Judentum in Abwehr – Das entstehende Christentum

Von Rabbiner Leo Baeck

Erschienen im fünften Teil „Juden und Umwelt“ der „Lehren des Judentums nach den Quellen“ (s. III.Bd der 1999 ersch. Faksimile-Edition der Ausgabe des Verbandes der Deutschen Juden v. 1928/30)

Die älteste christliche Gemeinde, d. h. die Gemeinde derer, die durch den Glauben verbunden waren, dass in Jesus der Messias erschienen sei, stand in ihren Personen wie als Gemeinschaft durchaus im Bezirke des Judentums. Sie gehört in den jüdischen Gesamtbereich ganz so hinein, wie andere Gruppen, welche dieser damals umschloss, wie etwa die Essener auf der einen und die Zdukim (Sadduzaer) auf der anderen Seite. Die Gedanken und die Hoffnungen, die sie hegt, sind durchaus jüdische; sie will nur das jüdische Leben haben, und sie hat auch nur den jüdischen Horizont.

Was sie kennzeichnet, ist, dass sie, zumal in ihren ersten Jahren, von einer starken eschatologischen Stimmung bewegt ist, von dieser Erwartung der nahenden Endzeit und ihres Gerichtes, dass sie darin einen Gehalt ihres Glaubens und eine Kraft ihres Lebens besitzt. Sie ist von dem schwärmerischen, stets bereiten Enthusiasmus erfüllt, und ihre ethischen Forderungen sind demgemäß auch auf das baldige Kommen des Letzten eingestellt; sie will die Gemeinde der Gerechten des Weltendes sein. Aber alles das ist damals, ganz so wie nicht selten früher und später, innerhalb des Judentums ein eigentümliches Element gewesen.

Wenn weiterhin diese Gemeinde in Jesus gläubig den Messias, den Christos des jüdischen Volkes und in dem, der ihm vorangegangen war, in Johannes, dem Täufer, den neuen Elia erblickte und Sätze der Bibel auf das alles hindeutete, wenn sie dann, nachdem Jesus den Tod am Kreuze erlitten hatte, an seine Wiederauferstehung und seine Wiederkehr zum Tage des Gerichtes glaubte und dieser seiner Wiederkunft harrte, so war auch ein solches Hoffen in seinem Grunde und seinem Ziele durchaus ein jüdisches Hoffen jener und auch manch anderer Zeit. Eine Besonderheit im Judentum, aber keine Trennung von ihm war darin gegeben.

Von den Übungen und Formen in der alten Gemeinde gilt ein Gleiches. Die Taufsitte, wofern sie in dieser frühen Zeit des Christentums schon ihre allgemeine Bedeutung hatte, ist etwas, was sich dem Kreis der Bräuche des Judentums einordnet. Die Sitte, in der sich das „Herrenmahl“, das Abendmahl, gestaltet hat, ist, ehe sie unter dein Einfluß hellenistischer Mysterien ihren sakramentalen Charakter erhielt, etwas, was im Jüdischen seinen Platz hat und nur aus ihm heraus verstanden werden kann. Sie war zunächst nichts anderes als ein messianisches Gedenken in der Pessachhaggada; denn da diese die messianische Zuversicht auch aussprach, so war es ein Gegebenes, dass die Anhänger Jesu, die auf sein Wiederkehren hofften, ihn hier nannten, ,,des Todes des Herrn gedachten, bis dass er wiederkommt“ (1 Korinther 11 26).

Auch in ihrer ganzen Einstellung zu dem sogenannten „Gesetze“ steht die Gemeinde auf dem jüdischen Boden. Sie hält an der Beschneidung, an den Speise- und Reinheitsvorschriften und ebenso an der Synagoge und überhaupt an dem Kultus des damaligen Judentums fest. Ja sie kehrt sich gegen die, welche sich von dem allen abwenden wollen. Ihre heilige Schrift und ihre religiöse Sprache überhaupt ist nur die des Judentums, wenn auch vielleicht „Sprüche Jesu“, ähnlich wie ja im Judentum Sprüche mancher Lehrer, überliefert wurden und vielleicht auch niedergeschrieben worden sind. Ihre Predigt will eine Botschaft an die Juden sein, und die darin gegebene Mission erstreckt sich daher zunächst nur auf den Bezirk der jüdischen Gemeinden, und sie ist darin partikularistischer als manche andere Richtung im damaligen Judentum.

