Das jährlich wiederkehrende himmlische Gericht

Die zusammenhängenden Feste, Neujahr und Versöhnungstag, stellen das jährlich wiederkehrende himmlische Gericht dar. Am Neujahrstag wird das Urteil für das kommende Jahr über jeden einzelnen geschrieben und am Versöhnungstag, am letzten der zehn Bußtage, besiegelt.

Während dieser zehntägigen Zeitspanne geht es nicht um historische Erinnerungen, sondern allein um unser Jetzt und Hier, um die Frage nach der Ausrichtung des eigenen Lebens. Zehn Tage lang stehen wir vor Gott, in Selbstüberprüfung, im Versuch, uns trotz der Schwerkraft in uns zu erheben. Wir stehen vor dem Heiligen und haben Anteil an Seiner Zeit, die Er uns gab, um vor Ihm zu bestehen.

An keinem Tag stehen wir in unserem Schauen so nah vor Gott wie an Jom Kipur, dem Tag des Sühnens.

Der biblische Bezug

Mose soll an diesem Tag, dem 10. Tischrej, die Bundestafeln zum zweiten Mal überbracht haben. Wieder verbrachte er vierzig Tage am Berg Sinai, wieder empfing er das Wort aus nächster Nähe. Doch als er diesmal zurückkehrte, konnte er die Botschaft verkünden, daß Gott die Sünde des Goldenen Kalbes vergeben habe. Und dieser Tag der Vergebung wurde von Gott als immer wiederkehrender Versöhnungstag gegeben (Tanchuma‘, ki tissa‘, 31).

Das Festgebot

Am zehnten des siebten Monats, das ist Tischrej, verrichtete der Hohepriester besondere Sühnerituale, um sich selbst und seine Priesterbrüder, das Heiligtum — zu erst das »Zelt der Begegnung«, später den Tempel — und das Volk zu läutern. Das Volk aber sollte sich kasteien: … ihr sollt euch kasteien und keinerlei Arbeit tun, weder der Einheimische noch der Fremde, der unter euch wohnt. Denn an diesem Tag wird Er euch sühnen, um euch zu reinigen, von all euren Sünden werdet ihr gereinigt vor dem Ewigen.« (Leviticus 16: 29-30, vgl. auch Leviticus 23: 27-32 und Numeri 29: 7).

Das Festritual

Jom Kipur war der Tag im Jahr, an dem der Mensch von allen Vergehen, auch denjenigen, die im Lauf des Jahres ungesühnt geblieben waren, geläutert werden sollte. Diese Aufgabe, der längste und äußerst komplexe Tempeldienst, oblag dem Hohenpriester. Zu diesem Ritus gehörten unter anderem Opfergaben, Sündenbekenntnisse, das Aussetzen eines Sündenbockes in die Wüste (»Und ein Bock wird auf sich alle ihre Vergehungen tragen in ein ödes Land.. .«, Leviticus 16:22) sowie das Betreten des Allerheiligsten, das nur an diesem einen Tag geboten und nicht ungefährlich war.

In großer Ausführlichkeit werden Opferhandlungen, Bedeutung und Hergang der Zeremonie in der Torah beschrieben. Das Sühneritual muß dem Volk so viel bedeutet haben, daß »noch bevor der Hahn gekräht hatte, der Israelhof mit Menschen voll war« (Mischnah, Joma‘ 1:8). Sieben von acht Kapiteln des Mischnahtraktats Joma »Tag«, sind der chronologischen Beschreibung des Rituals gewidmet.

Das Ritual nach der Mischnah

Eine Woche vor Jom Kippur verließ der Hohepriester Familie und Haus und zog sich in eine besondere Tempelkammer zurück. In dieser Woche bereitete er sich auf den heiligen Dienst durch strenge Reinigung und Studium der rituellen Einzelheiten vor. Gemeinsam mit den Weisen und Ältesten verbrachte er die Nacht des Versöhnungstages mit dem Lesen der Torah. Wenn der erste Sonnenstrahl die Zinnen des Tempels erhellte, erschien der Hohepriester in seinem goldenen Gewand und brachte das tägliche Opfer dar, sprach mit dem versammelten Volk das Schma‘-Gebet und segnete es. Danach legte er sein Prachtgewand ab, ging im weißen leinenen Gewand eines einfachen Priesters in den Altarhof und bekannte im Angesicht des Opfertiers zunächst sich selbst und sein Haus als sündig, beim zweiten Opfer die Priestergemeinschaft und schließlich beim dritten das ganze Volk. Für die Sünden des Volkes wurden vor ihn zwei gleiche Opfertiere gebracht, eines brachte er als Sühnopfer dar, das andere schickte er in die Wüste als Symbol dafür, daß die Sünden fortgetragen werden an einen Ort, wo nichts lebt.

