„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“

Zum Abschnitt KEDOSCHIM

Von Rabbiner Bernhard Salomon Jacobson

Zur Klärung des Gebotes in der Halacha und in der Ethik des Judentums

Die Anrede an die „ganze versammelte Gemeinde“ findet sich in der Tora nur zweimal. Zum ersten Mal bei dem Gebot, das Pessachlamm darzubringen (Ex. 12, 3), dem ersten Gebot, das dem Volke Israel gegeben worden ist, und zum zweiten Mal in diesem Wochenabschnitt – Kedoschim. Dazu bemerkt „Sifra“, das ist ein halachischer Midrasch zum Buche „Wajikra“: „Daraus lernen wir, dass dieser Abschnitt vor der „versammelten Gemeinde“ (be-Hakhel) gegeben worden ist. Warum „der versammelten Gemeinde“?
Weil der größte Teil aller wesentlichen Lehren des Judentums in diesem Abschnitt enthalten ist.

Im Midrasch Rabba zu unserem Wochenabschnitt sagt Rabbi Levi: „Weil die zehn Gebote hier enthalten sind.“ Wie ist das zu verstehen?

Dort (Exodus / Schmoth) heißt es: „Ich bin der Herr Dein G“tt“ (Ex. 20,2), und hier (Levitikus / Vajikra): „Ich der Herr Euer G“tt“ (Lev.19, 2).

Dort: „Du sollst keine fremden Götter haben“ (Ex. 20, 3).
Hier: „Gegossene Götter machet euch nicht“ (Lev.19, 4).

Dort: „Du sollst nicht aussprechen den Namen des Herrn zum Falschen“ (Ex. 20, 7).
Hier: „Ihr sollt nicht bei meinem Namen falsch schwören“ (Lev.19,12).

Dort: „Gedenke des Sabbattages ihn zu heiligen“ (Ex. 20, 8)
Hier: „Meine Sabbate beobachtet“ (Lev.19, 3).

Dort: „Ehre deinen Vater und deine Mutter“ (Ex. 20, 12).
Hier: „Jeder fürchte seine Mutter und seinen Vater“ (Lev.19,3).

Dort: „Du sollst nicht morden“ (Ex. 20, 13).
Hier: „Stehe nicht still bei dem Blute (der Gefahr) deines Nächsten“ (Lev.19,16).

Dort: „Du sollst nicht ehebrechen“ (Ex. 20, 13).
Hier: „Heilig sollt ihr sein“ (Lev.19, 2).

Dort: „Du sollst nicht stehlen“ (Ex. 20, 13).
Hier: „Ihr sollt nicht stehlen“ (Lev.19,11).

Dort: „Du sollst nicht falsch zeugen wider deinen Nächsten“ (Ex.20,13)
Hier: „Gehe nicht als Verleumder umher“ (Lev.19,16).

Dort: „Du sollst nicht gelüsten nach…“ (Ex. 20, 14).
Hier: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Lev.19,18).

Vor allem müssen wir uns klarmachen, in welchem Rahmen und in welchem inhaltlichen Zusammenhang das Gebot der Nächstenliebe hier gegeben ist. Wie Rabbi D.Z. Hoffmann in seinem Kommentar „Das Buch Leviticus“ erklärt, haben wir es hier mit fünf Geboten zu tun:

Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen

Zur Rede stellen sollst du deinen Nächsten

Du sollst dich nicht rächen

Du sollst nicht nachtragen

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (Lev. 19,17-18)

Zwischen dem ersten und dem fünften Gebot besteht ein enger Zusammenhang: Hasse nicht, sondern liebe! Die anderen (2-4) sind triftige Folgerungen aus diesen beiden: Das Gebot des zur Rede Stellens ist dazu da, um jedes Hassgefühl aus dem Herzen des Menschen zu entfernen, anstelle von Rache und Groll soll Liebe in seinem Herzen wohnen, denn dieser Absatz schliesst mit den Worten: „Ich bin der Herr“, der euch alle geschaffen und Liebe und Brüderlichkeit anbefohlen hat. In diesem Sinne schreibt auch Ibn Esra: „Denn ich, der einzige G“tt, habe euch geschaffen.“

