Der jüdische Krieg: Jochanan Ben Sakkai im Hauptquartier des Vespasian

Von Lion Feuchtwanger
Der jüdische Krieg Bd. I, pp. 218

Im Hauptquartier des Vespasian in Cäsarea erschien, von den römischen Behörden mit Ehrfurcht empfangen, ein uralter jüdischer Herr, sehr klein, sehr angesehen, Jochanan Ben Sakkai, Rektor der Tempeluniversität, Oberrichter von Judäa, Großdoktor von Jerusalem.

Mit seiner welken Stimme, im Kreis der Juden von Cäsarea, berichtete er von den Greueln, die die jüdische Hauptstadt erfüllten. Wie die leitenden Männer der Gemäßigten fast allesamt niedergemetzelt worden seien, der Erzpriester Anan, die meisten Aristokraten, auch viele von den „Wahrhaft Schriftgläubigen“ (haPruschim / Pharisäer); wie jetzt die Makkabi-Leute mit Brand und Schwert gegeneinander wüteten. Selbst in den Vorhallen des Tempels hatten sie Geschütz aufgefahren, und Leute, die ihr Opfer zum Altar bringen wollten, waren von ihren Geschossen getroffen worden. Manchmal, auf altmodische Art, bekräftigte der Alte: „Meine Augen haben es gesehen.“

Auch er hatte sich nur mit Gefahr aus Jerusalem wegstehlen können. Er hatte aussprengen lassen, er sei tot, seine Schüler hatten ihn in einem Sarg zur Bestattung aus den Mauern Jerusalems herausgetragen.

Er ersuchte den Marschall (Vespasian) um eine Unterredung, und Vespasian bat ihn sogleich zu sich. Uralt, vergilbt, stand der jüdische Großdoktor vor dem Römer; die blauen Augen stachen auffallend frisch aus dem zerknitterten, von einem kleinen, entfärbten Bart umrahmten Gesicht. Er sagte: „Ich bin gekommen, Konsul Vespasian, um mit Ihnen über Frieden und Unterwerfung zu reden. Es steht keine Macht hinter mir. Die Macht in Jerusalem haben die ‚Rächer Israels‘ (haKanaim / Zeloten / Eiferer); allein das Gesetz ist nicht tot, und ich bringe mit das Siegel des Oberrichters. Das ist nicht viel. Aber niemand weiß besser als Rom, daß ein großes Reich auf die Dauer nur zusammengehalten werden kann durch Recht, Gesetz und Siegel, und darum ist es vielleicht auch nicht wenig.“

Vespasian erwiderte: „Ich freue mich, mit dem Manne zu reden, der in Judäa den ehrwürdigsten Namen trägt. Aber ich bin lediglich gesandt, das Schwert zu führen. Über Frieden verhandeln kann nur der Kaiser in Rom und sein Senat.“

Jochanan Ben Sakkai wiegte den alten, kleinen Kopf. Listig, leise, mit dem Singsang orientalischen Dozierens, führte er aus: „Es sind manche, die sich nennen Kaiser. Aber es ist nur einer, mit dem ich austauschen möchte Siegel und Dokument. Ist der Libanon gefallen durch Galba? Nur der, durch den fällt der Libanon, ist der Mächtige, der Adir. Der Libanon ist nicht gefallen durch Galba.“

Vespasian schaute den Alten mißtrauisch an. Fragte: „Haben Sie mit meinem Gefangenen Josef Ben Matthias gesprochen?“ Jochanan Ben Sakkai verneinte, ein wenig erstaunt. Reumütig, täppisch, sagte Vespasian: „Verzeihen Sie, Sie haben wirklich nicht mit ihm gesprochen.“
Er setzte sich, machte sich klein, so daß er nicht auf den Alten hinabschauen musste: „Bitte, teilen Sie mir mit, was Sie geben und was Sie nehmen wollen.“

Jochanan streckte seine welken Hände hin, bot dar: „Ich gebe Ihnen Brief und Siegel, daß der Große Rat und die Doktoren von Jerusalem sich Senat und Volk von Rom unterwerfen. Ich bitte Sie dagegen um eines: lassen Sie mir eine kleine Stadt, dass ich eine Universität dort gründe, und geben Sie mir Lehrfreiheit.“ — „Dass ihr mir von neuem die finstersten Rezepte gegen Rom zusammenbraut“, schmunzelte Vespasian. Jochanan Ben Sakkai machte sich noch kleiner und geringer: „Was wollen Sie? Ich werde pflanzen ein winziges Reis von dem mächtigen Baume Jerusalem. Geben Sie mir, sagen wir, das Städtchen Jabne. Jabne, es wird eine so kleine Universität sein.“

Betulich redete er dem Römer zu, malte mit Gesten die Geringfügigkeit seiner Universität: ach, sie wird so klein sein, seine Universität Jabne, und er schloß und öffnete seine winzige Hand.