In jedem Sündenbekenntnis wurde der sonst nie auszusprechende heilige Name Gottes dreimal laut und deutlich ausgesprochen. Dieser Name soll aus 42 Buchstaben bestanden haben, so Ha’j Ga’on (939-1038). Wenn Priester und Volk im Priesterhof und im Israelhof und im Vorhof den Klang des Namens hörten, fielen sie auf die Knie, warfen sich nieder, neigten ihr Gesicht zur Erde und riefen: »Gepriesen sei der Name der Herrlichkeit seines Reiches in aller Ewigkeit«. Dann betrat der Hohepriester das Allerheiligste mit einer Pfanne voll Glut, streute darauf das Räucherwerk, so daß eine Rauchwolke entstand. In diesem für das Beten besonders günstigen Augenblick sprach er ein kurzes Gebet für das Wohl des Volkes und des Heiligtums.

Für die Sühne der »inneren Sünden« mußte er wieder in das Allerheiligste, um mit dem Blut der Tieropfer den Deckel der Bundeslade, kapporet, den trennenden Vorhang, parrochet, und den goldenen Räucheraltar zu besprengen. Im Allerheiligsten des zweiten Tempels stand nur noch ‚Ewen haSch’tijah, »der Grundstein«, da die Bundeslade mit den heiligen Tafeln bei der Zerstörung des ersten Tempels verlorengegangen war. Der Vorhang trennte das Allerheiligste vom heiligen Vorraum, Heichal, in dem sich der goldene Räucheraltar und der siebenarmige Leuchter befanden. Das Verweilen im Allerheiligsten, dem Ort der »Einwohnung Gottes«, Sch’chinah, war für den Priester der Höhepunkt seiner transzendenten Erfahrung, konnte aber auch tödlich für ihn enden, erreichte er die hohe Stufe der Läuterung nicht.

Für das Volk hätte dies bedeutet, daß keine Sühne, keine Versöhnung mit Gott stattgefunden hätte. So wartete das Volk in Sorge und Spannung, daß er aus der unmittelbaren Gegenwart Gottes heil zurückkehrte, und wenn der Hohepriester wieder erschien, soll sein Gesicht herrliches Licht ausgestrahlt haben, wie das Gesicht Mose, nachdem er mit Gott geredet hatte.

Emet mah nehdar

In Anlehnung an das Buch Ben Sira beschreibt Meschullam ben Kalonymus (er wirkte um 1100, zuletzt in Mainz) diesen Augenblick in einem Pijuth, der heute noch zur Liturgie gehört:

Wie war der Hohepriester herrlich,
Wenn er hervortrat aus des Tempels Vorhang!
So strahlt der Morgenstern am Himmel droben,
So glänzt der Vollmond in des Frühlings Tagen,
So blinkt der Sonne Gold auf Zions Tempel,
So leuchtet im Gewölk der Regenbogen,
So blüht die Rose in dem jungen Lenz…

Gebet anstelle der Opferhandlungen

Seit der Zerstörung des Tempels existiert das alles nicht mehr. Doch die innere Kraft, das Bemühen um Reinigung, hat sich bis heute erhalten. Und mit ihr die Sehnsucht. Nicht die Sehnsucht nach den Opferhandlungen, sondern nach dem Heiligtum, dem Ort der Heiligkeit und dem Erlebnis des Heiligen.

