Jüdische Auslegungen und Positionen zu den Jesajazitaten der christlichen Schriften

Von Michael Hilton
Aus: Wie es sich christelt, so jüdelt es sich. 2000 Jahre christlicher Einfluss auf das jüdische Leben, Jüdische Verlagsanstalt Berlin 2000.

Juden und Christen haben bekanntlich eine gemeinsame Bibel, aber wir hören nicht auf, uns darüber zu wundern. Die Jünger Jesu (einschließlich Paulus) waren zwar durch ihre Geburt und Erziehung Juden, doch es ist weniger sicher, ob einer der Verfasser der Evangelien jüdisch war oder eine unmittelbare Kenntnis von Palästina besaß. Trotzdem zitierten sie die hebräische Bibel als Beleg für das Kommen Christi.

Möglicherweise lag dies daran, dass Paulus die jüdische Gemeinschaft zwar verlassen, aber sein Judentum bewahrt hatte. Für die Christen galt nun die Kirche als das »wahre Israel«. Die heidnischen Christen akzeptierten schließlich den gesamten Text, der später von den Rabbinen als Wort der Heiligen Schrift definiert wurde.

In der modernen Wissenschaft geht man davon aus, dass das Alte Testament wegen des Streits mit dem Häretiker Marcion im Jahr 144 d.Z. zu einem Teil der christlichen Bibel wurde. Marcion hatte nicht nur die hebräische Bibel verworfen, sondern auch eine Lehre von zwei Göttern vertreten, einem Gott der Güte und einem Gott der Gerechtigkeit. Seine Liste der christlichen Schriften ist der älteste bekannte christliche Kanon. Um ihn zu widerlegen, sah sich die Kirche gezwungen, die Bibel zu erhalten und damit leitete sie eine Debatte zwischen Juden und Christen ein, die seitdem andauert.

Der Kanon

Zur Zeit des Marcion-Streits hatte die jüdische Gemeinschaft gerade die Ketuwim (»Schriften«) abgeschlossen, die später zum dritten Teil der hebräischen Bibel wurden. Rabbi Akiwa und seine Kollegen diskutierten, ob auch Schir ha-Schirim (das Hohe Lied) und Kohelet dazugehören sollten. In dieser Zeit begannen Christen darüber zu debattieren, welche Bücher der hebräischen Bibel akzeptiert werden sollten. Zunächst entschied jede Kirche selbst über den für sie gültigen Kanon. Erst im 4. Jahrhundert wurde ein kirchliches Konzil zur offiziellen Klärung dieser Frage einberufen. Hieronymus (ca. 350—420), der Herausgeber und Übersetzer der Vulgata genannten lateinischen Bibelausgabe, sprach sich für den hebräischen Text aus, ohne die griechischen Zusätze zu Esther und Daniel. Wäre es nicht nach ihm gegangen, hätten Juden und Christen nun in Teilen übereinstimmende Bibeln gehabt, aber keine gemeinsame.

Bereits im 3. Jahrhundert verunglimpften die Kirchenväter Juden und das Judentum. Trotzdem erkannten sie weiterhin die Texte als heilig an, die sie das Alte Testament nannten, und das Juden als Tanach bezeichnen: die Tora (Tora), die Propheten (Nevi’im) und die Schriften (Ketuwim). Bischof Eusebius von Cäsarea (260—3 39 d. Z.) behauptete, es sei zum Wohl der Heidenkirche gewesen, dass Juden diese Texte der Bibel bewahrt hätten:

Der Logos entschied sich, dem jüdischen Volk sein Ende zu verbergen, damit es die Schriften ohne Fehler für die Heiden bewahrte. Wenn es sein bitteres Ende klar vorausgesehen hätte, all das Gute, das die Propheten über die Heiden vorhergesagt hatten …, an dem jene Beschnittenen in keiner Weise Anteil haben würden …, dann hätte es sie [d.h. die Schriften] vernichtet.

Eusebius‘ Auffassung könnte sich in dem folgenden Kommentar des Talmud widerspiegeln:

Rab Ada ben Rab Chanina sagte: Hätten die Israeliten nicht gesündigt, so würden ihnen nur die fünf Bücher der Tora verliehen worden sein und das Buch Jehoschua, weil dieses die Wertschätzung des Israellandes ist. Weshalb? »Denn bei viel Weisheit ist viel Gram.« (Koh. 1,18).

Die Auseinandersetzungen mit dem Christentum haben jüdische Bibelauslegungen der vergangenen 1900 Jahre stark beeinflusst. Sie wirkten sich sogar auf den Zeitpunkt der Zusammenstellung der hebräischen Bibel durch Rabbi Akiwa aus, wie Mischna Sanhedrin 10,1 berichtet:

Ganz Israel hat Anteil an der kommenden Welt. … Und diese sind es, die keinen Anteil an der kommenden Welt haben: … Rabbi Akiwa sagt: Auch der, der die häretischen Bücher liest, oder der eine Wunde bespricht indem er sagt: (Ex. 15,26) »Keine der Krankheiten, die ich auf Mizrajim gelegt, werde ich auf dich legen, denn ich der Ewige bin dein Arzt.«

Mit dem Begriff »häretische Bücher«, (Sifrej haHizonim, wörtlich »externe Bücher«) bezeichnet Akiwa Schriften, die einige für heilig halten, die sich aber außerhalb des akzeptierten Kanons der heiligen Schriften befinden. Akiwas anschließende Bemerkung über abzulehnende Heilungsmethoden lässt vermuten, dass er dabei an die Bücher der Christen dachte. Der Grund für dieses Zitat aus dem Buch Exodus ist aber letztlich unklar. Welche Bücher waren »außerhalb« des Kanons? Akiwa und seine Zeitgenossen standen noch mitten in der Diskussion. Die Auseinandersetzung mit dem Christentum machte den Abschluss dieser Diskussion dringend erforderlich. In der modernen Wissenschaft gibt es eine nicht endende Debatte darüber, wann die so genannte »Trennung der Wege« zwischen Juden und Christen stattfand. Wahrscheinlich lässt sie sich nicht auf ein bestimmtes Ereignis zurückführen, sondern war ein allmählicher Prozess. Doch der spätest mögliche Zeitpunkt, den die moderne Wissenschaft für denkbar hält, ist die Zeit von Rabbi Akiwa. Er und viele seiner Kollegen unterstützten im Jahr 135 d.Z. den Aufstand Bar Kochbas gegen die Römer. Die Christen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft konnten die messianischen Ansprüche Bar Kochbas nicht akzeptieren und galten als Verräter der nationalen Sache. Nach dem Krieg verhängte Hadrian ein strenges Verbot über Juden, Jerusalem zu betreten. Dies galt natürlich auch für beschnittene Christen. Der Bischof von Jerusalem wurde durch einen heidnischen Christen ersetzt. Von da an konnte es zwischen den beiden Glaubensrichtungen keine Annäherung mehr geben. Die jüdische griechische Bibel, die so genannte Septuaginta, die um 250 v. d. Z. aus dem Hebräischen übersetzt worden war, enthält 14 Schriften, die schließlich nicht Bestandteil der hebräischen Bibel wurden und die nur durch die Kirche erhalten geblieben sind.

