Wenn von jüdischer Meditation die Rede ist, wird das Naheliegende, das ganz alltägliche Beten aus dem Sidur, oft übersehen.
Bei diesem „meditativen Zustand“ fungiert der auswendig bekannte Gebetstext so ähnlich wie ein Mantra. Das Versenken in das „Herunterbeten“, das von Außen auch als „Herunterleiern“ oder „unverständliches Gebrabbel“ gedeutet werden könnte, ist vielmehr ein Zustand halbfreier Assoziation. Halbfrei, weil durch das, im Gegensatz zum kürzeren und oft sogar absichtlich bedeutungsleeren Mantra, durchaus bedeutungsvolle Gebet, alle Sorgen, Freuden und Beziehungsklärungen kurz gestreift, aber im Rahmen der Gebetsfolge auch schnell wieder losgelassen werden.
Die hebräische Sprachmelodie wirkt dabei verstärkend, entscheidender als die Sprache ist jedoch die regelmäßige Wiederholung, denn je mehr man den Text in- und auswendig kennt, um so freier ist das Gehirn für Assoziation und Versenkung. So kann es durchaus sein, dass Jemand das gesamte Morgengebet (Schachrith) „heruntergeprochen“ hat, dabei aber kaum auf die Worte geachtet hat. Ein Danebenstehender mag das Gebet verstanden haben, der Beter selbst aber war vertieft in seine Assoziationen und es kann durchaus sein, dass die Versenkung so tief war, dass er sich kaum mehr daran erinnert. Die normalerweise mit der Außenwelt korrespondierenden Denkbereiche sind durch das Abspulen des Gebetstextes gerade soweit beschäftigt, dass ein Wachzustand aufrechterhalten wird, das Grübeln und Nachdenken über berufliche oder private Vorhaben und Eitelkeiten aber abgeblockt oder auf eine andere Ebene verschoben wird.
Die Rezeptoren sind sozusagen besetzt, wobei die Texte inhaltlich sehr wohl alle Ängste und Sorgen, seien sie körperlicher oder geistiger, sozialer oder spiritueller Natur, streifen. Verstärkend wirkt noch die mehr oder weniger monotone Schaukelbewegung oder auch das (oft autonome) Gestikulieren. Es entsteht ein Gefühl der Sicherheit, der Geborgenheit und Verbundenheit mit G’tt, dem Selbst, den Lieben und der Welt.
Nehmen wir als Beispiel das Morgengebet:
Die Vorbereitung der Meditation erfolgt durch das Waschen, das Anlegen der Tfilin, das Bedecken mit dem Talith.
Zuerst grenzt sich der Mensch von der vergangenen Nacht ab und verortet sich in der (wachen) Gegenwart um von hier in Kontakt mit G’tt und der Welt, seiner Schöpfung, zu treten.
Zur Einleitung fallen etliche Wiederholungen auf, die das Eintauchen in einen bestimmten Rhytmus anregen und uns unserer Freiheit vergewissern sollen.
Barukh atah “ Elohenu Melekh haOlam, ascher kidschanu… …
Barukh atah “ Elohenu Melekh haOlam, pokeach ‚Ivrim.
Barukh atah “ Elohenu Melekh haOlam, malbisch ‚Arumim.
Barukh atah “ Elohenu Melekh haOlam, matir Asurim.
Barukh atah “ Elohenu Melekh haOlam, sokef Kfufim…
Barukh atah “ Elohenu Melekh haOlam, rok’a haArez al haMajim…
Barukh atah “ Elohenu Melekh haOlam, … …
Nach weiteren Gedanken an Bescheidenheit und Vergänglichkeit folgt das Schm’a und danach die Amidah, die stehende Meditation.
Über das Schm’a sagte Rabbi Arjeh Kaplan (S’l), schon aus der Bezeichnung „Schm’a Jisrael, höre Israel“ gehe hervor, dass es sich um eine Meditation handelt. Wäre es nur darum gegangen zu proklamieren, dass G’tt Einer sei, hätte man auf die Einleitung „Höre Israel“ verzichten können.
Schm’a, höre
So wird es klar, dass es darum geht, Hinzuhören, zu Lauschen, mit aller Kraft und Aufmerksamkeit. Es fordert von uns unser Bewusstsein zu öffnen, um die Einheit G’ttes erfahren zu können.
Israel
Von Interesse ist auch, so Kaplan, dass der Name Israel zu Beginn der Erklärung steht, ist doch Israel der Name, den Jakow bekam, nachdem er auf dem Heimweg nach Kanaan mit dem Engel gekämpft hatte.