Es bleiben die Worte und die Umkehr, jene innere Verfassung, die auch damals dem Ritual seine Bedeutung gab. Auf sie wies bereits der Prophet Hosea (14: 3) hin: »…sprecht zu ihm: Vergib alle Schuld und hole das Gute hervor, und wir werden die Stiere als Sprache unserer Lippen darbringen.«

So begründet die historische Schilderung des Tempeldienstes, Awodah, »Heiliger Dienst«, genannt, ein dramatisches Erlebnis im synagogalen Gebet: Dreimal trägt der Vorbeter, stellvertretend für den Hohenpriester, das Sündenbekenntnis vor, man antwortet und wirft sich nieder, wie damals das Volk im Israelhof.

Fest der Läuterung

Stille, weiße Bekleidung, statt lederner schlichte Schuhe aus Stoff und eine ehrfürchtige Stimmung gehören zu dem Tag, an dem jeder um die eigene Reinheit vor Gott ringt. Auch wer das ganze Jahr nicht in die Synagoge geht, kommt an diesem Abend, um »mit den Sündern« zu beten. Das Licht vieler Kerzen, weiße, silberdurchwirkte Vorhänge und Decken schmücken die Synagoge.

In diesem Licht, in dieser Stille, beginnt die Weihe des höchsten Festes, erklingt das Gebet, das nur am Vorabend des Jom Kippur vorgetragen wird: Kol-Nidrej.

Man fleht, daß die Worte aufsteigen mögen, daß Er die Stimme höre, Gebet und Bekenntnis wohlwollend aufnehme.

Die osteuropäischen Chassidim legten besonderen Wert auf Hingabe und innige Ausrichtung im Gebet. Ein aufrichtig Betender war auch derjenige, der mit Gott haderte.

Die Hemmung

Am Vorabend eines Jom Kppur machte er sich bereit, Kol Nidrej zu sagen, hüllte sich in den Tallit, stellte sich vor die Lade, verharrte aber in Schweigen. Ein Schauer ergriff die Gemeinde, die Sonne war untergegangen, Nacht war es in der Welt, die Kerzen flackerten, doch Rabbi Levi Jizchaq schwieg. Nach einer geraumen Weile wendete er sein Antlitz zur Gemeinde und fragte: »Ist Berl, der Schneider, im Bethaus?«

Man hielt Umschau und meldete ihm: »Nein!« Da sprach der Rabbi zu seinem Diener: »Geh hin und sag, ich hätte befohlen, daß er ins Bethaus kommen soll!«

Der ging und kam mit ihm.

Der Rabbi redete ihn an: »Berl, warum hemmst Du den Aufstieg der Gebete an diesem heiligen Abend?« Berl erwiderte: »Ich habe einen Rechtsstreit mit Gott. Würdet Ihr, heiliger Rabbi, das Richteramt annehmen, dann will ich die Gebete in ihrem Aufstieg nicht hemmen!«

»Leg mir den Rechtsstreit vor!« sagte der Rabbi.

Berl hub zu erzählen an: »Vor einigen Wochen schickte der Gutsherr von Janoschkowitz um mich, daß ich ihm einen Reisepelz mache. Er übergab mir eine große Anzahl von Wieselfellen, denn der Pelz sollte breit und lang sein. Ich stellte den Pelz fertig, breit und lang, und ersparte dennoch zehn Wieselfelle; Ihr wißt doch, Rabbi, daß mich Gott mit vielen Kindern gesegnet hat und daß ich auch eine Tochter zum Verheiraten habe. Nun zerbrach ich mir den Kopf, wie ich die Felle nach Hause bringe, daß man im Hofe nicht darauf komme. Endlich kam mir ein guter Gedanke: ich hatte vom Gutsherrn ein großes Brot geschenkt bekommen. Ich machte es hohl und versteckte die Felle darin, legte das Brot in einen Sack und ging nach Hause.

