Von Rabbi Arthur Waskow, Übersetzung v. Iris Noah
Die historischen Ursprünge der Jewish-Renewal-Bewegung liegen im Zusammentreffen von mindestens 4 Bereichen eines Neu-Denkens jüdischer Konzepte, das viele Juden in Nordamerika in den 60iger und 70iger Jahren stark beeinflußt hat:
a) der Neo-Chassidismus von Martin Buber, Abraham Joshua Heschel, Schlomo Carlebach und Zalman Schachter-Shalomi.
b) das Anliegen persönlichere, mehr Mitwirkung ermöglichende Formen jüdischer Gemeinschaft zu schaffen, die im Zeitraum von 1967 bis 1972 der zündende Funke für eine Reihe von Chavurot und ähnlichen Minjanim wurden und eine Modellfunktion in diesem Prozeß bekamen.
(Anm. d. Übers.: Chavura; Mz: chavurot: Gruppen von Jüdinnen und Juden, die sich zusammenfanden, um miteinander zu lernen, Feiertage zu begehen, neue Rituale zu gestalten wie z.B. Rosch Chodesch; ursprünglich handelte es sich um informelle Gruppen; inzwischen gibt es in Amerika ein Chavurah-Netzwerk)
c) die beiden stark miteinander verbundenen Anliegen von sozialer Gerechtigkeit und gerechten Beziehungen und Frieden zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen, die viele dieser Chavurot und ihre Mitglieder sowohl zu einer sozialen als auch kommunalen Vision inspirierten und
d) die Notwendigkeit nicht nur einer Bewegung, die sich für die Gleichheit von Frauen und Männern im jüdischen Leben einsetzt, sondern die eine tiefere Dimension erschließt, was Gleichheit bedeutet, wenn Judentum eine Perspektive entwickelt, die Einsichten eines feministischen Judentums einbezieht.
In den 1980iger und 1990iger Jahren wurden zwei weitere Bereiche immer wichtiger:
e) das Wissen um und die Praxis von Formen östlicher Meditation und die Wiederentdeckung von Meditationsformen im Judentum und
f) die Einsichten aus einer Spiritualität, die verwurzelt ist in der Sorge um die Gefährdung der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten.
Um diese Anliegen zu verbreiten, wurde ALEPH (Alliance for Jewish Renewal) 1993 gegründet (und zwar durch die Zusammenlegung von zwei bestehenden Netzwerken, der P`nai Or Religious Fellowship und dem Shalom Center) als eine Gruppe mit nationaler und internationaler Reichweite mit der Zielsetzung Jewish Renewal weiterzuentwickeln.
ALEPH publiziert vierteljährlich eine Zeitschrift „New Menorah“ (Neue Menorah) und gründete das Meditationszentrum „Elat Chayyim“ und das „Spiritual Eldering Institute“ (Institut für spirituelles Älterwerden) und finanziert durch Sponsorenmittel die jährlich im Sommer stattfindenden Kallah-Treffen. Zu ALEPH gehört ein Netzwerk von Jewish-Renewal- Gemeinschaften mit etwa 50 örtlichen Chavurah-Gruppen und Synagogen. Auch das Shalom Center und das Jewish-Renewal-Life-Center (ein Lehr- und Trainingszentrum) sowie ein RabbinerInnen-Ausbildungsprogramm werden gefördert.
Obwohl ALEPH und die meisten an Jewish Renewal Aktivitäten beteiligten Personen die Förderung von Institutionen für die Vertiefung und Weiterentwicklung von Jewish Renewal-Aktivitäten für wichtig erachten, sehen sie Jewish Renewal als einen Prozeß, der jenseits der Grenzen der Strukturen von Institutionen oder Denominationen (orthodox, konservativ, rekonstruktionistisch, reform) verläuft, so wie etwa die amerikanische Bürgerrechtsbewegung oder wie die Frauenbewegung.
Dieser Prozeß findet seinen Niederschlag in neuen Entwicklungen jüdischer Musik, Liturgie, Midrasch, Kunst, Erziehung und politischen Fragestellungen etc., sei es in Synagogen oder in Chavurot, in „säkularen“ oder Gemeindestrukturen und sogar in Aschrams oder auf dem Broadway.
Das Herz von Jewish Renewal ist eine erneuerte Begegnung zwischen Gott und dem jüdischen Volk, und ein Verständnis von jüdischer Geschichte als Abfolge erneuernder Begegnungen mit Gott. Diese Begegnungen zogen schmerzhafte Krisen nach sich, während derer Gott scheinbar verschwunden war; jedoch führte jede Krise zu einer mehr oder weniger tiefgehend transformierten, erneuerten Form des Judentums.
In unserer Generation bedeutet Jewish Renewal eine von immer mehr Freude und Kräften der Verwandlung geprägte Antwort von Juden auf den Holocaust und den Triumph der Moderne sowohl in ihren kreativen als auch den destruktiven Aspekten.
Durch Gebet, Lernen und Aktion versucht Jewish Renewal:
- den „rabbinischen Funken“ nähren (das ist die kreative Energie und Fähigkeit zu Leiterschaft die aus dem direkten Kontakt mit dem Göttlichen kommt) in jeden, ohne sein Sichtbarwerden auf unterschiedlichen Wegen und Ebenen in unterschiedlichen Ebenen und bei unterschiedlichen Menschen zu befürchten.
- Gemeinschaften schaffen, die tanzen und mit Gott ringen, die persönlich sind und Teilhabe auf einer gleichberechtigten Ebene von Mann und Frau (egalitär) ermöglichen und eine Atmosphäre schaffen, in der Offenheit für das Teilen von spirituellen Erfahrungen ist.