Alles in allem: es fand keinerlei Absonderung vom Judentum und den Juden statt, geschweige denn ein Ausscheiden aus der jüdischen Gesamtheit. Das Urchristentum steht im Judentum jener Zeit, es stellt in ihm eine, allerdings besonders bedeutungsvolle und wirksame, messianische Bewegung dar, eine tiefe Bewegung neben anderen ähnlicher Art in jenen wie in früheren und späteren Tagen. Der Widerstand, den es gefunden hat, ist darum nur ein gleicher wie der, dem vielfach diese anderen auch begegnet sind.

Der Widerspruch des Judentums setzt erst mit dem Gegensatz gegen das Judentum ein, der in der neuen und dann entscheidenden Phase des Christentums, in der paulinischen Theologie und Mission eintritt, und der sich, wie gegen das Judentum, so gegen das Urchristentum richtet. Er bewirkt sehr bald eine innere und äußere Trennung, eine immer mehr feindliche Scheidung vom Judentum und von der jüdischen Gemeinde. Und diese Loslösung ist zugleich und in gleicher Weise die von der alten christlichen Gemeinde, von dieser Gemeinde der Genossen und Jünger Jesu, soweit diese an sich und ihrer alten Art festhielt. Die Richtung und der Wille der paulinischen Lehre führten bewußt aus dem Judentum und aus dem alten Christentum heraus und zur Gegnerschaft gegen sie.

Aus dem jüdischen messianischen Glauben, wie ihn die alte christliche Gemeinde in dem Glauben an die Messianität Jesu gehegt hatte, war hier, in der paulinischen Theologie, unter dem bestimmenden Einfluß des orientalisch-hellenistischen Mysterienglaubens ein ganz anderes geworden: der Christusmythus. Auch hier steht Jesus im Mittelpunkt. Aber es ist nicht mehr der Jesus, welcher gemahnt, gelehrt, gefordert und verheißen hatte, und von welchem seine Gefährten und Schüler erzählten, dem sich hier das Denken und Hoffen zuwendet. Er ist hier ein ganz anderer, und nur der Name ist geblieben. Er ist hier der mythische Weltheiland, der von Urbeginn an gewesen, der das Prinzip der Welt ist, durch den „alles geschaffen worden“. Der Glaube an ihn wird das Entscheidende, und hinter ihn tritt hier G’tt, der für Jesus alles gewesen war, fast zurück; G’ttes Bedeutung ist hier eigentlich nur, dass er diesen Heiland in die Welt gesandt hat, dass er „der Vater unseres Herrn Jesu Christi“ (Römer 156 ff.) ist.

Vor der alten Religiosität des G’ttvertrauens und des Gehorsams gegen G’ttes Gebot, ja an ihrer Stelle steht somit hier das Mysterium des Weltheilands, welches alles besagt und alles gibt. Nur wer sich ihm zuwendet, ist der Gläubige und ist das Glied der Gemeinde, und nur der erwirbt es zu eigen, dem die Sakramente der Taufe und des Abendmahls zuteil werden. In ihnen wird das Mysterium wirklich und dinglich dargereicht, sie sind mehr und ein ganz anderes als ein Symbol, als ein Zeichen der Erinnerung und der Hoffnung; sie sind ein Sachliches und Wesentliches, das ergreifbare Mittel der Erlösung, der Vereinigung mit dem Heiland. Wer sich gläubig durch sie mit dem Christus verbindet, ist dadurch des Gnadenwunders teilhaft. Er wird mit dem ewigen Leben ausgestattet, von der ganzen gegenwärtigen Welt, ihrem Irdischen, Endlichen und Sündhaften befreit; er ist der Gerechtfertigte, der Erlöste. Inhalt der Religion sind nunmehr Mysterium und Sakrament, ein Glaube und ein Tun, die von dem völlig verschieden sind, was der Gemeinde Jesu ihre Frömmigkeit innerhalb des Judentums gewesen war.

So mußte der Kampf zwischen dem Judentum und dem neu gewordenen Christentum einsetzen, besonders als dieses, nachdem es in den Ländern des Mittelmeeres zu einer geltenden Kirche und zu einer Macht im römischen Reiche geworden war, auch auf dem Boden Palästinas Fuß gefasst hatte. Es war ein gegenseitiges Angreifen und Abwehren.