Ich hatte bereits eine Meile hinter mir, als ich den Galopp von Pferden vernahm. Mein Herz pochte stark, denn ich fürchtete, daß die Sache entdeckt sei, und beeilte mich, das Bündel in einem hohlen Baum zu verstecken. Und nun wartete ich. Bald rollte der herrschaftliche Wagen heran und Jasik, der gräfliche Kutscher knallte mit der Peitsche: ‚He, Berko, zurück!‘ Ich erschrak: ‚Die Wieselfelle!‘ dachte ich und kehrte um. Doch das Ganze war nicht der Rede wert: ich hatte vergessen, einen Hänger anzunähen. So nähte ich den Hänger an und ging wieder nach Hause. Als ich aber an jene Stelle kam, da fehlte das Bündel. Finster ward es um mich, ich legte mich hin und weinte bitterlich in meinem großen Schmerz. Ich sagte mir: ‚Gott hat es getan, weil es ihm mißfiel, daß ein Jude, ein Glied seines auserwählten Volkes, stehle.‘ Nun dachte ich: ihnen, den Bauern, erlaubt er zu stehlen, uns Juden verbietet er es. Da will ich ihm zeigen: ich werde nicht mehr zu den ‚Auserwählten‘ gehören. So sann ich im Herzen.

Als ich nach Hause kam, empfing mich mein Weib liebevoll und sprach: ‚Berl, wasch Dir die Hände und setz Dich zu Tisch!‘ Ich nahm aber Speise und Trank, ohne mich zu waschen, unterließ es auch, den Segen zu sprechen. Seit jenem Tage habe ich nicht gebetet und kein Gesetz beobachtet. Es kamen die Slichah-Tage — ich machte mir nichts daraus. Zu Neujahr brachte ich es über mich, nicht in die Synagoge zu gehen, und unterließ es auch, das Blasen des Schofar zu hören. Ich war fest entschlossen, die ‚Auserwählte Gemeinschaft‘ zu verlassen und zu ‚ihnen‘ zu gehen. Doch es kam der heilige Tag, der Versöhnungstag. Ich dachte:

‚Heute muß ich ihm verzeihen, vergibt doch auch er die Sünden, die man gegen ihn begeht‘. Aber ich stellte eine Bedingung: Ich verzeihe nur, wenn er allen Missetätern, ohne Ausnahme, und mag ihre Schuld noch so schwer sein, verzeihen wird. Ich sprach zu Gott: ‚Vergibst Du alle Sünden, dann will ich auch Dir die gegen mich begangene Sünde vergeben, wenn nicht, dann verzeihe ich auch nicht.‘ Und nun bitte ich Euch, heiliger Rabbi, zu entscheiden, ob ich recht habe oder nicht.«

Rabbi Jizchaq überlegte eine Weile, dann rief er mit Inbrunst: »Das Recht ist bei Dir! Das Recht ist bei Dir!«

Dann stimmte er das Kol-Nidrej an – und noch nie rief er den Satz: »Und Gott sprach: ‚Ich habe vergeben!’« mit so großer Inbrunst wie an jenem Jom Kipur-Abend.

Der Vater

Inmitten des Gebetes am Jom Kippur, da die hohe Glut ihn überkam, rief Rabbi Levi Jizchaq von Berdytschew:

»Herr der Welt! Was willst Du von Deinen Kindern? Die sind böse und mißachten Deine Satzungen. Da frage ich Dich: Ist es hehr und heilig, wenn ein Vater brave, folgsame Kinder lieb hat und ihnen Gutes tut? Erhaben ist es, wenn ein Vater schlimmen Kindern, die seine Ermahnung mißachten und seinen Wünschen zuwiderhandeln, dennoch Liebe und Huld erweist, und darum flehe ich zu Dir, erbarme Dich unser, wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt!«

Vergebung

Im Mittelpunkt dieses erhabensten aller Tage stehen die göttliche Gnade und der Einzelne, der zu Gott, zur Umkehr gerufen wird, um geläutert zu werden. Der Segen des Tages ist das Erleben von Ganzheit und Harmonie. Aus kabbalistischer und chassidischer Sicht offenbart Vergebung die göttliche Gnade, die das Gesetz, das Gut und Böse bestimmt, außer Kraft setzen kann, die Kettenreaktion von Ursache und Wirkung aufhebt, die Verfehlungen der Vergangenheit tilgt und eine neue Gegenwart ermöglicht. Von dieser Vergebung spricht Jesaia (44: 22): »Ich lösche deine Verbrechen wie einen Dunst, deine Sünden wie eine Wolke, kehre zu mir zurück, denn ich erlöse dich.« Diese Vergebung, die das Geschehene ungeschehen macht, unterliegt nicht den Gesetzen von Raum und Zeit. Hier offenbart sich das Höchste und versetzt den Menschen in eine Wirklichkeit jenseits der Grenzen der Welt. Die Mischnah (Jama‘ 8: 9) macht unmißverständlich klar, was gesühnt werden kann:

Sünden zwischen dem Menschen und Gott sühnt Jom Kippur. Sünden zwischen Mensch und Mensch sühnt er nicht, ehe nicht der Mensch den Menschen versöhnt hat.