- und spirituelles Wachstum und Heilung unterstützt, sei es auf der Ebene von Individuen, Gemeinschaften, ganzen Gesellschaften und des Planeten.
Jewish Renewal ist verwurzelt in einer durch Midrasch geprägten Antwort auf die Torah, die die alte Weisheit einbezieht, ohne in ihr steckenzubleiben, speziell die Weisheit der Kabbala und des Chassidismus als auch die der Propheten und Rabbiner, wobei all diese zusätzlich inspiriert werden durch die Einsichten der Ökologiebewegung, des Feminismus sowie der Demokratie.
(Anm. d. Übers: Midrasch: 1. Methode der rabbinischen Schriftauslegung 2.literarische Gattung, die in Form eines erzählenden Textes eine Frage beantwortet, die im biblischen Text offen bleibt, z.B. warum die Torah auf dem Berg Sinai gegeben wurde; 3. Bezeichnung für verschiedene rabbinische Schriften; Mz: Midraschim)
Für viele – jedoch nicht alle – die an der Jewish-Renewal-Bewegung teilhaben, ging mit der Entwicklung eines neuen Vokabulars auch ein erneuertes Verständnis der kabbalistischen / chassidischen Lehren von den vier Welten einher: Atzilut (Sein, Geist), Brijah (Wissen, Intellekt), Jetzirah (Beziehung, Emotion) und Asijah (Tun, Aktion) sowie der Sephirot, die nicht nur als Aspekte des Göttlichen verstanden werden sondern auch als sichtbare Aspekte des vollen Menschseins.
In der Jewish-Renewal-Bewegung:
- sind Frauen und Männer in jeder Hinsicht gleichberechtigt und tragen zur Zukunft des Judentums bei
- sind diejenigen, die im traditionellen jüdischen Leben oft am Rand stehen (wie Schwule und Lesben, Konvertiten oder die, für die Lernen und Gebet neu sind) willkommen und geschätzt.
- besteht großer Respekt für andere spirituelle Wege und die Bereitschaft von ihnen zu lernen (Buddhismus, Sufismus etc.)
- suchen Menschen nach Wegen die Erde und die Gesellschaft zu heilen
- wird zu Gesängen, Meditation, Tanz, graphisch-künstlerischem Gestalten ermutigt zusammen mit bereits mehr bekannten Formen des Betens, Lernens und anderen Praktiken als Wege der Verbindung zu Gott und Torah.
- suchen Menschen nach Wegen wie Weisheit in konkret faßbaren Formen Gestalt gewinnen kann statt spiritualisiert oder intellektualisiert zu werden
- nehmen Menschen Gott als Realität wahr, die die Welt mit Göttlichkeit umgibt.
Jewish Renewal ist maximalistisch. Damit ist gemeint, daß praktiziertes Judentum in vielen ganz alltäglichen Dimensionen und Vollzügen sichtbar wird: Umgang mit Essen, Geld, Sexualität, Gesundheit, Politik ebenso wie Gebet, Feiertage und das Studium der Torah.
Ein neues Paradigma?
Viele, die an der Jewish Renewal Bewegung teilhaben, denken, daß wir in eine völlig neue Phase jüdischen Lebens eintreten und etwas schaffen, das so verschieden vom rabbinischen Judentum ist, wie sich das rabbinische Judentum vom biblischen Judentum unterscheidet. Diese Sichtweise hat ihre Basis in der folgenden Feststellung: die Moderne stellt in gleicher Weise eine Herausforderung für das rabbinische Judentum dar wie seinerzeit der Hellenismus eine Herausforderung für das biblische Judentum darstellte. Und diese – heutige – Herausforderung erfordert ebenso eine umgestaltende Antwort.
Einige wichtige Exponenten dieser Bewegung gehen davon aus, daß diese Herausforderung nicht ein bloßer Zufall der Geschichte ist sondern Bestandteil der immer deutlicher sichtbar werdenden Präsenz des Göttlichen im Universum. Aus diesem Grund haben viele von denen, die Jewish Renewal praktizieren, die Meinung, daß Gott uns dazu ruft, von alten Wegen – nämlich ihn als König und Richter wahrzunehmen, wegzukommen hin zu neuen Metaphern, die inniger sind: „Atem des Lebens“ beispielsweise – hin zu einem ganz neuem Paradigma von jüdischem Leben in allen seinen Dimensionen:
- neue Worte des Gebets und mehr mit-dem-Körper-beten
- eine neue Ethik der Sexualität
- neue Formen der Kaschrut (Öko-Kaschrut) um zur Heilung der verwundeten Erde einen Beitrag zu leisten
(Anm. d. Übers: Öko-Kaschrut bedeutet eine Erweiterung des herkömmlichen Kaschrut-Konzepts, in dem Sinn, daß auch danach gefragt wird, unter welchen Bedingungen – sozial und ökologisch – Lebensmittel hergestellt werden und inwieweit diese von einem verantwortlichen Umgang mit den Ressourcen geprägt ist) - neue Bemühungen zu gegenseitigem Respekt zwischen dem jüdischen Volk und anderen Völkern und Traditionen, sowohl in der Welt insgesamt als auch in Israel
- neue Bemühungen um jüdisches Wissen in den öffentlichen Raum zu tragen
Beide Bewegungen, nämlich „Jewish Renewal“ und das, was man „Jewish Restoration“ (z.B. die Baal-Teschuva-Bewegung etc.) nennen könnte, stehen vielen Aspekten des modernen Lebens kritisch gegenüber, speziell der Forderung religiöse Ausdrucksformen zu begrenzen, Gemeinschaftsformen zu vernichten und die Erde zu unterwerfen.