Der neuen Kirche waren das Judentum und das jüdische Volk, die einst erkoren und nun doch verworfen sein sollten, ein Anstoß oder wenigstens eine Verlegenheit, und diese selbe Schwierigkeit bot ihr im Grunde ihr eigener Ursprung, die alte christliche Gemeinde. Um diesen Vorwurf zu beseitigen oder abzuschwächen, hat die Kirche ihr kanonisches Schrifttum, das Neue Testament, darauf hin geformt, dass die Vergangenheit sich der siegreichen Gegenwart einfügte und unterordnete. Besonders die alten Berichte über das Leben und Lehren Jesu, die Evangelien, erhielten diese endgültige Gestalt. Auch sie wurden jetzt zu einem wesentlichen Teil Streitschriften gegen die Gemeinde des Judentums und damit vielfach, wie sich nicht verkennen lässt, auch gegen die erste christliche Gemeinde. Vor allem geht hierauf die harte Rede zurück, welche gegen die Pharisäer gehalten wird, im Widerspruch zu dem noch feststellbaren alten Bericht, wo sie neben Jesus, aber nicht gegen ihn — gegen ihn waren nur die Sadduzäer gewesen — gestanden hatten.

Aber ebenso mußte sich die jüdische Gemeinde gegen die Kirche wenden. Sie mußte ihr altes religiöses Eigentum gegenüber dem, wozu die Kirche es umgebildet hatte, als den religiösen Wahrheitsbesitz feststellen und festhalten, und sie ist damit erst zur ganzen Deutlichkeit seiner Eigenart gekommen. Jetzt, wo dort, in der Kirche, der Christus, neben den einen G’tt gestellt, G’ttheit geworden war, trat hier der ganze Sinn der Einigkeit und Einzigkeit G’ttes, der ganze Wert des strengen Monotheismus in das Bewußtsein; das Wort „der Ewige ist einzig“ erhielt seinen vollen Ton.

Wenn dort das Erlösungsmysterium seinen Platz gewonnen hatte, so wurde hier nun alles Mittlertum um so bestimmter abgewiesen. Man sprach: „Wenn ein Mensch dir sagt: »Ich bin G’tt«, so trügt er; »Ich bin der Menschensohn«, so wird er es bereuen; »ich steige zum Himmel empor«, so redet er und wird es nicht vollführen“ (jer. Taanit II, 1). All das Pathos des Eigenen verkündet sich nun gegenüber dem Mittler zwischen G’tt und den Menschen. „Heil euch, ihr Israeliten, vor wem läutert ihr euch, und wer läutert euch? Nur euer Vater im Himmel!“ (Joma VIII, 9). Jetzt, wo dort gelehrt wurde, wie der Erlöser in der Gestalt des Menschen gemäß dem Worte der Deutung in wundersamem Leben und Sterben erschienen sei, jetzt wurde es hier um so lebendiger betont, dass G’tt allein der Erlöser sein könne; das Wort des Propheten wurde zum täglichen Gebet:

„Unser Erlöser ist der Herr der Heerscharen, sein Name ist der Heilige Israels“ (Jesaja 47.4).

Jetzt, wo die Botschaft von dem Verheißenen zur Gegenwart der Erfüllung in der Kirche umgeprägt worden war, jetzt wurde von der jüdischen Gemeinde um so bestimmter der Gedanke der messianischen Zukunft, des Weges zu den „kommenden Tagen“ hervorgehoben. Dem gegenüber, dass der Glaube, dessen Inhalt das Mysterium und das Sakrament waren, das Gebot und sein Gesetz überwunden und beseitigt habe, wandte sich nun dem Gebote die ganze Liebe und Treue zu. Dem gegenüber, dass der Christos der Logos sei, dass er den Sinn des Alls erschließe, wurde nun um so stolzer dargetan, dass die Religion Israels mit ihrem gesamten Ausdruck, ihrer Tora dieser Logos sei, dass sich in ihr die Bedeutung von Welt und Leben offenbare. Die Erwählung Israels, der weitgeschichtliche Platz des Judentums wurde neu idealisiert. Im Kampfe mit der Kirche ist die jüdische Religion damals von neuem ihrer selbst ganz bewußt geworden.