Umkehr

Berichtigen, Wiederherstellen, Umkehr — das alles gehört zum Wort T’schuwah. Es bedeutet Rückkehr, Zurückkehren zu Gott und seinen Satzungen, Umkehr der Lebensrichtung sowie Antwort. Das setzt nicht nur Gewissenserforschung voraus, sondern eine Zerstörung der Bilder unseres Selbst. T’schuwah benennt einen Prozeß der Befreiung von der niederen Natur mit ihrer Anziehungskraft und der Annäherung an das Göttliche. Alter Überlieferung nach wurde T’schuwah noch vor der Weltschöpfung erschaffen. Damit bekam der Mensch vor seiner Erschaffung die Möglichkeit zur Umkehr (Mischnah, P’ssachim 54:1).

Kasteiung

Wer sich an Jom Kipur vor Gott läutert, wendet sich vom Alltäglichen ab, verrichtet keine Arbeit und entsagt allen leiblichen Genüssen, damit seine ganze Aufmerksamkeit allein seinem Schauen vor Gott gewidmet ist. Die Enthaltung von Essen, Trinken und Sexualität und das Verbot, sich zu waschen und zu salben, sind nicht Zweck des Feiertags, sondern symbolisieren Abwendung vom Materiellen und Zuwendung zum Erhabenen, da alles Irdische ohne Bestand ist. Der Läuterungsprozeß entspringt dem inneren Willen, die Fesseln des eigenen Ichs zu sprengen, seine Begrenzungen zu überschreiten, das Göttliche zu erleben und in sich zu verwirklichen.

Abraham Jizchaq Kook (1865-1935) beschrieb in seinem Werk ,Oroth haTschuwah, »Lichter der Umkehr«, diesen inneren Prozeß: Der erste Schritt sei die Umkehr zu sich selbst, zur Wurzel der eigenen Seele, alsdann kehre man sofort zu Gott, zur Seele aller Seelen zurück.

Bedingungen der Umkehr

Zur Umkehr gelangen kann nur derjenige, der es wahrhaftig will. Denn — so die Mischnah (Joma‘ 8: 9):

»Wenn einer sagt: Ich will sündigen und umkehren, ich will sündigen und umkehren, dann wird ihm keine Möglichkeit gegeben, umzukehren. Sagt er: Ich will sündigen und Jom Kippur wird mich sühnen, dann sühnt Jom Kippur ihn nicht.«

Sa’adjah Ga’on

Sa’adjah Ga’on (882-942) benannte vier Aspekte der T’schuwah: vom Vergehen loskommen, es bereuen, um Sühne bitten und es nicht wiederholen.

Abbahu

Im Talmud (Bawli, B’rachat 34b) ist der lapidare Satz von Abbahu (gest. 309 n.d.Z.) überliefert: »Wo Umkehrende stehen, können vollkommen Gerechte nicht stehen.« Abbahu stellte die Umkehrenden höher als diejenigen, die ihre Makellosigkeit bewahren, und Maimonides (1135-1204) erklärt, warum:

Maimonides

Der Umkehrende ist dem Schöpfer lieb und nah, als habe er nie gesündigt, mehr noch: sein Verdienst ist größer, denn obwohl er die Sünde geschmeckt hatte, wandte er sich von ihr ab und bezwang seinen Trieb.
(Hilchoth Tschuwah 7:4)

Für Maimonides spielt das Bekennen der Schuld eine entscheidende Rolle, denn dadurch nimmt es der Bekennende auf sich, wiederherzustellen, was sich wiederherstellen läßt, und solche Taten in Zukunft zu unterlassen. Durch die Aneignung der Schuld löst sich der Bekennende gleichsam von ihr los.

