimonides, den Moses kurz vor seinem Tode abschloss, liegt gedruckt vor, während die meisten seiner Werke bisher nicht ediert worden sind. Von wesentlichem Interesse ist der ausführliche Kommentar des Moses von Narbonne zu Ibn Tufails philosophischem Roman Der Lebende, der Sohn des Wachen« (philosophus autodidac tus), dessen hebräische Übersetzung in allen bekannten Manuskripten den Kommentar des Moses enthält. Ibn Tufails Werk, in dem die Entwicklung eines von der Gesellschaft isolierten Individuums geschildert wird, das auf empirischem Wege zur Erkenntnis gelangt, und in dem der Autor die Fähigkeit des Menschen betont, auf Grund des eigenen Denkens diejenigen Wahrheiten klar zu erfassen, die die Religion nur in verhüllter Form zum Ausdruck bringt, ist ausser von Narboni nicht kommentiert worden. Moses von Narbonne hat die hebräische Übersetzung des Textes; deren Verfasser nicht bekannt ist, untergliedert und zu den einzelnen Abschnitten seine Erläuterungen gegeben, die den fort laufenden Text unterbrechen. Innerhalb seines Kommentars bietet der Autor auch eine relativ ausführliche Inhaltsangabe des Hauptwerkes von Ibn Badja (Avempace), »Leitung des Einsamen«; die Informationen, die Moses gibt, haben bis in unser Jahrhundert für die Philosophiegeschichtsschreibung die Grundlage für die Darstellung und Beurteilung der Lehren des arabischen Philosophen gebildet. Erst vor wenigen Jahrzehnten ist das arabische Original gefunden und ediert worden; das Resümee des Moses von Narbonne ist, wie sich jetzt herausstellte, durchaus zuverlässig. Die philosophische Bedeutung gerade dieses Kommentars des Moses von Narbonne zu Ibn Tufail wird allgemein in der philosophiegeschichtlichen Literatur betont, die Edition des recht um fangreichen Textes ist darum ein dringendes Desiderat. Eine Darstellung der philosophischen Ansichten des Moses im einzelnen und eine Beurteilung ihrer Bedeutsamkeit ist auf der Basis der bisher edierten Texte nicht möglich.
Quelle: Heinrich Simon, Marie Simon: Geschichte der jüdischen Philosophie, Reclam Verlag Leipzig (1999), 322 Seiten.