Jüdische Anerkennung individueller Glaubensauffassung

Die maßgebende Fassung und Festlegung von religiösen Begriffen und Formeln ist dem Judentum im großen und ganzen ferngeblieben. So sehr die Grundgedanken der Religion, die Einheit und Einzigkeit G’ttes, die G’ttesebenbildlichkeit des Menschen, der sittliche Charakter der Frömmigkeit, das messianische Ideal, das Geheimnis alles Letzten, immer feststehen, so ist ihre dogmatische Bindung doch nicht erfolgt. Der gedankliche Ausdruck des Glaubens hat immer die Freiheit und den Raum seiner Mannigfaltigkeit gehabt.

Nicht einmal, was bisweilen als ein Mangel hingestellt wird, ein bestimmtes Glaubensbekenntnis ist ausgeprägt und für verbindlich erklärt worden. Einer der einflußreichsten Lehrer, Moses Maimonides, hat zwar im zwölften Jahrhundert ein solches verfaßt, und es ist dann später, besonders in einer poetischen Form, die es erhalten hatte (Jigdal), in das Gebetbuch aufgenommen worden und hat weithin weihevolle Volkstümlichkeit erlangt. Aber ein verpflichtendes Bekenntnis, das die Zugehörigkeit zum Judentum bedingte, ist es nicht geworden. Es war ein Glaubensgebet, Gegenstand darum mehr der persönlichen Andacht als der geltenden Glaubensverpflichtung.

Es ist auch selbstverständlich, dass das Judentum seit jeher seine Sätze hatte, die in ihrer klassischen Prägung einen Glaubensinhalt aufzeigten, Sätze, an denen der Jude seiner selbst bewußt wurde und den Glaubensgenossen erkannte. Es braucht nur auf den Satz (5. Mos. 64) hingewiesen zu werden: „Höre, Israel, der Ewige ist unser G’tt, der Ewige ist einzig“ und den ihm folgenden: „Du sollst den Ewigen, deinen G’tt, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft“ oder auf die Sätze der „dreizehn Eigenschaften G’ttes“ (2 Mos. 348): „der Ewige, der Ewige, G’tt, barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Liebe und Treue, der Liebe bewahrt bis ins tausendste Glied, Schuld und Fehl und Sünde verzeiht und rein werden läßt,“ auch auf das Sanctus (Jes. 68) „Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen, voll ist die ganze Welt seiner Herrlichkeit.“

Sie alle sind unzweifelhaft Sätze, in denen der Glaube der Gemeinde, zu deren Besitztum sie geworden waren, sich immer wieder aussprechen wollte. Aber auch sie sind, ganz abgesehen davon, dass in ihnen keine begriffliche feste Formulierung gegeben ist, ganz eigentlich zu Gebeten geworden; die Andacht vor allem versenkt sich in sie, und jedem Denken ist damit die Freiheit gegeben, sich in sie zu vertiefen, jedem Gefühl das Recht, sich in sie hineinzuempfinden. Das gleiche gilt von dem Hymnus, der zwei bestimmende Glaubenssätze, den von dem einen G’tte, dem G’tte Israels, und den von dem G’ttesreiche auf Erden verkündet (Alenu). Im dritten Jahrhundert für das Neujahr verfaßt, ist er seit dem Mittelalter zum feierlichen Abschluß jedes G’ttesdienstes geworden. Auch er ist Bekenntnisgebet und hat diesen Gebetscharakter bewahrt; eine Bekenntnisformel stellt auch er nicht dar.

Verschiedene Gründe kommen zusammen, um eine dogmatische Bindung des Glaubensausdruckes einerseits nicht möglich, andererseits weder geboten noch erforderlich sein zu lassen.

Zunächst ist hierfür die Tatsache von Bedeutung, dass sich im Judentum nie eine dauernde obrigkeitliche, sei es staatliche oder kirchliche, Instanz gestalten konnte, die eine Lehrgewalt oder ein jus in sacra auszuüben imstande gewesen wäre. Wenn auch die Zeit einer geschlossenen Staatlichkeit in Palästina gewisse Ansätze zur Bildung einer Glaubensbehörde aufzeigt, so hat doch sehr bald die Geschichte — und hierin spricht nicht nur ein Geschehen, sondern ein Wesenszug — nach anderer Richtung geführt. Das Glaubensgut, das depositum fidei, wurde dem einzelnen Lehrer als solchem zur Wahrung und Darbietung anvertraut; er wurde der Repräsentant der lebendigen Tradition des Judentums. Er konnte darum eine freie Befugnis erlangen und ein Recht der Lehre und Entscheidung ausüben, das in anderen Religionen nur eingesetzten konstituierten Autoritäten zustand.