Bekenntnis

Die Umkehr, das Ringen um die Läuterung und um die geistige Verbindung mit Gott werden durch das Gebet getragen und zum Ausdruck gebracht. Fünf Gebetszeremonien gibt es an Jom Kippur; und zehnmal wird das Viduj-Gebet, hebräisch »Bekenntnis«, gesprochen.

Darin forscht man nicht nach bestimmten Vergehen und Tatbeständen, sondern nach den verborgenen Kräften, in denen der Trieb zum Bösen sich äußert. Haß und Gier, Angst und Bequemlichkeit, Unzucht und Veruntreuung, Vorurteil, Stolz und Grausamkeit — alles Dunkle wird ans Licht gehoben. Wer dieses Gebet mit der Erschütterung, die es fordert, spricht und beantwortet, erkennt sich in einem Licht, das den Zugang zum höheren Selbst und zur eigentlichen Menschlichkeit eröffnet.

In Israel

In Israel ist die Erde noch trocken, das Licht hart, die Hitze drückend. Vollkommene Ruhe herrscht an diesem Tag, als halte das Leben inne: Kein Geschäft ist geöffnet, weder Kino noch Lebensmittelladen, kein Auto fährt, auch der öffentliche Verkehr steht still, aus keinem Fenster dröhnt laute Musik. Junge nicht-religiöse Juden nutzen die Gelegenheit, um auf den leeren Straßen spazieren zu gehen oder Rad zu fahren.

Draußen ist sengende Sonne, und in den Synagogen steht man dicht an dicht, Männer und Frauen getrennt. Manche blieben die ganze Nacht über im Bethaus. Gott kennt ja die Schuld, nun muß sie der Mensch auch selbst erkennen. Die Enge bedrückt, das Fasten schwächt, man hält sich am Wort fest. Alles Bangen und Hoffen hält am Wort fest, vertraut seiner Kraft, das Gebet in den Himmel zu tragen. Wie oft wurde schon, wie oft wird noch Widduj gesprochen, für jeden Buchstaben des hebräischen Alphabets ein Vergehen genannt, 22 Buchstaben, 22 Vergehen, ein vollständiges Bekenntnis aller Vergehen in alphabetischer Reihenfolge.

Das Widduj-Gebet

Unser Gott und Gott unserer Väter. Laß unser Gebet vor dich kommen, entzieh dich nicht unserm Flehen.

Sieh, wir sind nicht so voll Hochmut und so verstockt, daß wir vor dir sprächen: Ewiger, unser Gott und Gott unserer Väter, wir sind gerecht und haben nicht gesündigt — denn wir haben gesündigt.

Wir haben die Treue gebrochen. Wir haben Unrecht getan. Wir haben böse geredet. Wir haben den Weg des Rechts verlassen. Wir haben zur Sünde verleitet. Wir haben in Übermut gehandelt. Wir haben Gewalt geübt. Wir haben uns durch Lüge entwürdigt. Wir haben Böses geplant. Wir haben falsche Reden geführt. Wir haben gespottet. Wir haben gemurrt. Wir haben gelästert. Wir haben das Gute verschmäht. Wir haben uns schwer vergangen. Wir haben uns tief verschuldet. Wir haben gehaßt. Wir haben in Verstockung verharrt. Wir haben gefrevelt. Wir haben zerstört. Wir haben Unwürdiges verübt. Wir haben geirrt. Wir haben in die Irre geführt…

Was sollen wir dir sagen, Hochthronender? Was können wir dir erzählen, Allwaltender? Sieh, alles Verborgene ist dir vertraut… Du durchforschst alle Kammern unsers Innern und prüfst Herz und Nieren, nichts ist dir verhüllt, nichts deinem allsehenden Auge verborgen.

Franz Rosenzweig

Franz Rosenzweig (1886-1929) kommentierte in seinem 1921 erschienenen religionsphilosophischen Hauptwerk „Der Stern der Erlösung“ das Widduj-Gebet: „Und so können die Wir, in deren Gemeinschaft der Einzelne also in seiner nackten und bloßen Menschlichkeit vor Gott an seine Brust schlägt und in deren bekennendem Wir er sein sündiges Ich fühlt wie nie im Leben, keine engere Gemeinde sein als die eine der Menschheit selbst. Wie das Jahr an diesen Tagen unmittelbar die Ewigkeit vertritt, so Israel an ihnen unmittelbar die Menschheit“.

