Von allen Gebeten an Yom Kippur (Versöhnungstag) hat das „Kol Nidrej“ –das Auftaktgebet am Vorabend des Feiertages- den Ehrenplatz. Doch seine Reise auf diesen Gipfel war nicht leicht.
Auszüge aus einer Betrachtung von Gilad Kariv, Haaretz, 21.09.2007
Übersetzung von Daniela Marcus
Obwohl Kol Nidrej in Aramäisch, der Sprache der babylonischen Juden, geschrieben ist, waren es eigentlich die Leiter der Yeshivas (Talmudschulen) und die Größten unter den babylonischen Geonim (Weisen), die die Aufnahme des Gebets für die Aufhebung von Schwüren, Bannsprüchen und Eiden in die Gebetsordnung des Feiertages vehement ablehnten. Kol Nidrej erfuhr während seiner gesamten Odyssee vom Abgrund des halachischen (gesetzlichen) Streites bis zum Gipfel des jüdischen Gebetes den Widerstand der großen Weisen.
Manchmal wurde der Wortlaut des Gebetes sogar verändert. Die Veränderung entstammte dem Wunsch, die halachischen Probleme, die in der Aufhebung von Schwüren enthalten waren, zu vermindern. Doch in der endgültigen Analyse behielt das Gebet seinen führenden Platz unter den Yom-Kippur-Gebeten. Seine Geschichte scheint ein hervorragendes Beispiel dafür zu sein, dass Volksbräuche und öffentliche Meinung nicht weniger sondern vielleicht eher mehr fähig sind, die Welt des Judentums zu prägen, als die studierte und detaillierte halachische Entscheidung.
Die langwierige Geschichte des Gebetes ist Thema vieler Forschungsarbeiten. Die liturgische Forschung deutet darauf hin, dass seine Wurzeln am Anfang der Zeit der Geonim im 6. und 7. Jh. n. d. Z. liegen. Die Volkslegende verbindet es andererseits –vielleicht, um es in den Stand des Gebetes zu heben- mit den Befürchtungen der Anusim (Juden, die in Spanien und Portugal gezwungen worden waren, zum Christentum zu konvertieren). Diese suchten wenigstens für einen Tag eine Zuflucht von ihren falschen Schwüren, die sie gezwungen worden waren auf sich zu nehmen.
Nach der Flut der Worte
Heutzutage, hunderte von Jahren nach der Entstehung des alten Gebetes, gibt es nur wenige Menschen, die Schwüren und Bannsprüchen die gleiche Bedeutung zuschreiben wie dies in der Vergangenheit getan wurde. Zum größten Teil wurden diese Ausdrücke aus unserem Vokabular und aus den Gedanken, die das Leben der meisten Menschen in der modernen Gesellschaft prägen, entfernt. Diese Tatsache hängt wahrscheinlich mit dem bedeutenden Wandel des gesprochenen Wortes und dessen Zwillingsschwester, dem geschriebenen Wort, zusammen.
Worte überfallen uns von allen Seiten – sie kommen aus unseren Fernsehern und Radios, aus unseren Telefonen und von unseren Computern, von Zeitungen und allgegenwärtigen Reklametafeln. Gesprochene Worte, gesungene Worte, geschriene Worte, geflüsterte Worte, geschriebene Worte. Worte der Liebe, Worte des Hasses, bescheidene Worte, gefluchte Worte, eine Flut an Worten. Es gab Zeiten, da Menschen den Klang von Worten als Zuflucht vor menschlicher Isolation suchten. Heutzutage suchen viele Menschen Stille als ein Mittel, sich selbst und ihre Seelen in einer Welt von zu vielen Worten zu finden.
Es ist interessant zu sehen, dass in einer Welt, in der Redefreiheit und die Fähigkeit zu kommunizieren gepriesen wird, der Status des Wortes unterminiert worden ist. Vielleicht ist dies das Gesetz des Marktes, das sagt, dass die Preise für das Produkt sinken wenn das Angebot die Nachfrage übersteigt. In einer Welt, in der uns täglich hunderttausende Worte angeboten werden, lernen wir trotz unserer selbst die Macht des Wortes zu verschmähen und seine Bedeutung zu hinterfragen und die uralten und erschreckenden Mächte, die dem Wort von früheren Generationen zugeschrieben worden waren, zu beseitigen.
In unseren Tagen, in denen Schwüre und Eide, Verbote und Bannsprüche nicht mehr in den gängigen Lexika stehen, lädt uns das Kol Nidrej ein, in seinen Worten eine Bedeutung zu finden, die die Grenzen der engen halachischen Interpretation überschreitet. Wir sollten das Gebet inmitten der Flut von Worten, die über uns kommt, als eine Art Erinnerung an die enorme Macht der Worte sehen und als eine Warnung, die Worte, die wir gesagt haben oder sagen werden, nicht zu verachten.