Text und Mission

Die Einstellung zum Christentum hat das jüdische Verständnis der Bibel seit der Antike beeinflusst. Auch heute noch ist die Schrift oft ein trennendes Element zwischen Juden und Christen. In der Absicht, Juden zu bekehren, zitieren Missionare nach wie vor aus den hebräischen Propheten. Die Besorgnis der Juden über christliche missionarische Aktionen wurde zu einem Thema der Kirche. Bei der Lambeth Conference der anglikanischen Kirche war dies 1988 ein Hauptgesprächspunkt. Auch in den offizillen Erklärungen schlugen sich die Meinungsverschiedenheiten nieder:

– – Innerhalb des Christentums finden sich heute viele verschiedene Haltungen dem Judentum gegenüber. Auf der einen Seite stehen jene Christen, die darum beten, dass Juden ihre Erfüllung in Jesus, dem Messias, finden mögen, ohne jedoch ihr Judentum aufzugeben. Andere betrachten es als ihre besondere Berufung und Verantwortung, ihren Glauben mit Juden zu teilen und drängen sie dazu, den spirituellen Reichtum zu sehen, den Gott ihnen durch den jüdischen Glauben geschenkt habe. Andere Christen sind der Meinung, dass Jesus, indem er das Gesetz und die Weissagungen der Propheten erfüllte, die jüdische Beziehung zu Gott bestätigt habe, indem er durch seine Person diesen Weg für die Heiden öffnete. Wieder andere haben durch den Holocaust eine veränderte Wahrnehmung; solange das Christentum eines glaubwürdigeren Zeugnisses entbehrt, seien sie von Gott verpflichtet, Juden in ihrem Gottesdienst und ihrem Verständnis von Gott, dem Vater Jesu Christi, zu bestätigen. Alle diese Zugänge erkennen an, dass Christen heute eine neue, bessere Beziehung zum Judentum suchen. Wir drängen darauf, im Licht der Schrift und angesichts der historischen Tatsachen über das Wesen der Beziehung in Gedanken und Gebeten weiter nachzudenken.

– – Diese beiden Positionen zeigen jedoch das Anliegen, dem Judentum gegenüber sensitiv zu sein und lehnen jegliche Bekehrungsversuche ab, das heißt aggressive und manipulative Versuche, Menschen zu bekehren und selbstverständlich auch jegliche Spur von Antisemitismus. Außerdem haben Juden, Muslime und Christen einen gemeinsamen Auftrag. Sie teilen den Auftrag an die Welt, dass Gottes Name geehrt werden soll: »Geheiligt werde dein Name.« (Matthäus 6,9). Sie teilen die gemeinsame Verpflichtung, Gott mit ihrem ganzen Sein zu lieben und ihre Nächsten wie sich selbst. »Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden.« Und im Dialog wird es ein gegenseitiges Zeugnis geben. Durch das Lernen voneinander wird jeder tiefer in sein eigenes Erbe eindringen. Jeder wird den anderen an Gott erinnern und Gottes Willen sorgfältiger ausführen. Es wird eine gegenseitige Bezeugung zwischen gleichwertigen Partnern sein.

Bei genauem Lesen dieser Texte kann man einige der Meinungsverschiedenheiten entdecken, die in die Formulierungen eingeflossen sind. Wenn ein Dokument einer Konferenz mit der Aussage beginnt: »Einige glauben…, andere glauben…«, dann zeigt dies, dass die zitierten Ansichten Gegenstand einer Diskussion, möglicherweise einer harten Auseinandersetzung waren. Innerhalb des Christentums gibt es sehr unterschiedliche Meinungen darüber, welche Haltung man dem Judentum und anderen Religionen gegenüber einnehmen soll. Ein früherer Entwurf der zitierten Erklärung enthielt den Satz, Judenmission sei in unserer Zeit generell nicht mehr angemessen. Es stellte sich aber heraus, dass der evangelikalere Flügel der anglikanischen Kirche dies nicht akzeptieren konnte. Daher findet sich in der endgültigen Textfassung nun die merkwürdige Aussage über »aggressive und manipulative Versuche, Menschen zu bekehren«, ohne jedoch zu definieren, was gemeint ist.

Ein interessanter Aspekt der Lambeth Conference Erklärung ist der Umgang mit Schriftzitaten. Die Einstellung diesen Texten gegenüber ist für die Auseinandersetzung wesentlich, denn die Schrift ist für viele unterschiedliche Lesarten und Interpretationen offen. Da ist das historische Verständnis, das jeden Text als das Produkt seiner eigenen Zeit versteht. Ihm steht ein fundamentalistisches Verständnis gegenüber, demzufolge jeder Text unmittelbar in unsere eigene Zeit spricht, so als lebten wir noch immer in der Zeit der Bibel. Viele verstehen die biblischen Texte heute so. Man denkt dabei unwillkürlich an jenen Typ Missionar, der mit der Bibel in der Hand vor der Tür steht und fragt: »Haben sie nicht erkannt, dass es in der Schrift so und so heißt?«

Text und Midrasch

Eine dritte Verstehensweise der Schrift ist die rabbinische Vorstellung des Midrasch. Sie gilt oft als jüdische Auslegungsmethode, wurde aber in Wirklichkeit viele Jahrhunderte lang von beiden Religionen angewendet und bildete ein praktisches Mittel in Auseinandersetzungen. Der Begriff Midrasch bedeutet »Forschung«. Er bezeichnet eine bestimmte Form der rabbinischen Literatur, die sich auf biblische Texte gründet. Diese Literaturgattung kann die Gestalt einer Predigt oder die eines Kommentars haben. Der Midrasch greift einen Text aus der Bibel auf und interpretiert ihn in einer lockeren Art und Weise, indem er Vorstellungen und Geschichten in diesen Text hineinliest. Er sagt nicht, was der Text bedeuten soll, sondern bietet eine Vorstellung an, die man aus diesem Text oder in Zusammenhang mit ihm herleiten kann. Die Bibelzitate dienen als »Belegstellen«, was allerdings nicht bedeutet, dass der zitierte Text wörtlich gelesen etwas »belegt«. Vielmehr wählte der Prediger oder Schreiber einen heiligen Text, um sein Thema zu begründen. Solche »Belegstellen« sind auch heute beliebt. Sie werden jedes Wochenende in Kirchen und Synagogen von Predigerinnen und Predigern benutzt, um ein besonderes Thema heraus zustellen. Genauso wird die Bibel in der Lambeth-Erklärung verwendet.

