Die Geschichte von Judit, die ihr Volk vor einem aussichtslosen Krieg rettet, indem sie den schlafenden Feldherrn enthauptet, wird in der griechischen und lateinischen Bibel überliefert, nicht aber in der hebräischen Bibel.
In Hebräisch sind kurze und lange Judit-Geschichten zu finden, die aber alle aus nachbiblischer Zeit stammen. Die kurzen Judit-Geschichten erzählen entweder von einer schönen und reichen Witwe oder von einer Braut, die durch das ius primae noctis, das Recht des Landesherren, die erste Nacht mit einer Braut zu verbringen, gefährdet ist.
Die Erzählungen über die Braut, die sich gegen ihr Schicksal auflehnt und erreicht, dass der Landesherr getötet wird, bevor er sich ihr nähern kann, weisen auf eine Verbindung mit dem Chanukka-Fest als Fest der Frauen.
Der Talmud (Schab 23a) hält fest: „Frauen sind zum Chanukka-Licht verpflichtet, da auch sie in dieses Wunder eingeschlossen sind.“ Um welches Wunder es sich handelt, wird nicht im Talmud, wohl aber in den hebräischen Judit-Geschichten auf je unterschiedliche Weise beschrieben.
Von Dagmar Börner-Klein
Aus dem Buch Gefährdete Braut und schöne Witwe. Hebräische Judit-Geschichten
Es geschah, dass ein König mit 40.000 Helden gegen Jerusalem kam und es viele Tage bedrängte. Und die Israeliten wurden eingeengt in Drangsal und Enge, und sie waren in großer Not.
Es gab aber in Jerusalem eine junge Frau von den Töchtern der Propheten. Und als sie sah, dass die Zerknirschung groß und die Bedrängnis stark war, nahm sie ihr Herz in die Hand und ging mit ihrer Dienerin hinaus und gelangte bis zum Stadttor.
Und sie sprach zu den Wächtern: „öffnet die Tore [, damit ich hinausgehen kann]. Vielleicht wirkt JHWH mit mir [ein Wunder,] wie alle seine Wunder und seine Gunsterweise, so dass ich diesen Ungläubigen töten kann, und [dann] wird er Israel durch meine Hand erretten.“
Sie aber sprachen zu ihr: „Wir öffnen nicht, da wir fürchten, dass du vielleicht einen von den Reitern des Königs [so] liebst, dass du dich mit ihm zu verheiraten [gedenkst], oder vielleicht sind [es] Heimtücken gegen diese Stadt, damit sie eingenommen werden kann.“
Sie sagte zu ihnen: „Gott behüte! Vielmehr vertraue ich auf die Barmherzigkeit des Himmels, dass man mir gegen diesen Feind hilft.“ Und sie schwor es ihnen bei JHWH, dem Gott Israels. Da öffneten sie die Tore und sie ging mit ihrer Dienerin hinaus.
Und sie ging bis zum Lager des Königs und trat vor ihn. Die junge Frau aber war überaus schön. Und als der König sie sah, fand sie Gunst in seinen Augen, ja, sie fand Gunst und Gnade vor ihm.
Da fragte der König sie: „Wer bist du, meine Tochter? Woher bist du gekommen und wohin willst du gehen?“
Und sie antwortete ihm: „Ich bin eine von den Töchtern der Propheten, und ich hörte von meinem Vater, dass du die Stadt belagern und sie erobern wirst. Da bin ich gekommen, um für mein Leben zu bitten und um das Leben meines Vaterhauses zu retten, wenn du die Stadt einnimmst.“
Da sagte der König zu ihr: „Ich werde nach deinen Worten handeln. Und ich will dich mir zur Frau nehmen.“
Sie sagte zu ihm: „Mein Herr König, hier bin ich wie eine deiner Dienerinnen, tue, wie es in deinen Augen gut ist. Aber, mein Herr König, ich lasse dich wissen, dass ich unrein bin, und [erst] zum Abend für ein Tauchbad geeignet bin. Befiehl daher deinen Dienern: Wenn sie am Abend zwei Frauen sehen, die zur Quelle gehen, sollen sie uns nicht anrühren und weder im Guten noch im Bösen mit uns sprechen. Ich aber werde gehen, um ein Tauchbad zu nehmen, und ich werde zu dir zurückkehren.“ Da befahl der König, so zu verfahren.