Eben darin hatte auch der Bann (Cherem) seine Begrenzung, den das Judentum kannte; er war im jüdischen Mittelalter nicht selten ein geeignetes, vielleicht notwendiges Mittel zur Sicherung der Rechtsprechung in den Gemeinden, da diese jeder Vollstreckungsmöglichkeit ermangelte, aber häufig wurde er auch ein bedenkliches, allerdings oft recht stumpfes Instrument für den Kampf gegen missfällige Gedanken. Nicht eine Kirche sprach ihn hier aus, nicht eine Vertretung der Glaubensgesamtheit, sondern nur ein Lehrer, ein Rabbiner, sei es auch in Gemeinschaft mit zwei anderen oder mit Vertretern der Gemeinde, oder gelegentlich einmal eine Synode. Und gegen diese einen konnten darum immer die anderen treten, was dem Bann ein Wesentliches seiner Geltung und Wirkung nahm. Er hatte im großen Ganzen nur örtliche Bedeutung, er hat die Mannigfaltigkeit der Gedanken kaum je zu hindern vermocht. Im Grunde war er hier in der Art, wie er ausgesprochen wurde, nichts anderes als die Kehrseite der Lehrbefugnis des einzelnen Lehrers.

Der Freiheit der Gedankenbildung kam dann eines hier entgegen. Im Judentum war die maßgebende Formung des Glaubensinhalts ein geringeres Bedürfnis als in anderen Religionen. Das Judentum hat immer das Sakrament, dieses mystische Gnadenmittel, abgelehnt, durch welches die Teilnahme an der G’ttheit und dem religiösen Gut erreicht und gewährt werden soll. Zu diesem Gnadenmittel, dieser heiligen Sache, tritt stets als ein Wesentliches der heilige Satz, das Symbolon, die überlieferte Formel, die in endgültiger bestimmter Ausprägung den Glaubensbesitz darreicht. Dogma und Sakrament gehören zusammen; sie bedingen und tragen einander. Da das eine im Judentum fehlte, war auch das andere in ihm nicht erforderlich. Die sakramentslose Religion konnte dogmenlos sein; der Darlegung der Glaubensideen konnte eine größere individuelle Selbständigkeit gewährt bleiben.

Sie konnte um so größer sein, da das Judentum sich nicht als Kirche ausgestaltet hat. Das Gnadenmittel erfordert die Gnadenanstalt, welche, durch ein Übernatürliches gestiftet, die in den Sakramenten gegebene Wunderwirkung, diesen sinnlich-übersinnlichen Schatz, verwaltet und ausspendet. Zu dem Sakrament und seinem Dogma gehört so die Kirche. Sie fehlt darum dem Judentum; an ihrer Stelle steht hier, in ihrer Vielfältigkeit, die Gemeinde. Diese ist ein selbständiges Gebilde für sich, selbständig nach mancher Hinsicht auch in der Erfassung der Lehre. In ihrer Mannigfaltigkeit hat sie daher auch eine Mannigfaltigkeit und Freiheit im Geistigen ermöglichen, nicht selten auch eine Zufluchtsstätte für Gedanken gewähren können, welche verfolgt oder beengt wurden. Ihr Eigenrecht nahm der Geschlossenheit des großen Ganzen oft viel, bedeutete aber oft auch viel für den Platz des Besonderen. Wie die Freiheit des Lehrers hatte die der Gemeinde ihre Nachteile und Vorzüge neben- und ineinander.

Ein Ferneres wirkte dann noch ebenso und vielleicht noch mehr auf eine gewisse Freiheit der Gedanken hin. Das Wesentliche und Entscheidende der Frömmigkeit ist im Judentum das Tun des Menschen, die Erfüllung des G’ttesgebotes, der Mizwa. Die Tora, die Lehre, ist nicht eine Lehre vom Glauben, sondern eine Lehre vom Tun. Auf dieses richtet sich die ganze Forderung, ihm und nur ihm ist die ganze, ins Einzelne gehende Bestimmtheit zugewiesen und zuerkannt. Dem Gedanklichen und Lehrhaften war damit ein weiterer Raum gelassen.