Die römisch-katholische Kirche diskutierte die Frage der korrekten Interpretation von Texten in der »dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung« (constituito dogmatica de divina revelatione), die das zweite vatikanische Konzil 1965 erließ. Viele Jahrhunderte lang waren Christen allgemein davon ausgegangen, dass die Worte der Bibel von Gott diktiert wurden. Folglich barg jeder Versuch, sie wie den Midrasch zu interpretieren, die Gefahr, dass der Text und damit Gottes klare Botschaft verzerrt würde. Doch die »dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung« lautet:

Zur Abfassung der Heiligen Bücher hat Gott Menschen erwählt, die ihm durch den Gebrauch ihrer eigenen Fähigkeiten und Kräfte dazu dienen sollten, all das und nur das, was er — in ihnen und durch sie wirksam — geschrieben haben wollte, als echte Verfasser schriftlich zu überliefern. Menschliche Verfasserschaft steht also nicht im Konflikt mit einer göttlichen Offenbarung. Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muß der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte.

Mit anderen Worten: Wer versteht, was die menschlichen Verfasser sagen wollten, vernimmt Gottes Wort. Dies ist etwas ganz anderes als die Aussage, dass ihre Texte als von Gott diktierte Worte niedergeschrieben worden seien. Die Interpretation wird hier also zu einem notwendigen Teil der katholischen Auseinandersetzung mit diesen Texten.

Um die Aussageabsicht der Hagiographen zu ermitteln, ist neben anderem auf die literarischen Gattungen zu achten. Denn die Wahrheit wird je anders dargelegt und ausgedrückt in Texten von verschiedenem Sinn geschichtlicher, prophetischer oder dichterischer Art, oder in anderen Redegattungen. Weiterhin hat der Erklärer nach dem Sinn zu forschen, wie ihn aus einer gegebenen Situation heraus der Hagiograph den Bedingungen seiner Zeit und Kultur entsprechend — mit Hilfe der damals üblichen literarischen Gattungen — hat ausdrücken wollen und wirklich zum Ausdruck gebracht hat. Will man richtig verstehen, was der heilige Verfasser in seiner Schrift aussagen wollte, so muß man schließlich genauso auf die vorgegebenen und weltbedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen achten, die zur Zeit des Verfassers herrschten, wie auf die Formen, die damals im menschlichen Alltagsverkehr üblich waren. Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muß, in dem sie geschrieben wurde, erfordert die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte, daß man mit nicht geringer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens. Aufgabe der Exegeten ist es, nach diesen Regeln auf eine tiefere Erfassung und Auslegung des Sinnes der Heiligen Schrift hinzuarbeiten, damit so gleichsam aufgrund wissenschaftlicher Vorarbeit das Urteil der Kirche reift. Alles, was die Art der Schrifterklärung betrifft, untersteht letztlich dem Urteil der Kirche, deren gottgegebener Auftrag und Dienst es ist, das Wort Gottes zu bewahren und auszulegen.

Die Tradition, innerhalb derer ein Text gedeutet wird, ist also ebenfalls eine Quelle zu seinem Verständnis und nicht notwendigerweise eine Verzerrung. Diese Konstitution wertet die heiligen Schriften als Texte, die sowohl innerhalb ihres eigenen Kontexts als auch durch spätere Erfahrung interpretiert werden müssen, wenn der Christ das Wort Gottes vernehmen will, das sie enthalten.

Eine Jungfrau, ein junges Mädchen, der König Hiskia und die Jesaja-Texte

Die Untersuchung dreier Verse aus dem Propheten Jesaja, die Juden und Christen völlig unterschiedlich interpretieren, verdeutlicht diese unterschiedlichen Auslegungsmethoden der Schrift:

Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel [d.h. Gott mit uns] (Jes. 7,14).
Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter (Jes. 9,5).
Fürwahr er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen… Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen (Jes. 53,4f).

Alle drei Texte werden in den Evangelien zitiert. Wenn man Christen heute nach ihrer Bedeutung fragt, halten sie sie, kaum überraschend, für Prophetien des kommenden Christus. Überraschend allerdings ist, dass in einer Gruppe jüdischer Studenten, mit denen ich diese Texte einmal diskutierte, ebenfalls viele dachten, sie bezögen sich auf Jesus. Das heißt, sie sahen diese Texte in einem christlichen Kontext, ohne zu merken, dass sie aus ihrer eigenen hebräischen Bibel stammten. Es ist unwahrscheinlich, dass sie so gedacht hätten, wenn sie in der Lage gewesen wären, sie in Hebräisch zu studieren, aber für viele Englisch sprechende Juden wurden die King James Bibel und andere christliche Interpretationen zu »der Bibel«. Sie leben in einer Gesellschaft, in der die christlichen Interpretationen dieser Texte deutlich besser bekannt sind als die rabbinischen Kommentare.

Es ist lehrreich, sich diese Texte und ihre Bedeutungen genauer anzuschauen. Der Leser wird nicht überrascht sein, dass jüdische und christliche Traditionen diese Texte unterschiedlich interpretierten, denn das vermutet man ohnehin. Doch die verschiedenen Erklärungen werfen zwangsläufig die Frage auf, wie wörtlich ein solcher Bibeltext verstanden werden soll. Welche Vorstellung der hebräischen Prophetie hatten die Rabbinen, welche die Verfasser der Evangelien, als sie diese und andere Zitate aus der Schrift benutzten?