An Jom Kipur trägt mancher Beter in der Synagoge sein Sterbekleid und steht, obwohl mitten in der Gemeinde, doch als Einzelner vor Gott. So wie Gott ihn einst nach seinen eigenen Taten, Worten und Gedanken richten wird, so tritt er jedes Jahr an Jom Kippur vor das göttliche Gericht, um seine Schuld vor Gott zu bekennen und Gnade zu erfahren. Das Gericht, das sonst in die Endzeit gelegt wird, ist hier Gegenwart. Der einzelne, als habe er das Leben hinter sich gelassen und stehe vor dem Tod, legt jeden Schatten seiner Existenz offen, läutert sich und weiß sich angenommen und erhört. In diesem Sinne ist Jom Kippur der jährliche Tag der Erlösung. Und als Erlösungsfest vereint er Momente tiefster Erschütterung und höchster Seligkeit.

Der Satan an Jom Kipur

Einer alten Legende zufolge vermag der Satan an diesem Tag nichts auszurichten: Das ganzeJahr über kann der Satan täglich gegen Israel sprechen, außer an Jom Kippur. Der Heilige, gesegnet sei Er, sagt zu ihm: »Du darfst sie nicht anrühren, aber geh trotzdem zu ihnen und schau, was sie tun.« Da der Satan sie aufsucht, findet er sie fastend und betend, weiß gekleidet und eingehüllt wie die Dienstengel. Also kehrt er zutiefst beschämt zurück. Der Heilige, gesegnet sei Er, sagt zu ihm: »Was hast du an meinen Kindern auszusetzen?« Sagt der Satan: »Sie sind wie die Dienstengel, und ich kann sie nicht anrühren.« Sofort fesselt ihn der Heilige, gesegnet sei Er, und verkündet seinen Kindern: »Ich habe vergeben.« (Midrasch Tehillim, 27)

Ne’ilah

Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang — das Fest dauert schon 24 Stunden — beginnt man mit dem Schlußgebet, N’eilah, der fünften und letzten Gebetszeremonie des Tages. Sie entspricht dem Gebet, das vor dem Schließen der Tempeltore gesprochen wurde. In dieser Stunde, da der heilige Tag zu Ende geht, kommt der Augenblick der Vergebung und der Besiegelung des Kommenden. Ein letztes Mal gibt man alle Selbstherrlichkeit auf und bekennt sich unwissend, arm und leer. Ein letztes Mal fleht man, daß die Gebete erhört werden, die Umkehr beantwortet wird:

…öffn‘ uns das Tor,
Eh‘ das Tor sich uns schließt,
Eh‘ die Nacht uns grüßt,
Denn schon neigt sich der Tag.

Da der Abend schon winkt
Und die Sonne versinkt —
Eh‘ sie schwindet dahin
In dein Tor laß uns ziehen!

Am Ende des heiligen Tages sprechen Vorbeter und Gemeinde noch einmal mit lauter Stimme »Höre Israel, der Ewige unser Gott, der Ewige ist Einer« (Deuteronomium 6:4), dreimal den Vers »Gepriesen sei der Name der Herrlichkeit seines Reiches in aller Ewigkeit« und zum Schluß siebenmal den Vers »Der Ewige — Er ist Gott« (1.Könige 18:39), um die Sch’chinah, die nun wieder hinaufsteigt, zu begleiten. Dann wird das Qaddisch vorgetragen und ein letztes Mal der Schofar geblasen. Der aushallende Stoßton beendet den Festtag. Vielleicht gemahnt sein Klang an die letzten Dinge.

Der lange Tag ist zu Ende. Man ist hungrig und erschöpft, und doch verweilt man noch einen Augenblick in der Synagoge, bricht nicht gleich auf, geht nicht gleich essen, damit die Heiligkeit des Tages noch einen Augenblick bei einem weilt.

Quelle: Das Buch der jüdischen Jahresfeste von Efrat Gal-Ed