Es war um so mehr der Fall, da ihm gegenüber die Forderung galt: du sollst forschen. Das Neuerfassen des Alten und das Weiterdenken war damit verlangt. Das Suchen und Zweifeln, das Erklären und Widerlegen konnte sich auswirken. Der einzelne Forscher und Lehrer erhielt damit sein Recht.

So sehr die Grundgedanken und die Grundlinien im Judentum feststehen, konnte daher keine Persönlichkeit und auch keine Richtung für die allein maßgebende erklärt werden. Man hatte vielfach die Freiheit in der Wahl der Autorität. Es gab keine ‚causa finita‘ gegen den einen Lehrer konnte immer die Berufung an den anderen statthaben, gegen den vergangenen an den lebenden und gegen den lebenden an den vergangenen. Der Widerspruch zwischen den Autoritäten verminderte nicht die Autorität.

Um nur ein Beispiel anzuführen: der „Mischne Tora“ des Maimonides und die „Bemerkungen“ seines dezidierten Gegners Abraham ben David wurden, zueinandergestellt, wie zu einem literarischen Werke vereint, obwohl es in vielen Fragen kaum einen stärkeren Gegensatz gibt als den zwischen ihnen beiden. Beide stehen sie als anerkannte Lehrer des Judentums da. In derselben Weise sind mannigfach Männer trotz allen Zwiespaltes der Gedanken zur Einheit des Buches und der Autorität verbunden worden. Die Gemeinde des Judentums erkannte sich die vielen Lehrer zu. Deshalb haben Konflikte, die bis an die Prinzipien des Glaubens herandrangen, und in denen Autoritäten gegeneinander traten, in manchen Zeiten die Gemeinden zerreißen können, ohne doch am letzten Ende die Einheit des Judentums zu bedrohen; die Autoritäten von hüben wie von drüben hörten nicht auf, Autoritäten des Judentums zu sein. Deshalb ist es auch trotz der Schwere und der Erbitterung so manchen Kampfes zu keiner Sektenbildung gekommen. Die einzige Ausnahme, die des Karäertums, bestätigt nur die Regel; denn für seine Entstehung sind mehr politische Gründe als religiöse entscheidend gewesen.

Ein Zwiefaches, das eigentlich eines ist, wirkte dahin, dass dieses autoritative Recht des einzelnen Lehrers nicht zu einer Auflösung der Gesamtgemeinde führte. Das erste ist das auf dem lebendigen Geschichtsbewusstsein beruhende Gemeinschaftsgefühl, dessen wesentliche Kraft immer eine religiöse, geistige war. Man fühlte sich, trotz des Fehlen. aller äußeren Bindungen, so sehr als eine Gemeinschaft des Lebens, man wusste so sehr um die gemeinsame Vergangenheit und die gemeinsame Zukunftsidee, und der gemeinsame Besitz von Bibel und Talmud bekundete dies so deutlich, dass die Gesamtheit alle diese Verschiedenheit der Lehrer und der Richtungen in sich beschließen durfte. Und das andere, das ja im Grunde dasselbe ist, war die in allen lebendige Überzeugung von einer stetigen Tradition im Judentum. Alle die Lehrer von hier und dort sah man in eine Kette der Überlieferung eingegliedert, welche nie abriß.

So sehr ein jeder von ihnen das Recht seiner Zeit und seiner Entscheidung besaß, so schien das Ganze der Lehre doch erst in der Succession der Lehrer, in ihrer Reihe bis zu den „Letzten“ hin, gegeben. Dieses doppelte Band hat die verschiedenen Richtungen und Generationen immer zusammengefügt und zusammengehalten. Ohne dogmatische Gebundenheit und ohne kirchliche Geschlossenheit lebte so stets ein Gesamtjudentum, im Dasein und im Bewusstsein, mit einem Maße geistiger Mannigfaltigkeit und einer individuellen Lehrfreiheit des Einzelnen, wie sie die anderen religiösen Gemeinschaften in den jeweiligen Zeiten kaum aufweisen.

Quelle: Die Lehren des Judentums nach den Quellen. Neu herausgegeben und eingeführt von Rabbiner Walter Homolka, unter Mitarbeit von Rabbiner Tovia Ben-Chorin