Die hebräischen Propheten übten Kritik an der Situation ihrer jeweiligen Zeit. Auch heute bezeichnen wir jemanden, der die Aufmerksamkeit auf die Wunden und Ungerechtigkeiten der Gesellschaft lenkt, als »prophetische Stimme«. Die biblischen Propheten verkündeten, dass keine Ungerechtigkeit ohne Konsequenzen bleiben werde. Dabei sagten sie auch Dinge vorher, nicht weil sie diese wirklich voraussagen konnten, sondern weil es ihrer Überzeugung entsprach: Gott werde sein Volk die Konsequenzen spüren lassen, wenn es fortfahre, ungerecht zu handeln, auch wenn er diese Reaktion hinauszögert. Der Begriff »Prophet« ist jedoch irreführend. Er kommt von dem griechischen Wort profhths (prophetes), welches bedeutet: »einer, der im voraus spricht«. Demgegenüber ist der hebräische Begriff nawi von der Wurzel nun wet alef, die vermutlich meint »einen Ton von sich geben; rufen«. Der Begriff bezieht sich entweder auf die Rede des Propheten zu seinem Volk oder zu Gott oder auf die ekstatische Musik, die seine Verkündigung begleitete. Er hat nichts mit einer Vorhersage der Zukunft zu tun.

Die prophetischen Schriften wurden allerdings später sowohl von der Synagoge als auch von der Kirche anders benutzt. Will man einen besonderen Aspekt eines Textes oder einer Auseinandersetzung betonen, kann ein Schriftzitat nützlich sein, um das Argument zu stützten oder die Diskussion anzuregen. Wenn die Rabbinen und die Evangelien Zitate verwenden, haben sie oft nicht nur die zitierten Worte im Sinn, sondern den gesamten Zusammenhang. Die Verwendung eines Zitates dient in Reden und Texten oft der Anspielung auf eine bestimmte Geschichte oder Situation. Die Autoren versuchen, ihrer mit der Schrift vertrauten Hörerschaft so einen Hintergrund und einen Zusammenhang ihres Textes zu vermitteln. Sie erlauben sich, zusammenhanglos zu zitieren, weil sie wissen, dass der Hörer oder Leser den Zusammenhang ergänzen wird. Sie fordern uns zum Nachdenken auf, woher das Zitat stammt, in welcher Zeit es entstand und welche Bedeutung es damals hatte.

Eine Jungfrau soll schwanger werden

Jesaja 7,14:
Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel (d.h. Gott mit uns) (Jes. 7,14).

Die Übersetzung »Jungfrau« stammt von dem griechischen parqenoz (partenos). Dieses Wort findet sich in der jüdischen griechischen Übersetzung, der so genannten »Septuaginta« aus dem 3. Jh. v.d.Z. Das hebräische Wort ist alma und bedeutet »junge Frau«. Christliche Interpreten deuteten den Begriff traditionell als »Jungfrau«. Rabbinische Kommentatoren haben wiederholt und nachdrücklich widersprochen. So erklärte Rabbi David Kimchi (Radak): »Alma bedeutet >junge Frau, Weib<, nicht >Jungfrau«<. An anderen Stellen entschieden sich die Rabbinen jedoch, alma als »Jungfrau« zu verstehen, zum Beispiel in Schir ha-Schirim 1,3: al ken alamot ahewucha »Deshalb lieben dich die Jungfrauen«. Raschi kommentierte diesen Vers: »Alamot (junge Frauen) bedeutet betulot (Jungfrauen).« Warum also galt diese Interpretation nicht auch bei Jesaja? Weil dort eindeutig eine polemische Absicht vorlag. Christliche Ausleger hatten sich die eine Sichtweise zu Eigen gemacht, daher übernahmen Juden die andere. Die jüdischen Verfasser der Septuaginta hatten das hebräische alma mit einem griechischen Wort übersetzt, das »Jungfrau« bedeutet, aber gleichzeitig auch »junge Frau« heißt, wie das hebräische Wort. Es gibt im Griechischen kein exaktes Äquivalent für das hebräische alma, daher wurde dasjenige Wort gewählt, das dem Hebräischen am nächsten kam. Die Septuaginta-Übersetzung ist jedoch ein vorchristlicher Text, aus dem 3.Jh. v.Z.. Seit der Zeit der „Trennung der Wege“ konnten die Rabbinen eine solche Übersetzung nicht mehr akzeptieren. Die gesamte Septuaginta wurde nun verworfen, weil sie von der Kirche übernommen worden war. Obwohl also das Wort alma eindeutig »junge Frau« bedeutet, nicht »Jungfrau«, konnten die Rabbinen es im Midrasch als »Jungfrau« verstehen, wenn sie es wollten. Die Tatsache, dass sie dies nicht bei der Jesajastelle taten, liegt eindeutig daran, dass das Christentum diese Interpretation gewählt hatte. Dieser Fall ist beispielhaft für die bewusst unterschiedliche Auslegung eines Textes durch die rabbinische und die christliche Tradition aufgrund ihrer Feindschaft. Eine andere umstrittene Übersetzung in Jesaja 7,14 betrifft das Wort hara, das einige christliche Übersetzungen, etwa die Einheitsübersetzung [vgl. die englische Kinglames Version], mit »wird empfangen« wiedergeben. Die rabbinischen Kommentatoren wiesen darauf hin, dass das Verb in der Vergangenheitsform steht und daher »hat empfangen« bedeuten muss. Im Zuge des jüdisch-christ lichen Dialogs entstanden [in Großbritannien] genauere Übersetzungen. Die New Revised Standard Version lautet nun: »Siehe, die junge Frau ist schwanger und wird einen Sohn gebären und ihn >Immanuel< nennen.« Eine Fußnote enthält die Information, dass der griechische Text »Jungfrau« laute.

Der Zusammenhang des Jesajaverses ist folgender: König Ahas von Juda wird durch ein Bündnis des Königs Rezin von Aram (in Syrien) und des Königs Pekach aus dem Nordreich Israel bedroht. Der Ewige spricht zu Ahas und fragt ihn, ob er ein Zeichen haben wolle über das, was geschehen wird, doch Ahas lehnt dies ab. Daher meldet der Prophet dem König, der Ewige werde ihm ungefragt ein Zeichen geben: Ein Junge werde geboren werden, und bevor er alt genug sei, um den Unterschied zwischen Gut und Böse zu kennen, würden die beiden Könige und ihre Reiche, die ihn nun bedrohen, angesichts der gewaltigen Macht der Assyrer gering sein (Vers 16).

Doch Christen assoziieren zunächst den Zusammenhang mit dem Text in Matthäus 1,22—23, der die Geburt Jesu beschreibt:

Das ist aber alles geschehen, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht (Jesaja 7,14): »Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben«, das heißt übersetzt: »Gott mit uns«.