Schon Nachmanides (Ramban) hat in seinem Kommentar darauf hingewiesen, dass hier das Tätigkeitswort „ahaw“ — lieben mit dem Dativ konstruiert ist („ahawta le…“) während es sonst im Tanach üblich ist, es mit dem Akkusativ („ahaw et…“) zu gebrauchen. Der tiefere Sinn dieser ungewöhnlichen philologischen Erscheinung wird uns offenbar und ergänzt, wenn wir von Kapitel 19 Vers 34 heranziehen, in dem es heisst: „Wie der Eingeborene unter euch sei euch der Fremdling, der bei euch weilt, und du sollst ihn lieben wie dich selbst — „we-ahawta lo…“ (auch hier mit dem Dativ) — denn Fremdlinge waret ihr im Lande Ägypten. Ich, der Herr, bin Euer G’tt“. Unsere Lehrer weisen darauf hin, dass die Liebe zum Fremdling uns noch einmal in der Tora befohlen wird, und zwar in Deut. 10,19:

„vaahawtem et haGer“, liebt den Fremdling“ (et = Akkusativ). Das Gebot, den Fremdling zu lieben, — so sagen unsere Weisen — ist sprachlich genauso formuliert wie das Gebot, G“tt zu lieben, denn es heisst: „veahawta et haSchem Elokecha“ (s. auch RaMBaM — Hilchot Deot, Kap.6,4).

Was ist nun der wesentliche Unterschied im Gebot der Liebe in „veahawta et-reacha…“ und dem „veahawta et haSchem…“? Samson Rafael Hirsch erklärt es folgendermassen: „Die Liebe der Persönlichkeit des Nächsten, eine Liebe, die aus der Quelle eines warmen Herzens strömt, ist eine Forderung, deren Erfüllung ausser dem Bereich des Denkbaren liegt. Was die Tora hier von uns fordert, ist nicht, dass wir die Persönlichkeit eines jeden zu lieben haben, als ob die bezaubernde Anziehungskraft einer sympathischen Harmonie der Persönlichkeiten nicht existiere, und als ob es den seelischen Impuls der Antipathie manchen Menschen gegenüber gar nicht gäbe. Was von uns verlangt wird, ist die praktische Forderung des Wohls unserer Nebenmenschen in demselben Masse wie wir für uns selbst sorgen, d.h, Menschenliebe in die Tat umzusetzen. Gerade in Bezug auf den Proselyten begnügt sich die Tora nicht mit der Sorge um sein Wohl und Weh, sondern verlangt von uns, auch unsere Gefühle, d.h. unsere ganze Persönlichkeit, zu aktivieren, um ihm ein Gefühl der Zugehörigkeit zu geben. Diese Unterscheidung zwischen der gefühlsbedingten Liebe einerseits und praktischen Liebestaten andererseits, wird durch ein Beispiel aus dem Buch der Chronik, II,19,2, bestätigt. Dort wird das Tätigkeitswort „ahaw“ mit dem Dativ konstruiert (mit der Präposition „le“). Josafat, der König von Judah, hatte eine militärische Allianz mit Achaw, dem König des Reiches Israel, geschlossen, urn Aram zu bekämpfen. Da zürnte ihm der Prophet Jehu, der Sohn Hanans, und sprach: „Ist es Recht, dem Frevler beizustehen und jene zu lieben, die den Herrn hassen?“ (leSonee haSchem teehaw?). Hier wird das Verb „ahaw“ als Synonym zu „asar“ — helfen, gebraucht, also im praktischen und nicht im emotionalen Sinn. Wir kommen daher zur Schlussfolgerung — und das geht auch klar aus den Worten unserer Weisen hervor — dass „ahaw et“ (mit dem Akkusativ) eine höhere Stufe bezeichnet als „ahaw le“ (mit dem Dativ).

Auf Grund dieser Interpretation können wir vielleicht auch die auffallende Wiedergabe unseres Textes in der Übersetzung des Targum Jonatan ben Usiel, eines Schülers Hillels, verstehen. Er umschreibt die Worte „liebe deinen Nächsten…“ mit: „Was dir verhasst ist, tue auch deinem Nächsten nicht an. „Zwei Dinge fallen uns dabei besonders auf:

1) Die Verschiebung vom Bereich der Gefühle in das Gebiet der Betätigung.