Zu Beginn des Tages, an dem der Mensch aufgerufen ist, seine Taten zu überdenken und die Verantwortung für sie zu übernehmen, wird auch von ihm gefordert, auf die Worte, die er sagt, Acht zu geben. Das Kol-Nidrej-Gebet erinnert uns daran, dass Worte nicht in die Luft entschweben und sich nicht in sich selbst auflösen. Die Rechnung, die wir an diesem Feiertag versuchen auszugleichen, beinhaltet die Worte – alle Worte, die wir unabsichtlich sagten und all diejenigen, die wir mit voller Absicht sagten, die wir jedoch gern zurücknehmen würden wenn wir könnten.
Worte haben Macht. Sie haben Folgen. Parashat Bereshit, der Anfangsteil der Torah, der aus dem Beginn des Buches Genesis entnommen ist, und zu dem wir am Ende der Herbstfeiertage im Monat Tishri zurückkehren, lehrt uns, dass die Welt mit einem Wort geschaffen wurde, „Vayehi“ (und es ward), und dass sie deshalb auch mit einem Wort zerstört werden kann. Worte können heilen und töten, nahe bringen und distanzieren, Hilfe anbieten und bestrafen.
Stille im Allerheiligsten
In der Originalversion des Gebetes spricht der Beter von den Schwüren, die er im Lauf des vergangenen Jahres abgelegt hat, „vom letzten Yom Kippur bis zu diesem Yom Kippur“. Rabbeinu Tam, der im 12. Jh. n. d. Z. in Frankreich lebte und ein Enkel des großen biblischen Kommentators Rashi war, veränderte den Wortlaut in „von diesem Yom Kippur bis zum nächsten Yom Kippur“ und entschied somit, dass das Gebet nach vorne sieht, auf die Schwüre eines Menschen im Verlauf des nächsten Jahres. Viele unserer heutigen Gebetsgewohnheiten kombinieren die beiden Versionen als eine Art Forderung, nach der ein Mensch die Verantwortung für die Worte, die er bereits gesagt hat, übernimmt während er sich zugleich der Vorsicht bewusst ist, die von ihm bezüglich seiner zukünftig gesprochenen Worte gefordert wird.
Mehr als jeder andere Tag im jüdischen Kalender ist Yom Kippur ein Tag der Worte. Im Gegensatz zu anderen Torahfesten ist die einzige Rolle, die der Mund an diesem Tag übernimmt, das Aussprechen von Worten, entweder leise oder laut. Das war nicht immer so. Als der Tempel noch stand wurden Worte nur spärlich benutzt, beinahe knauserig. Der wichtigste Augenblick des Tages war das Betreten des Allerheiligsten durch den Hohepriester. Während dieses Augenblicks herrschte an dem heiligen Ort Stille. Die Mishna (kanonische Sammlung des Gesetzes-Schrifttums), die in Traktat Yoma die halachot (Gesetze) und minhagim (Bräuche) dieses Feiertages behandelt, lehrt, dass der Hohepriester erst nach Verlassen des Allerheiligsten ein kurzes Gebet sprach: „Und er sprach kein langes Gebet, um keine Scheu unter den Juden zu erregen.“ (Yoma 5, 1).
Die halachot des alten Traktats lehren, dass Yom Kippur mehr als jeder andere Tag im Tempel den Namen verdiente, der ihm von Prof. Yehezkel Kaufman gegeben wurde, um das Zentrum jüdischen Rituals zu beschreiben: der Tempel der Stille. Dieser Ausdruck mag von dem Gedanken stammen, dass es Momente gibt, in denen die Flut von Worten ihre Bedeutung verliert. Oder es wird vielleicht der Glaube gewesen sein, dass Worte auch eine enorm zerstörende Kraft enthalten, der zu dieser „leisen Stimme“ führte, die im Allerheiligsten dominierte.
Was auch immer es war, es war ein Zeugnis für den Grad der Vorsicht, der während des Kontaktes mit dem gesprochenen Wort erforderlich ist. Nachdem Yom Kippur zu dem Tag wurde, an dem in der Synagoge –dem jüdischen „kleinen Tempel“- am meisten gesprochen wird und nachdem unsere Welt zu einer wurde, die mit Worten überladen ist, nimmt Kol Nidrej den Platz des damaligen ausdrucksstarken priesterlichen Schweigens ein.
Bevor wir die lange Gebetsreise mit zehntausenden von Worten beginnen, versucht dieses Gebet den Menschen an die Macht der Worte zu erinnern und ihn zu ermutigen, die Verantwortung für die Worte, die er gesagt hat und die er „von diesem Yom Kippur bis zum nächsten Yom Kippur“ sagen wird, zu übernehmen.
Der Autor ist Reformrabbiner und assoziierter Direktor des Israel Religious Action Center.