Matthäus‘ Verwendung des Zitats ist allerdings subtiler, als es auf Anhieb scheint. Oberflächlich betrachtet stellt Matthäus lediglich fest, dass Jesaja die Geburt Jesu bereits vorhergesagt habe, einschließlich des Wunders der jungfräulichen Empfängnis. Matthäus kannte Jesaja nur in der Septuaginta Fassung mit ihrer Verwendung des Wortes partenos. Doch vermutlich hatte er nicht nur das Wunder von Marias Empfängnis im Sinn, sondern auch den Zusammenhang des Jesajatextes. Ahas sucht Verbündete, die ihn im Kampf gegen seine beiden Feinde unterstützen. Jesaja sagt, er solle dafür nicht nach Assyrien schauen, sondern zu einem Kind, das geboren werde. Es wäre unsinnig, käme das Kind in einer weit entfernten Zukunft zur Welt. Eher liefert der Jesajatext ein Beispiel für einen kindlichen Retter, dessen Geburt ein Zeichen Gottes darstellt. So wie ein kleines Kind wehrlos ist und seinen Eltern vertrauen muss, so darf Ahas sein Vertrauen nicht auf Waffen setzen, sondern auf Gott. Matthäus formuliert eine ähnliche Botschaft für seine eigene Zeit, in der sich die Menschen durch Rom bedroht fühlten: Nicht durch Armeen werdet ihr Rettung finden, sondern durch ein unschuldiges Kind.

Es wird oft darauf hingewiesen, dass die Geschichte der Jungfrauengeburt im Matthäusevangelium seltsamerweise nach einer Genealogie erzählt wird, derzufolge Jesus durch Josef ein direkter Nachfahre König Davids ist. Diese wäre sinnlos, wenn Josef nicht der Vater ist. Matthäus versucht also zwischen einem menschlichen und einem göttlichen Elternteil zu unterscheiden. Das Zitat aus Jesaja hilft ihm, das Neue auszudrücken und die Vorstellung einer Göttlichkeit Jesu zu entwickeln. In den älteren christlichen Schriften von Paulus ist diese Vorstellung noch nicht ausgeformt, doch bei Matthäus werden Jesus Attribute zugeschrieben, die sich in der rabbinischen Tradition mit Gott verbinden. Matthäus sucht deshalb in seiner Geburtsgeschichte ein Bild für die Einheit von Mensch und Gott, die man nun von Jesus annahm und zeigt dadurch, dass der eine Elternteil menschlich, der andere göttlich war. Sogar seine Verwendung des Begriffes »erfüllen« in 1,22 ist subtiler als es auf den ersten Blick scheint; er bedeutet nicht, dass Jesaja nicht vorrangig zu seiner eigenen Generation sprach. In Justins Dialog mit Tryphon, der Auseinandersetzung zwischen einem Juden und einem Christen aus dem 2.Jh., verweist unser Text auf den zukünftigen König Hiskia. Die gebräuchlichste Erklärung des Jesajatextes besagt, dass Alma Jesajas eigene Frau war, die den Rabbanim zufolge zu jener Zeit schwanger war. Der Prophet berichte von dem Baby, das sie erwartete. Die Rabbanim vermieden es gründlich den Text auf ein Ereignis in ferner Zukunft zu beziehen. Das lag teilweise an seinem Kontext, vor allem aber daran, dass der Text so im Matthäusevangelium gedeutet wurde. Die mittelalterlichen rabbinischen Kommentatoren benutzten viele der von den Christen aufgegriffenen Texte absichtlich nicht im Sinne eines Midrasch. Als Reaktion auf die christlichen Interpretationen stellten sie vielmehr den einfachen Wortsinn des Textes heraus, der sich auf die Zeit des Propheten bezog.

Ironischerweise folgt Matthäus‘ Interpretation des Jesajaverses der Methode, die in der rabbinischen Literatur der folgenden Jahrhunderte am häufigsten angewendet wurde. Die Literatur, die man als Midrasch kennt, greift häufig einen Vers aus seinem Kontext heraus und bezieht ihn auf eine neue Situation. Unter dem Deckmantel einer Verunglimpfüng des Charakters von Esau kritisierten die Rabbinen beispielsweise die römische Regierung oder später die christlichen Herrscher. Und viele prophetische Verse wurden auf Ereignisse in der jeweiligen Zeit des Schreibers bezogen. Diese Technik könnte aus der so genannten pseudepigraphen Literatur des 1. Jahrhunderts stammen. Ihre Verfasser spielten indirekt auf zeitgenössische Ereignisse an, indem sie diese in die Vergangenheit zurückdatierten. Matthäus geht den umgekehrten Weg, indem er Ereignisse aus der Vergangenheit in die Gegenwart überträgt. Die Rabbinen entwickelten diese Technik weiter und folgten damit unbewusst christlichen Vorbildern; die Methode wurde unabhängig voneinander in der christlichen und rabbinischen Literatur entwickelt und später in jüdisch-christlichen Auseinandersetzungen angewendet. Schon im 2. Jahrhundert d.Z. begegnet uns in Justins Dialog mit Tryphon ein Jude und ein Christ, die heftig miteinander über die Bedeutung der Bibel streiten und darüber, auf welche Situationen die Texte bezogen werden müssen.

Ein Sohn ist uns gegeben

Jesaja 9,5: Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter (Jes. 9,5).

Dieser Text ist vielen durch Händels Oratorium Der Messias bekannt. Anders als der eben behandelte Jesajatext, der in der Synagoge nicht gelesen wird, ist dieser Text ein Teil der Haftara Jitro, also des Prophetentextes, der auf den Abschnitt des Buches Exodus folgt und die Offenbarung am Sinai und die Gabe der Zehn Gebote beschreibt. Was würden Juden denken, die diesen Text heute in der Synagoge hören? Vielleicht wären einige überrascht, ihn zu hören und würden erstaunt feststellen, dass er aus Jesaja stammt und nicht aus dem Neuen Testament. Vielleicht würden sie dann verwirrt die rabbinischen Kommentare konsultieren, vermutlich einen Chumasch, d.h. eine Bibel mit hebräischem Text, einer Übersetzung in die Landessprache und einer Auswahl verschiedener Kommentare. Über unseren Text würden sie dann herausfinden, dass sich auch dieser Text auf den zukünftigen König Hiskia bezieht. Zur Zeit der Prophetien Jesajas war er ein junger Mann und lebte im Herrschaftsgebiet des Königs Ahas. Ahas regierte Juda von 735—715 v.d.Z. Hiskia war das Kind, das sein Nachfolger werden und den hebräischen Glauben in der Tradition von Davids ewigem Königtum erneuern würde.