Vespasian erwiderte: „Schön, ich werde Ihren Vorschlag nach Rom übermitteln.“ — „Übermitteln Sie nicht“, bat Jochanan. „Ich möchte nur mit Ihnen zu tun haben, Konsul Vespasian.“ Hartnäckig wiederholte er: „Sie sind der Adir.“

Vespasian erhob sich; breit, bäurisch fest stand er vor dem sitzenden Großdoktor. „Offen gestanden“, sagte er, „ganz verstehe ich es nicht, was ihr gerade an mir für einen Narren gefressen habt. Sie sind ein alter, weiser und, wie es scheint, relativ ehrlicher Herr. Wollen Sie es mir nicht erklären? Ist es nicht schwer erträglich, wenn in dem Land, das euer Gott ““ euch zugesagt hat, ausgerechnet ich der Adir sein soll? Ich höre, dass von allen Völkern ihr am heftigsten vor der Berührung mit andern zurückscheut.“

Jochanan hatte die Augen geschlossen. „Als die Engel Gottes“, dozierte er, „nach dem Untergang der Ägypter im Schilfmeer ein Jubellied anstimmen wollten, sprach ““: .Meine Geschöpfe ertrinken, und ihr wollt ein Jubellied singen?'“

Der Marschall trat ganz nahe an den winzigen Gelehrten heran, rührte ihm leicht, vertraulich die Schulter, fragte listig: „Aber soviel stimmt doch: als richtige, vollwertige Menschen anerkennt ihr uns nicht?“
Jochanan, immer die Augen geschlossen, erwiderte still, wie von weit her: „Wir opfern am Laubhüttenfest siebzig Stiere zur Sühnung der Nichtjuden vor Gott.“

Vespasian sagte ungewohnt höflich: „Wenn Sie nicht zu müde sind, mein Doktor und Herr Jochanan, dann bitte ich noch um eine Belehrung.“
— „Ich antworte Ihnen gern, Konsul Vespasian“, sagte der Großdoktor.

Vespasian stützte die Hände auf den Tisch. Über den Tisch hinüber, gespannt, fragte er: „Hat ein Nichtjude eine unsterbliche Seele?“

Jochanan erwiderte: „Es gibt sechshundertdreizehn Gebote, die zu halten wir Juden verpflichtet sind. Der Nichtjude ist nur auf sieben Gebote verpflichtet. Hält er sie, dann lässt sich auch in ihm der Heilige Geist nieder.“
— „Welches sind diese sieben Gebote?“ fragte der Römer.
Jochanan zog die runzligen Brauen hoch, seine blauen Augen schauten hell und sehr jung in die grauen des Vespasian. „Es ist ein Ja und sechs Nein“, sagte er: „Er muß Gerechtigkeit üben, er darf Gott nicht leugnen, Götzen nicht dienen, darf nicht morden, nicht stehlen, nicht Unzucht treiben und nicht Tiere quälen.“
Vespasian dachte ein wenig nach, dann sagte er bedauernd : „Da habe ich leider wenig Aussicht, dass sich in mir der Heilige Geist niederlässt.“

Der Großdoktor schmeichelte: „Finden Sie es sehr gefährlich für Rom, wenn wir in meiner kleinen Universität Jabne solche Dinge lehren?“ Breit, ein wenig protzig, sagte Vespasian : „Gefährlich oder nicht, groß oder klein, welche Ursache überhaupt sollte ich haben, euch entgegenzukommen?“

Der Alte machte ein pfiffiges Gesicht, hob die winzige Hand, führte sie einmal durch die Luft, legte dar, wieder im Singsang orientalischen Dozierens: „Solange Sie nicht der Adir sind, haben Sie keinen Grund, Jerusalem zu erobern; denn Sie brauchen vielleicht Ihre Truppen, um der Adir zu werden. Sowie Sie aber ernannt sind, haben Sie vielleicht keine Zeit mehr, Jerusalem zu erobern. Vielleicht dann aber ist es für Sie von Interesse, wenn nicht das eroberte Jerusalem, so doch einen Rechtstitel mit nach Rom zu bringen. Vielleicht ist Ihnen dieser Rechtstitel die kleine Konzession wert, um die ich Sie bitte.“

Er schwieg, er schien erschöpft. Vespasian hatte seinen Darlegungen mit großer Aufmerksamkeit zugehört. „Wenn Ihre andern Herren so schlau wären wie Sie“, schloß er lächelnd die Unterhaltung, „dann wäre ich wahrscheinlich nie in die Lage gekommen, von Ihnen als der Adir bezeichnet zu werden.“

Aus „Der jüdische Krieg“ von Lion Feuchtwanger
In der Josefus Trilogie sind beim Aufbau Verlag drei Romane Lion Feuchtwangers: „Der jüdische Krieg“, „Die Söhne“ und „Der Tag wird kommen“ verlegt worden.

[BESTELLEN]
Hinweis: Bei allen Leseproben handelt es sich um urheberrechtlich geschützte Werkteile, deren Vervielfältigung, Verbreitung, Zugänglichmachung über das Internet oder Bearbeitung ohne Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers unzulässig ist.