2) Was noch erstaunlicher ist, die negative Formulierung – „sollst du ihm nicht antun.“ Bekanntlich, ist diese Paraphrase des Verses auf eine Erzählung im Talmud begründet: Es ereignete sich, dass ein Nichtjude vor Schammai trat und zu ihm sprach: „Mache mich zum Proselyten unter der Bedingung, dass du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Fuß stehe“. Da stieß er ihn fort mit der Elle, die er in der Hand hatte. Darauf kam er zu Hillel, und dieser machte ihn zum Proselyten und sprach zu ihm: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora, und alles andere ist nur die Erläuterung: geh und lerne sie“ (Sabbat 31 a).

Wer einen Menschen schmäht, der schmäht G“tt!

In „Ethik und Gesetz im Judentum“ von Rabbiner Dr. Federbusch (S. 41-43) finden wir wichtige Bemerkungen zum Ausspruch Hillels und zu seiner Auffassung des Gebotes, mit dem wir uns hier beschäftigen. Er schreibt: „Es ist hier zu erwähnen, dass schon einer der großen Erklärer des Talmud, der Maharscha (Rabbi Schmuel Edels) auf die negative Form in der Definition Hillels aufmerksam gemacht hat.“ Daraufhin zitiert Federbusch aus dem Kommentar des Maharscha: Es bedarf näherer Untersuchung, warum Hillel die positive Forderung der Tora in negativer Weise ausgedrückt hat. Er hätte es im Aramäischen so formulieren müssen, wie Onkelos es in seiner Übersetzung ins Aramäische getan hat, nämlich „liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Wir müssen daher voraussetzen, dass Hillel sich darin absolut sicher war, dass der Text hier von einem Verbot spricht (tue nicht an, „lo-taasse“), während im Falle des positiv ausgedrückten Gebote, Gutes zu tun, die Tora diese Wendung nicht benützt hat, wie der Talmud sagt: „Dein eigenes Leben geht dem Leben deines Nächsten vor“ (Bawa Mezia 62a). Die Worte des Targum Jonatan beweisen die Richtigkeit dieser Interpretation. Federbusch führt nun weiter aus: Es besteht kein Zweifel darüber, dass Hillel dem Proselyten mit einer negativen Fassung des Gebotes der Nächstenliebe geantwortet hatte, weil er vor allem daran interessiert war, den Kandidaten für den Übertritt in das Judentum zu lehren, sich vom Bösen zu entfernen, was eine Vorbedingung für positiv gutes Handeln ist, denn auch Hillel gibt doch selbstverständlich zu, dass das Grundprinzip aller Ethik in der Tora die positive Liebe ist.
Allen Forschern ist die Tatsache entgangen, dass Hillel selbst an einer anderen Stelle das Grundprinzip jüdischer Ethik in positiver Form ausgedrückt hat, und zwar in der Mischnah (Awot, Kap,1,12): „Sei von Aharons Schülern… die Geschöpfe liebend.“ Hillel hat daher den Sinn des Verses nicht eingeschränkt, sondern hat ihn erweitert und ihm dadurch eine zusätzliche Erklärung gegeben.

Hätte man das Wort leReacha – deinen Nächsten – auch so verstehen können, dass es sich nur auf Volksgenossen, d.h. Israeliten bezieht, so besteht doch kein Zweifel darüber, dass unter dem Wort „Geschöpfe“ die ganze Menschheit, sogar die Götzendiener zu verstehen sind. Diese Auffassung vertritt auch Rabbi Jaakow Emden in seinem Kommentar „Lechem Schamajim“ zu „Awot“ (Sprüche der Väter).

Zum Verständnis der Ansicht des Maharscha, der das Gebot der Nächstenliebe auf die Vermeidung des Bösen einzuschränken sucht, mag hier noch hinzugefügt werden, dass es unter den Exegeten auch solche gibt, die den Begriff „kamocha — wie dich selbst“ gar nicht so verstehen; z.B. sagt Rabbi Naftali Herz Weisel in seinem Kommentar zu Leviticus: „Ich behaupte, dass „kamocha“ bedeutet: denn er ist so wie du. Ein anderes Beispiel aus Genesis 44,18: „denn du bist wie Pharao“, du gleichst Pharao in deiner hohen Stellung (kamocha ke…).