Dieser Text wird in der Geburtsgeschichte des Lukasevangeliums zitiert. Das Markusevangelium, das älteste Evangelium, beginnt mit Jesu Erwachsenenleben. Matthäus ergänzt einiges über seinen Hintergrund und Lukas noch mehr. Zweifellos waren die ersten christlichen Gemeinden begierig auf Geschichten über die Kindheit Jesu. Lukas berichtet viele Einzelheiten. Er will mit seinem Bericht über Jesu Kindheit dessen Persönlichkeit sowie seine Aufgabe und Mission während seines Erwachsenenlebens und später darstellen. Viele andere Versuche solcher Midraschim wurden später von den ersten Christen zurückgewiesen. Die Geschichten, die als Teil der christlichen Bibel akzeptiert wurden, ergehen sich nicht in phantasievollen Höhenflügen, sondern versuchen, den Menschen Jesus mit seiner Mission in der Welt in Beziehung zu setzen und sein Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft zu definieren. Lukas‘ Kindheitsgeschichten sind ein Prototyp dafür, wie Jesu Kreuzigung und Auferstehung und sein Weiterleben in der Kirche zu verstehen sind.

Im folgenden Midrasch setzten die Rabbinen des Talmud diesen Jesaja Abschnitt ebenfalls mit der Vorstellung des Kommen des Messias in Bezug:

Groß ist die Herrschaft und der Friede ohne Ende, etc. Rabbi Tanchum sagte: Bar Kappara trug hierüber in Sepphoris vor: Weshalb ist das Mem in der Mitte eines Wortes überall offen, dieses aber geschlossen? Der Heilige, gepriesen sei er, wollte Hiskia zum Messias und Sanherib zu Gog und Magog machen, da sprach die Eigenschaft der Gerechtigkeit vor dem Heiligen, gepriesen sei er: Herr der Welt, wenn du David, den König von Israel, der viele Lieder und Lobgesänge vor dir angestimmt hat, nicht zum Messias gemacht hast, wie willst du nun Hiskia, dem du all diese Wundertaten erwiesen hast, ohne dass er vor dir ein Lied angestimmt hätte, zum Messias machen!? Daher blieb es geschlossen.

Die Rabbinen stellen hier ausdrücklich fest, dass es in diesem Text nicht um den Messias gehe. Die Argumentation ist seltsam und gründet sich auf die merkwürdige Schreibweise des Wortes le-marbah im Hebräischen. In der Mitte dieses Wortes wird eine Form des Buchstabens î mem verwendet, die sonst nur am Ende eines Wortes benutzt wird. Diese Form sieht aus wie ein Quadrat: í. Dies zeige, so der Midrasch, dass Gott eine Möglichkeit »ausgeschlossen« habe. Welche Möglichkeit war gemeint? Die Möglichkeit, dass König Hiskia der Messias sei, denn in entscheidenden Aspekten war er König David unterlegen. Dieser Midrasch enthält eine Personifizierung des Midat haDin, d.h. Gottes Eigenschaft der strengen Gerechtigkeit. In vielen solcher Geschichten verhandelt die Eigenschaft der Gerechtigkeit mit der Eigenschaft der Barmherzigkeit über die Rettung oder Verurteilung eines Menschen.

Gog und Magog sind zwei feindliche Heerführer, die in Ezechiel 38 und 39 erwähnt werden. Ezechiel hatte die Vision, eine Horde wilder Krieger aus dem Norden, angeführt von Gog aus dem Land Magog, dringe in Israel ein. Die Rabbinen glaubten, dass die Kriege von »Gog und Magog« der Ankunft des Messias unmittelbar vorausgingen. Sanherib war ein assyrischer König von 704—681 v.d.Z. Sein Versuch, Jerusalem im Jahre 701 v.d.Z. einzunehmen, endete mit einer Niederlage.

Matthäus behauptet, Jesus sei gekommen, um »einen Text zu erfüllen«. Bar Kappara meint nun, dass dieser Text sich keineswegs erfüllt habe. Die Schlussfolgerungen differieren, aber die Auslegungsmethode der rabbinischen und christlichen Schreiber ist auffallend ähnlich. Die Polemik erforderte eine gemeinsame Methode, eine gemeinsame Sprache des Diskurses. Die Rabbinen vermieden Auslegungen, die von den Evangelisten benutzt wurden, wandten aber ähnliche Methoden an, um die Schrift auszulegen.

Jesaja und das Bild vom leidenden G’ttesknecht

„Fürwahr er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmer zen… Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen“ (Jes. 53,4f).

Im zweiten Teil des Jesajabuches geht es in erster Linie um die Wiederherstellung Israels. Er enthält vier für sich stehende Abschnitte, die auch oft als »Gottesknechtlieder« bezeichnet werden. Im letzten dieser vier Textabschnitte (Jesaja 52,13—53,12) erscheint der Knecht als ein von Schmerzen gequälter Mann. Er ist unschuldig, doch er sühnt durch sein Leiden die Sünden seiner Mitmenschen. Aus diesem Grund wird er als »der leidende Gottesknecht« bezeichnet.

Der erste Teil dieses Jesajatextes wird im Matthäusevangelium zitiert. Das Matthäusevangelium ist präzise und sorgfältig konstruiert, vor allem der Teil, der allmählich zur Beschreibung der Kreuzigung führt. Matthäus 8,16—17 beginnt mit folgendem Zitat:

Am Abend brachte man viele Besessene zu ihm. Er trieb mit seinem Wort die Geister aus und heilte alle Kranken. Dadurch sollte sich erfüllen, was durch den Propheten Jesaja gesagt worden ist: Er hat unsere Leiden auf sich genommen und unsere Krankheiten getragen.

Das Jesajazitat wirkt in seinem unmittelbaren Zusammenhang seltsam unpassend. In den Erzählungen über Jesu Heilungen gibt es keinen Hinweis darauf, dass er die Krankheiten auf sich selbst nahm. Matthäus denkt hier eindeutig an die anschließende Erzählung über die Kreuzigung.