וַיֹּאמֶר, לֹא יַעֲקֹב יֵאָמֵר עוֹד שִׁמְךָ – כִּי, אִם-יִשְׂרָאֵל:
כִּי-שָׂרִיתָ עִם-אֱלֹהִים וְעִם-אֲנָשִׁים, וַתּוּכָל.
Nach dem Buch Sohar ist nicht genau klar, ob der Engel, mit dem er kämpfte, gut war oder böse. Viele Kommentatoren meinen, Jakows Kampf habe in einem eher meditativen Zustand stattgefunden.
Wichtig ist aber die Botschaft, dass jemand, der sein Bewusstsein und seine Sinne völlig öffnet, sie sowohl dem Guten, wie auch dem Bösen öffnet.
Gerufen wird hier das Israel in jedem von uns, also jener Teil, der die körperlich-geistigen Grenzen überschreiten möchte.
Das Schma fordert dieses Israel dazu auf, ruhig zu sein und zu hören und sich zu öffnen für die universelle Botschaft von G’ttes Einheit.
Adonaj, der Ewige
Wenn wir „Adonaj“ sagen, dann sprechen wir von etwas, das im menschlichen Verstand noch nicht einmal eine Kategorie hat. Doch schon im nächsten Wort nennen wir Adonaj unseren G’tt, Elohenu.
Elohenu, unser G’tt
Wir sind G’tt also so nahe, dass wir ihn „unser“ nennen. Das ist erstaunlich, denn wir denken an das Unendliche und nennen es trotzdem „unser“.
Dass G’tt uns erlaubt, ihn „unser“ zu nennen, ist das größtmögliche Geschenk.
Adonaj, der Ewige
Das Schma endet mit den Worten Adonaj echad, G’tt ist einer.
Echad, Eins
Dies bedeutet, dass egal wie so unterschiedlich und vielfältig unsere Erfahrungen mit dem G’ttlichen auch sein mögen, sie doch alle eins sind und eine Quelle haben.
Wir erkennen eine grundlegende Einheit im Universum und darüber hinaus.
Wir sehen in G’tt die größt mögliche Einheit. Die Einheit, die die gesamte Schöpfung vereinigt. Je mehr wir dies verstehen, um so mehr begreifen wir, dass es auf der höchsten Ebene keinen Plural mehr geben kann, dass also auch wir Teil dieser Einheit sind.
Es scheint paradox zu sagen, dass G’tt existiert und ich existiere und ich und G’tt eins sind. Das ist als sagte man 1 + 1 = 1, was nicht logisch ist.
Trotzdem, Logik steht nicht über G’tt. Im Gegenteil, wenn G’tt alles erschaffen hat, dann hat er auch die Logik erschaffen. Wenn es G’ttes Wille ist, dass eins und eins eins bleibt, dann ist dies möglich.
Dieser Wille findet seinen stärksten Ausdruck in der Liebe. Im Schm’a kommt dies über die Numerik zum Ausdruck. „EcHaD = eins“ hat den Zahlenwert 13; ebenso wie das Wort „AHaWaH = Liebe“.
Von den Gebeten vor und nach dem Schm’a endet jenes davor mit dem Wort „in Liebe, haBocher beAmo Jisrael beAhawah“. Direkt nach dem Schma kommt das Gebot: „Und du sollst G’tt lieben“… (Deuteronomium / Dewarim 6.5).
Das Schm’a ist also eingebettet in Liebe. In G’ttes Liebe zu uns und unsere Liebe zu G’tt. Und beide weisen auf die Einheit hin.
וְאָהַבְתָּ אֵת יְהוָה אֱלֹהֶיךָ בְּכָל־לְבָבְךָ וּבְכָל־נַפְשְׁךָ וּבְכָל־מְאֹדֶךָ׃
Dewarim 6.5 wird oft als Befehl formuliert: „Veahawta et “ Eloohekha“… „Du sollst den Ewigen, Deinen G’tt, lieben, mit ganzem Herzen…“
Dabei könnte man statt „du sollst“ genauso gut „du wirst“ übersetzen. Es wäre dann kein Befehl sondern eine einfache Feststellung.
Es hieße, so Rabbi Arjeh Kaplan, dass wenn wir mit unserer gesamten Gewahrsamkeit hören, dass G’tt unser ist und G’tt eins ist, dann werden wir automatisch G’tt lieben. Die Liebe zu G’tt folgt als natürliche Konsequenz aus der Erfahrung seines Wesens und seiner Einheit.