Auch in der halachischen Literatur wird das Gebot der Nächstenliebe positiv spezifiziert. So schreibt RaMBaM: „Unsere Weisen gebieten uns, Kranke zu besuchen, Trauernde zu trösten, Bräute auszustatten, für vorüberziehende Wanderer zu sorgen, alles Notwendige zur Beerdigung eines Toten zu tun und auch das junge Paar an seinem Hochzeitstag zu erfreuen… dies sind Liebestaten, die man selbst, persönlich, mit eigener Kraft, auszuüben hat, und für die es kein bestimmtes Maß gibt. Obgleich all diese Gebote von unseren Weisen herrühren, sind sie doch im Gebot der Nächstenliebe mit inbegriffen. Alles was du gerne willst, dass andere für dich tun, tue auch du für deinen Bruder in Tora und Mitzwot“ (Gesetze für den Trauernden — Kap. 14,1).

Federbusch (S. 43) erklärt die Einschränkung „für deinen Bruder in Tora und Mitzwot“ folgendermaßen: „Anscheinend will RaMBaM damit sagen, dass man unmöglich das Gebot „liebe ihn wie dich selbst“ (oder: denn er ist wie du) auf einen Mörder anwenden und ihn unbestraft gehen lassen kann, denn in der Strafe selbst liegt gewissermaßen ein Akt der Nächstenliebe. Die menschliche Gesellschaft wird durch die Bestrafung des Mörders gebessert, und viele unschuldige Menschenleben werden dadurch gerettet. Aber in dem Moment, wo anderen Menschen kein Schaden mehr zugefügt werden kann, haben unsere Weisen angeordnet, den zum Tode verurteilten Verbrecher auch entsprechend dem Gebot der Nächstenliebe zu behandeln und ihn keine unnötigen Qualen leiden zu lassen: „Wähle für ihn einen leichten Tod“ (Sanhedrin 52a).“

Im ersten Band der Enzyklopädie des Talmud findet sich unter dem Stichwort „Ahawat Jisrael“ eine vollkommene Liste aller Vorschriften (Dinim), die zu diesem Gebot gehören. Unter anderen sind es zwei Halakhot, die wir in diesem Zusammenhang zitieren:

„Wer mit den Worten eines Gelübdes seinem Nächsten jeden Genuss von seinen Gütern vorenthält, übertritt unter anderem auch das Gebot der Nächstenliebe“ (Nedarim 65b). Ebenso gehört hierzu: „Man darf einer Frau keine Kiduschin geben, wenn der Mann sie nicht vorher gesehen hat, weil er an ihr etwas Hässliches entdecken und sie ihm widerwärtig werden könnte, und die Tora sagt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Kidduschin 41a).

Die zentrale Stellung dieses Gebotes im Pflichtbewusstsein des Juden ist im halachischen Midrasch zu Leviticus, dem Sifra, ganz besonders tiefsinnig ausgedrückt worden: „Rabbi Akiwa sagt: Das ist ein Hauptprinzip in der Tora.“ Ben Asai sagt: Der Vers in Bereschit (5,1) „Dies ist das Buch der Nachkommen Adams. Am Tage, da G“tt den Menschen schuf – in der Ähnlichkeit G“ttes schuf er ihn“ — ist ein wichtigerer Grundsatz.“ Dieser erstaunliche Ausspruch im Sifra wird uns verständlicher werden, wenn wir dem hinzufügen, was der Midrasch Rabba (Kap. 24) nach der Erklärung von Rabbiner Hoffmann hierzu zu sagen hat: „Ben Asai meint: Der Vers Gen. 5,1 enthält eine Lehre, die wichtiger ist als diese, dass du nicht sagst: „Da ich beschimpft worden bin, mag mein Nächster mit mir beschimpft werden; da ich verflucht worden bin, mag mein Nächster mit mir verflucht werden“… wenn du so tust, wisse, wen du beschimpfst: „im Ebenbilde G“ttes hat er ihn geschaffen!“… Ben Asai fügt nur hinzu… (zu der Ansicht Rabbi Akiwas), dass der Maßstab für die Nächstenliebe nicht die Liebe des Menschen zu sich selbst sein darf, denn dann könnte einer, der gleichzeitig Schmähungen über sich ergehen lasse, auch seinen Nächsten beschimpfen – sondern die Liebe und Achtung, die wir unserem Nächsten schulden, haben ihren Grund und ihren Maßstab in dem Fundamentalsatz: Der Mensch ist im Ebenbilde G“ttes geschaffen; wer also einen Menschen schmäht, der schmäht G“tt“.