Das Targum Jonathan, das vermutlich aus dem 3. oder 4. Jahrhundert d. Z. stammt, identifiziert den Gottesknecht mit dem Messias. Christopher North schreibt in seiner wertvollen Analyse der jüdischen und christlichen Auslegungen der Gottesknechtlieder des Jesajabuchs, dass sich das Targum auf frühere Traditionen gründen müsse. Denn Juden hätten wohl kaum angefangen, diesen Abschnitt auf den Messias zu beziehen, jedenfalls nicht so qualifiziert wie das Targum, nachdem Christen ihn bereits auf Christus bezogen hatten. Wie die Analyse der vorherigen Bibeltexte zeigt, trifft Norths Argument für die Zeit der großen mittelalterlichen Kommentatoren zu, nicht aber für die Zeit des Talmud. Alan Segal wies überzeugend nach, dass Apostelgeschichte 8,32ff der älteste Text ist, der den Gottesknecht mit dem »Messias« identifiziert. Das war neu in der christlichen Auslegung, und die Rabbinen schlossen sich ihr später an. Die Messiasvorstellungen im Talmud sind stark von den Auseinandersetzungen mit den Christen geprägt, wobei die Rabbinen behaupteten, der Messias sei noch nicht gekommen. North selbst verweist auf andere Texte in Midrasch und Talmud, die messianische Deutungen liefern, darunter zum Beispiel der folgende:

Wie heißt er [der Messias]? — In der Schule Rabbi Schilas sagten sie, er heiße »Schilo«, denn es heißt: »bis Schilo kommt« (Gen. 49,10).
Rabbi Jannai sagte, er heiße »Jinon«, denn es heißt: »Im Angesicht der Sonne wird sein Name sprossen [jinon] (Ps. 72,17).
In der Schule Rabbi Chaninas sagten sie, er heiße »Chanina«, denn es heißt: »Ich werde euch kein Erbarmen [chanina] schenken« (Jer. 16,13).
Manche sagen, er heiße »Menachem« (Sohn Hiskijas), denn es heißt: »denn fern ist mir der Tröster [menachem], der mein Herz erquickte« (Klgl. 1,16).
Die Rabbanan sagten, er heiße »der Aussätzige des Lehrhauses«, denn es heißt: »unsere Krankheiten hat er getragen und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen; wir aber hielten ihn für von Gott gestraft, geschlagen und geplagt« (Jes. 53,4).

In diesem Midrasch werden die verschiedenen Namen durch Wortspiele mit den zitierten Texten begründet und sind vermutlich nicht ernst zu nehmen. Der Schilo-Text war häufig Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Juden und Christen. Ephraim Urbach schreibt in seiner Arbeit The Sages, einer hervorragenden modernen Darstellung des rabbinischen Denkens:

Während sich solche Texte in den christlichen Quellen auf die Lebenszeit eines Messias beziehen, der bereits lebte und starb, beziehen sich die Anspielungen in den rabbinischen Homilien auf einen Messias, dessen Kommen noch ausstand. Als Christen im 2. Jahrhundert ihrerseits begannen, von einer Verzögerung der Wiederkunft zu reden, verloren die Zeichen und Hinweise, die für die erste Ankunft des Messias sorgsam gedeutet werden sollten, unvermeidlich ihre Bedeutung.

Urbach vermutet, die späteren Rabbinen hätten bedenkenlos Texte wie diesen über den leidenden Gottesknecht benutzt, trotz der Bedeutung, die ihnen von den Christen beigelegt worden war. Als der Zyklus der Synagogenlesungen im 6. oder 7.Jahrhundert festgelegt wurde, ließ man die Texte über den leidenden Gottesknecht jedoch aus, vermutlich aufgrund ihrer Verbindung mit dem Christentum. Im gegenwärtigen Zeitalter des jüdisch-christlichen Dialogs haben die Reform Synagogues of Great Britain diesen Text nun wieder zurück in die Liturgie gebracht. Er befindet sich unter den Gebeten für Jom Kippur, wo er mit den Worten eingeführt wird: »Wir erinnern uns an den unbekannten Gottesknecht, dessen Schicksal an das Schicksal unseres Volkes erinnert.«

Dies ist die geläufigste rabbinische Deutung dieses Textes: »Er«, der leidende Knecht, ist ein Mitglied des Volkes Israel, und die Wendung »unsere Missetaten« bezieht sich ebenfalls auf das Volk Israel. »Er«, der Gerechte, leidet an »unseren Übertretungen«, den Sünden des Restes von uns. Gottes unschuldiger Knecht leidet mit den Schuldigen.

Jesaja zeigt in diesem Text deutlich, dass er die Geschichte im Buch Genesis über die Zerstörung von Sodom und Gomorra kennt und über Abraham, der fragte: »Wirst du wohl den Gerechten mit dem Bösewicht hinrichten?« (Gen. 18,23). Die kollektive Deutung des Textes war bei den jüdischen Auslegern seit Raschi üblich, obwohl sie, wie North feststellt, früher weniger verbreitet war als die messianischen Deutungen: »Juden gaben die messianische Deutung zugunsten der kollektiven auf als Mittel der Verteidigung gegen die Christen.« Einige mittelalterliche Kommentatoren, zum Beispiel Ibn Esra und Radak, verweisen in ihren Ausführungen ausdrücklich auf die christliche messianische Deutung.

Joel Rembaum beobachtete dreierlei Reaktionen jüdischer Kommentatoren auf diese christliche Behauptungen. Die Vermeidung der christlichen messianischen Deutung war nur eine dieser Möglichkeiten. Die christliche Verkündigung sah im Exil der Juden einen Beweis dafür, dass Gott sein Volk verworfen hatte. Die kollektive Deutung betonte, dass Juden selbst im Exil »ein Licht der Völker« gewesen seien. Schließlich war Jesaja 53 hilfreich, um nach den Massakern des ersten Kreuzzugs 1096 eine Märtyrertheologie zu entwickeln. Obwohl das Volk leide, erwarte es am Ende die Rettung. Diese zu letzt genannte Vorstellung prägte vor allem Raschi, der die Massaker von 1096 erlebte. Sein Kommentar zu unserem Text ist bemerkenswert:

Er litt, damit jede Nation in den Leiden Israels Sühne finden kann: die Krankheit, die uns treffen sollte, hat er getragen. Wir dachten, er sei von Gott gehasst, doch dem war nicht so. Er wurde wegen unserer Übertretungen verwundet, er wurde wegen unserer Missetaten geschlagen… Er wurde gezüchtigt, damit die ganze Welt Frieden hat.