Der König freute sich sehr über die junge Frau und die gute Botschaft, und er versammelte alle seine Fürsten und seine Diener und bereitete für sie ein Trinkgelage. Und er trank vom Wein und wurde betrunken, er legte sich nieder und schlief ein.
Da ging ein jeder zu seinem Zelt, niemand außer der jungen Frau und deren Dienerin blieb beim König.
Da richtete die junge Frau ihr Herz zum Himmel. Und sie stand auf, zog das Schwert, schlug das Haupt des Königs ab und legte sein Haupt in ihr Obergewand.
Und die beiden gingen und durchquerten das Lager, und niemand sprach sie an, bis sie das Tor von Jerusalem erreicht hatten.
Und sie rief die Wächter und sprach zu ihnen: „Öffnet das Tor, denn der Heilige, gepriesen sei er, half mir, sodass ich den Feind erschlagen konnte.“ Sie aber glaubten ihren Worten nicht.
Der König aber hatte einen Fürsten unter seinen Fürsten, der dem König zu sagen pflegte: „Wende dich ab von diesem Volk, befeinde sie nicht und befehde sie nicht, denn ihr Gott liebt sie und wird sie nicht in deine Hände überliefern. Siehe, was er denen getan hat, [die] vor dir Könige und Fürsten waren, was ihr Ende war.“
Und er hatte dem König Vorwürfe gemacht, bis der König zornig geworden war und befohlen hatte, ihn zu binden und ihn lebendig beim Stadttor aufzuhängen.
Und als die junge Frau sah, dass sie ihren Worten nicht glaubten, sagte sie: „Wenn ihr mir nicht glaubt, siehe, der Fürst, der beim Tor hängt, wird das Haupt des Königs erkennen.“
Da glaubten sie ihren Worten und öffneten das Tor. Und sie zeigte das Haupt dem aufgehängten Fürsten. Und er erkannte es und sprach: „Gepriesen sei JHWH, der ihn in eure Hand überliefert und euch aus seiner Hand errettet hat. „
Und die Sache wurde in der Stadt gehört, sodass sich alle jungen Männer Israels und die Helden versammelten. Sie nahmen ihre Schwerter in ihre Hand, zogen hinaus bis zum Lager und riefen mit lauter Stimme:
„Höre Israel, JHWH ist unser Gott, JHWH ist einzig!“
Und [als] die Männer des Königs sie erblickten, gingen sie zum Zelt des Königs und sahen, dass ihr Held tot war.
Da ließen sie ihre Zelte und ihre Pferde und ihr Heer im Stich und flohen. Die Israeliten aber verfolgten sie bis nach Antiochia.
Und sie kehrten in Frieden zurück, und sie erbeuteten von ihnen eine sehr große Beute.
Und die Ältesten Israels und ihre Weisen versammelten sich, um [zum] Haus JHWHs zu gehen. Und sie lobten und priesen JHWH, der ihnen Ruhe von ihren Feinden gegeben hatte , der sie in der Zeit ihrer Not errettet und sein Wort für sie bestätigt hatte: Ich gedenke meines Bundes mit Jakob. (Lv 26,42).
Er in seiner Barmherzigkeit tue an uns Zeichen und Wunder, wie er sie für unsere Väter tat.
Dagmar Börner-Klein ist Professorin am Institut für Jüdische Studien an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf. Sie studierte Philosophie, Theologie, Erziehungswissenschaft und Judaistik in Köln und Wien. Ihr Lehr- und Forschungsschwerpunkt ist die hebräische Literatur in der Antike und im Mittelalter.