Auch im Gebet, wenn wir die G“ttesnähe suchen, darf dieses Gebot nicht aus unseren Gedanken weichen. Im Buche der Andacht („Kavvanoth“) des heiligen Rabbi Jitzchak Luria* [haAri] finden wir: „Es ist richtig, vor dem Gebet Folgende Worte zu sagen: Hiermit verpflichte ich mich, das Gebot ‚Du sollst deinen Nächsten lieben…‘ zu erfüllen.“
Anm./Erläuterung: Die Liebe zu G’tt darf die Liebe zum Menschen nicht beeinträchtigen.

Zum Abschluss unserer Ausführungen möchten wir noch einen Gedanken aus der Literatur der Mussarbewegung bringen, und zwar nach dem Buch „Die Mussarbewegung – ihre Geschichte, ihre Träger und ihre Lehrmethode“ von Rabbi Dow Katz. Der Gründer und Initiator dieser Bewegung, Rabbi Jisrael Salanter, wollte der Ethik im Rahmen eines Lebens nach Tora und Mitzwot den ihr gebührenden Platz einräumen und nahm es mit der Erziehung seiner Anhänger, das Gebot der Nächstenliebe zu erfüllen, besonders genau. Im zweiten Band des oben genannten Werkes wird der Lebenslauf eines der grossen Vertreter der Mussarbewegung, des Rabbi Simcha Siessel, geschildert.

Dort bemerkt der Verfasser: „Rabbi Simcha rät uns auch, im Gebet an bestimmten Stellen eine Pause zu machen, um unsere Willenskraft und unsere Gefühle auf die Liebe der Geschöpfe zu konzentrieren“ (S. 157).

Ferner schrieb Rabbi Simcha Siessel in einem seiner Briefe aus dem Jahre 1890: „Die Tora fordert von uns, das Gute für unsere Mitmenschen anzustreben. Dieses Ziel kann aber weder durch die Verdrängung aller Hassgefühle noch durch Erfüllung des Gebotes der Nächstenliebe um seiner selbst willen erreicht werden, denn das wäre keine echte, wahre Liebe. Der Mensch soll seinen Nächsten lieben wie sich selbst, und wie die Selbstliebe naturbedingt ist und ohne jede Berechnung, Einschränkung oder Zwecksetzung im Herzen des Menschen wirkt, so soll er auch seinem Nächsten natürliche, selbstlose Liebe zukommen lassen, aus Freude und Genugtuung, ohne Grenze, ohne Nebenabsichten und ohne rationale Begründung.“ (S. 158).

Ohne Berechnung, Einschränkung oder Zwecksetzung, aus Freude und Genugtuung, ohne Grenze, ohne Nebenabsichten und ohne rationale Begründung…

Dies ist eine erhabene Auffassung des Gebotes. G“tt gebe, dass vom hellen Scheine des Liebesgebotes Strahlen und Funken ausgehen mögen, die die Finsternis unseres von Zwietracht geplagten Lebens erhellen und den Satan grundlosen Hasses aus unserer Mitte entfernen werden. Ja, es ist grundloser Hass, der zur Zerstörung des Tempels geführt hatte und noch heute uns umgibt und verführt. Seien wir auf der Hut, und stärken wir uns gegenseitig, damit das Gebot der Nächstenliebe unser Leben erleuchte und uns als Wegweiser diene!

*Rabbi J. Luria – Ha-Ari, 1534-1572, Jerusalem – Safed. Mystiker, gab der Kabalah ihre letzte, rezipierte Form.

Quelle: „Bina Bamikra – die Wochenabschnitte der Tora“
Die Wochenabschnitte der Torah, kommentiert durch Rabbiner Bernhard Salomon Jacobson. Toralernen anhand der 52 Sidrot. Anhand von zentralen Themen des Judentums wird ein Querschnitt durch jüdisches Lernen vom Talmud über Raschi und Maimonides bis zu Buber und Leibowitz gegeben.