Von Inge Schott
Die Geschichtsschreibung der letzten 2000 Jahre ist vor allem christlich geprägt und setzt entsprechend andere Prioritäten, als es vermutlich eine jüdische Geschichtsschreibung getan hätte. Das Judentum, obwohl eine Lebensform des ständigen Erinnerns, befasste sich lange Zeit nicht mit Geschichtsschreibung im heutigen wissenschaftlichen Sinn, denn es hatte ja seine Geschichte schon in der Torah vollständig aufgezeichnet übergeben bekommen.
Bereits vor der Erschaffung der Welt lag „Geschichtsschreibung“ vor, alles Neue war auf die Torah zu beziehen und ließ sich durch die Geschichtsbücher, Prophetenschriften und rabbinischen Auslegungen ergründen. Mit jüdischer Historie befasste sich erstmals im 18. Jh. ein Nichtjude, und es sollte noch ein weiteres Jahrhundert dauern, bis sich auch jüdische Gelehrte hiermit beschäftigten. (Andrea Übelhack: „Wissenschaft vom Judentum – Annäherungen nach dem Holocaust“)
Die Geschichte der jüdischen Mission in der Antike lässt sich aus diesem Grund kaum direkt verifizieren, sondern zumeist nur aus Dokumenten der damaligen Zeit ablesen, die sich mit ganz anderen Themen befassten und nur im peripheren Bereich das Thema streiften oder durchscheinen ließen. Die entstehende jüdische Geschichtsschreibung des 19. Jh. beschäftigte sich ebenso wenig damit, wie die fast 2000 Jahre alte christliche Historiographie, da die Einstellung zum Proseyltismus sich verändert hatte und ein Interesse daran kaum mehr bestand.
Einen wichtigen Beleg für die Häufigkeit des Übertritts römischer Staatsbürger zum Judentum liefern die jüdischen Katakomben Roms, in denen die Grabinschriften Proselyten voller Hochachtung ausdrücklich als solche benennen. Ein Zeichen dafür, dass es nicht nur viele Proselyten gab, sondern, dass sie im Judentum auch sehr willkommen waren. Die Ehrenbezeichnung „Proselyt“ fand vermutlich im Römischen Reich Aufnahme in das Achtzehn-Gebet. Flavius Josephus schrieb hierzu: „Aber auch schon unter den Massen merkt man seit längerer Zeit einigen Eifer für unsere Religion, und es gibt kein Volk und keine griechische oder barbarische Stadt, wo nicht unser Brauch, am siebten Tag die Arbeit ruhen zu lassen, Eingang gefunden hätte und wo nicht das Fasten, Anzünden von Lichtern und viele unserer Abstinenzgebote beobachtet würden.“
Keine Belege gibt es dafür, dass Juden aktiv missionierten. Dies scheint auch im Römischen Reich so gesehen worden zu sein, denn es gab nie ein Missionsverbot, wohl aber zeitweilig ein Übertrittsverbot. Trotz der Religionsfreiheit im Römischen Reich und der völlig freien Ausübung jeglicher religiöser Vorschriften im römischen Judentum der Antike, gab es seitens der Regierung zeitweise Befürchtungen, die jüdische Religion könne sich zu stark ausbreiten. Deshalb wurde es immer mal wieder unter Strafe gestellt, sich beschneiden zu lassen. Das natürliche Anwachsen der jüdischen Gemeinden wurde aber nicht behindert oder bekämpft, es wurden sogar weitreichende Rücksichten auf die Bräuche jüdischer Bürger genommen. Zum Beispiel durften sie, wenn die Verteilung des Saatguts oder die Gemeinschaftsarbeit auf dem Feld auf einen Schabbat fiel, ihre Tätigkeit auf den Sonntag verlegen, damit sie ihre Gebote nicht verletzen mussten. Sie waren vom Kaiserkult befreit, durften ihre Tempelsteuer nach Jerusalem senden, während die Nichtjuden ihre Steuern an den römischen Staat für den Kaiserkult abführten. Jüdische Sklaven hatten am Schabbat frei und jüdische Männer waren vom Militärdienst freigestellt.
Aus Grabinschriften und -beigaben ist zu erkennen, dass Rom im ersten Jh. mindestens zwölf Gemeinden mit eigenen Synagogen besaß, und Urkunden belegen, dass „Baugenehmigungen“ hierfür eine reine Formsache waren. (Nikos de Bees (hg): Die Inschriften der jüdischen Katakombe am Monteverde zu Rom. Leipzig 1919 und Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums (hg): Die jüdische Katakombe am Monteverde zu Rom, der älteste bisher bekannt gewordene jüdische Friedhof des Abendlandes, Leipzig 1912) Synagogenbeschädigung stand unter Strafe. All diese Sicherheiten und Rechte verdankten die jüdischen Gemeinden des Römischen Reichs Cäsar und Augustus, denen gegenüber sie sich stets loyal verhielten. Auch Claudius hatte ein gutes Verhältnis zu den jüdischen Gemeinden und hielt den gesetzlichen Schutz für sie aufrecht, ebenso Nero.
Die Grabinschriften der jüdischen Katakomben zeugen von einem friedlichen Leben der jüdischen Gemeinden. Es wird kein gewaltsamer Tod beklagt, keine Verfolgung angedeutet, keine Notwendikeit von heimlichen Religionsritualen erwähnt. Die römischen Juden des ersten Jh. führten ein sicheres und friedvolles Leben.
Aktive Mission lernte Rom erst kennen, als Paulus aus Palästina als Gefangener Roms eintraf. Er wurde – siehe Apostelgeschichte – äußerst aggressiv, als seine „Glaubensbrüder“ die Anerkennung Jesu als Messias ablehnten. Die römischen Juden distanzierten sich von der neuen Sekte und der Staat differenzierte sehr wohl zwischen römischen Juden und den Paulinern. Dies war für die Juden Roms wichtig, da die Pauliner gegen den Kaiserkult hetzten und nicht nur unter den Juden aggressiv missionierten. Die jüdisch-christliche Sekte, bald nur noch Christen genannt, wurde von Staats wegen verboten, währen die jüdischen Gemeinden keinerlei Repressalien ausgesetzt waren. Während der ersten Christenverfolgung unter Nero behielten die Juden weiterhin all ihre Privilegien.
Gegen Ende des ersten Jh. verfasste der Dichter Juvenal judenfeindliche Schriften, in denen er über die Größe der jüdischen Gemeinden, die Vorteile der Juden und das starke Anwachsen des Judentums hetzte, das durch die Häufigkeit der Übertritte zu begründen sei. Er ging aber nicht so weit, die Juden selbst hierfür verantwortlich zu machen, sondern beklagte lediglich die Freiwilligkeit der Proselyten. Dies zeigt erneut, wie stark die Anziehungskraft des Judentums auf die Römer gewesen sein muss. Besonders richtete sich Juvenal gegen die hochgestellten Persönlichkeiten, die dem Götterglauben abschworen und nurmehr „nichts als duft’ges Gewölk und des Himmels Gottheit“ anbeten wollten.
Jüdische Mission beschränkte sich also auf das Vorleben, sie befasste sich nicht mit aktiver Werbung für einen Übertritt. Heute besteht eine gewissen Vorsicht gegenüber Übertrittswilligen, die in der Geschichte der Judenmission ihren Ursprung hat.