Raschis neue Lehre über ein stellvertretendes Leiden muss aus christlichen Quellen stammen. Doch er kehrt die Argumente seiner Gegner um, indem er die christliche Lehre auf die Leiden Israels bezieht. Nicht der Tod Christi, sondern die Leiden Israels werden die Welt retten, indem Israel für die Sünden der Kirche sühnt. Man ist oft davon ausgegangen, dass Raschi hier an Anselm von Canterbury (1033—1109) gedacht haben könnte. Doch man braucht hier keinen bestimmten Gegner benennen, da Raschi sich einer allgemeinen christlichen Theologie entgegenstellt.

Raschis Vorstellung, dass Israel für die Sünden der Völker leidet, prägte die jüdischen Kommentatoren. Rembaum führt 31 spätere jüdische Auslegungen zu diesem Text an, von denen 14 diese Thematik aufgreifen. Alle scheinen sich bewusst gewesen zu sein, dass eine solche Deutung sich direkt gegen die christliche Leidensideologie richtet.

Mit dem Aufkommen der modernen Bibelwissenschaft im 18. Jahrhundert, gaben auch christliche Ausleger die messianische Deutung dieses Jesajatextes zugunsten einer ähnlichen kollektiven Deutung auf. Der Knecht galt nun als Teil des Volkes Israel, oder als idealisiertes Israel. Diese Interpretation fand nach 1892 zunehmend Verbreitung. Damals kam die These auf, die Gottesknechtslieder seien eine ursprünglich eigenständige Komposition gewesen, die in Deuterojesaja eingefügt wurde.

Die kollektive Deutung der mittelalterlichen Rabbinen beeinflusste auch die modernen Auslegungen des Matthäustextes. Die Vorstellung, dass ein Individuum das Leid eines ganzen Volkes symbolhaft zum Ausdruck bringt, entsprach dem, was Christen von Jesus glaubten. Und so schien jeder Text der hebräischen Tradition, in der Leiden oder gar Tod als Teil eines positiven Verhältnisses zwischen Gott und seinem Volk gedeutet werden konnte, unmittelbar diesem neuen Glauben zu entsprechen, zunächst als Trost und darin als Schritt zu einer neuen Theologie. Matthäus‘ Gemeinde erwog ernstlich, ob das, was wie eine Katastrophe aussah, ein neuer Anfang sein könnte. So betrachtet, scheint Matthäus‘ Verwendung des »leidenden Gottesknechts« der kollektiven rabbinischen Deutung ähnlich zu sein. Wie viele der rabbinischen Kommentatoren bezieht diese moderne Lesart von Matthäus die Gefangenschaft des Knechts unmittelbar auf die Zeit des Verfassers. Der Text wird »erfüllt« durch Matthäus‘ eigenen Glauben sowie die Erfahrung seiner christlichen Gemeinde.

Schlussfolgerungen

Diese Beispiele für die Benutzung von Jesajatexten bei den Rabbinen und in den Evangelien werfen den gesamten Fragenkomplex nach der »Richtigkeit« eines Textverständnisses auf. Die Theologen beider Religionen konnten die Belegstellen offensichtlich sehr flexibel verwenden. Ein Text hat in seinem historischen Kontext eine bestimmte Bedeutung, ebenso aber auch innerhalb eines Regelsystems, das unser Verhalten bestimmen will, und dann kann er auf vielfältige Weise herangezogen werden, um neue historische Kontexte zu beleuchten.
Die Rabbinen sahen sich in der Lage, die Texte in sehr unterschiedlicher Weise als rhetorische Mittel zu benutzen. Sie lebten in der Welt der Bibel. Die Bibeltexte boten ihnen zugleich auch das Material für spontane Witze oder zur Vorhersage des Weltenendes.
Die Verfasser der Evangelien nahmen offenbar eine einheitlichere Haltung zu den hebräischen Schriften ein. Sie stellten fest, Jesus sei gekommen, um »zu erfüllen«, was die Propheten gesagt hatten. Diese einseitigere Sichtweise liegt an der Bedeutung der Auferstehungserfahrung für Christen. Die Texte der Propheten standen im Eindruck dieser Erfahrung.

Eine wichtige Geschichte für das Verständnis dieser christlichen Position findet sich in Lukas 24,13—49. Dort erscheint Jesus seinen Jüngern auf dem Weg nach Emmaus und »öffnet ihnen die Augen für das Verständnis der Schrift« (Vers 45). Dies ist nicht unbedingt wörtlich zu verstehen. In ihrer unmittelbaren Reaktion empfanden sie Jesu Tod als unvorhergesehene und totale Katastrophe. Alles, was sich seine Nachfolger erhofft hatten, war zusammengebrochen. Nachdem sich der Schock jedoch gelegt hatte, spürten die Jünger, dass etwas zurückgeblieben war, aus dem sie neue Hoffnung schöpfen konnten. Nach Phasen des Ringens, der Erleuchtung und der Offenbarung kamen sie zu dem Schluss, dass das, was wie eine Katastrophe ausgesehen hatte, eine Bedeutung für ihr Leben besaß. Die Evangelien weisen auf diese Erfahrung im Leben der ersten Christen hin. Innerhalb der entstehenden Kirche entwickelte sich eine Autoritätsstruktur, die sich darauf gründet, dass einige mehr als andere wissen. Das könnte Lukas gemeint haben, als er sagte, Jesus habe seinen Jüngern die Geheimnisse der Schrift erklärt.

Aufgrund der Dominanz, die das Christentum in der Weltgeschichte ein genommen hat, sind weite Bereiche unserer Gesellschaft von christlichen Texten und christlichen Deutungen geprägt. Selbst jüdische Gemeinden sind von christlichen Deutungen beeinflusst. Der Dialog ist nichts Neues, wie wir sehen werden. Heute spiegelt die Einstellung zu einem Text die Haltung zum interreligiösen Dialog wider. Sind diejenigen, die anders denken als wir, grundsätzlich im Irrtum, oder können ihre Ansichten und Deutungen gleichermaßen wahr sein? Vielleicht ist es an der Zeit, gründlicher in die Texte anderer Religionen zu schauen und im gemeinsamen Studium unser Verständnis zu erweitern. Vielleicht ist es an der Zeit, diejenigen in unseren Gemeinden in Frage zu stellen, die einem Text nur eine einzige zeitgemäße Deutung zugestehen. Denn in Wirklichkeit gibt es zahlreiche sinnvolle Möglichkeiten, aus alten Texten eine Botschaft für die Gegenwart zu lesen.

Aus: Wie es sich christelt, so jüdelt es sich. 2000 Jahre christlicher Einfluss auf das jüdische Leben, Jüdische Verlagsanstalt Berlin 2000.