Haasinu – Der Poet des Ewigen

Rabbiner Dr. Jakob Teichman

Wenn man in Ländern, wo die Bibel verbreitet ist, eine Umfrage veranstalten würde, warum der heutige Mensch – auch der Ungläubige – den fünf Büchern Mosches mit einem gewissen Respekt gegenübersteht, würde wahrscheinlich in erster Linie auf die Weisheit hingewiesen werden, die in diesen Büchern zu finden ist.

Selbst ohne diese Weisheit zu akzeptieren, beweisen Viele gerade durch ihre kritische Haltung, dass die Tora vor allem ihren Verstand anspricht. Anderseits betonen auch Gläubige, welche die Lehre Mosches als ewig göttliche Offenbarung anerkennen, dass die darin enthaltene Belehrung über allem menschlichen Wissen stehe und deshalb unentbehrlich sei für den denkenden Menschen, der die Grenzen seines Verstandes kennt.

Jüdische Gelehrte wie Laien, Fromme wie Areligiöse zitieren und bejahen mit Stolz den Vers: «Hütet und verwirklicht (die Tora), denn sie ist eure Weisheit und eure Vernunft in den Augen der Völker, die diese Gesetze hören und sprechen werden: ‚Es ist doch eine weise und vernünftige Nation, dieses große Volk.’» (5. M. 4, 6)

Von einem Werk, das den Verstand ansprechen soll, erwartet die Welt, dass es in nüchterner Prosa geschrieben worden ist. Besonders die letzten Abschnitte sollten mit absoluter Präzision das Ganze zusammenfassen, um jeden denkenden Menschen zu verpflichten. Gesetz und Gedicht stehen nach allgemeiner Ansicht in ausgesprochenem Widerspruch.

Um so überraschender wirkt der krasse Stilwechsel in den letzten Kapiteln der Tora. Wohl ist bereits im ganzen fünften Buch ein subjektiver, lyrischer Ton spürbar, jedoch ist es in fast allen seinen Teilen in Prosa abgefasst. Plötzlich wechselt nun die Tora von Prosa zu Poesie, von Rhetorik zu Lied; selbst die strengsten Ermahnungen sind in poetischer Form ausgedrückt. Sogar das Gebot, die gesamte Tora aufzuzeichnen – was jedem einzelnen von uns auferlegt worden ist – wird in Zusammenhang mit diesen abschließenden Dichtungen erlassen – übrigens bereits im Wochenabschnitt Wajelech: «Schreib auch dieses Lied auf und lehre es die Kinder Israel, leg es ihnen in den Mund…» (5. M. 31, 19)

Wahrheit bleibt in allen ihren Formen Wahrheit. Ein Lied, das ein gottbegnadeter Poet singt, vermag wahrhaftig «ganze Bände zu sprechen» – oder zumindest solche würdig abzuschließen. So auch das Lied Mosches. Er bietet darin Allen, welche die Tora mehr mit dem Gefühl als mit dem Verstand erfassen, seine große Hilfe an. Und doch ist sein Lied keine Alternative zur «Prosa» unserer Pflichten, sondern eine letzte Ermahnung zu ihrer Erfüllung, «ein Zeuge gegen die Kinder Israels», falls sie nicht gehorchen sollten (5. M. 31, 19; 31, 21). Aber auch die härtesten Worte der Zurechtweisung sind mit Liebe – Liebe des Ewigen und Liebe des göttlichen Poeten – durchtränkt. Und diese Liebe fordert Israel heraus, aus Liebe zu gehorchen. Dieses Lied lullt nicht ein. Es weckt. Es ist die Stimme des Rufers und des Zeugen.

«Mit deinem ganzen Herzen…» (5. M. 6, 5)

«Sie haben mich durch Ungötter herausgefordert, durch ihren Tand erzürnt – auch ich werde sie durch ein Unvolk quälen, durch eine nichtswürdige Nation leiden lassen.» (5. M. 32, 21)

Das hebräische Verb kane, das wir hier mit herausfordern bzw. quälen übersetzen, bedeutet wörtlich «glühend werden», «in Hitze geraten», «Zorn erregen» und auch im Eifer handeln. Auf Grund dieses Bedeutungswandels gelangen nichtjüdische Bibelübersetzer – so auch im eben zitierten Vers – zur Redewendung eifersüchtig machen. Tatsächlich hat der ganze Satz, nicht nur dieses eine Wort, eine gefühlsbetonte Bedeutung, die weit über die erwähnte sprachliche Eigentümlichkeit hinausgeht. Das eine ist die wiederholt verkündete Lehre des jüdischen Glaubens, dass der Ewige, der alles umfasst, auch alles fordert. Er ist unteilbar, und auch die Beziehung zwischen Ihm und dem Menschen beruht auf Ausschließlichkeit. Für Seine Liebe verlangt Er Treue. – Das andere ist Seine große Gerechtigkeit: Die Schuld bestimmt das Strafmaß und die Art des Vergehens die Form des Strafvollzugs. Wenn Israel Ungötter verehrt, wird es der Ewige durch unwürdige Menschen leiden lassen.

In diesem Gedankengang aber kann der Buchstabe des Gesetzes zu ungerechter Strenge führen. Eben aus diesem Grunde wurde das missdeutete Rechtsprinzip «Auge um Auge» (richtig: «ein Auge an Stelle eines Auges»; 2. M. 21, 23-27) von jüdischen Gelehrten nie anders als auf die Abklärung des verursachten Invaliditätsgrades und die gerichtliche Festsetzung des Schadenersatzes bezogen. Dabei wird – trotz der Gleichheit aller vor dem Gericht – in einem bestimmten Fall auch der Stellung des Geschädigten Rechnung getragen: Ein Sklave – oder eine Sklavin -, dem sein Herr ein Auge oder einen Zahn ausschlägt, erhält den höchsten Schadenersatz, den es gibt, nämlich seine Freilassung.

Wenn aber die Ungleichheit unter den Menschen zur Begünstigung des Schwachen und Unterdrückten Anlass bietet, so wird auch verständlich, dass die offensichtliche Verschiedenheit des menschlichen Wesens vom Ewigen jeden Vergleich zwischen menschlicher Herausforderung und göttlicher Bestrafung von vornherein ausschließt. Was dem Ewigen höchstens «missfällt», kann für den Menschen, nach selbem Maß vergolten, tödlich sein.

Die Legende erzählt, dass unsere Mutter Rachel sich diesen Gedankengang zu eigen machte. Als der Ewige beschloss, sein Volk wegen seiner Sünde in die Hand Babylons zu geben, da traten die Stammväter sowie Mosche und Jirmijahu einer nach dem anderen vor Ihn und versuchten mit aller Eloquenz, das schwere Schicksal abzuwenden. Der Ewige aber gab auf jedes Argument eine ablehnende Antwort. Da sprang Rachel vor den Thron und rief: «Herr der Welt, Du weißt, wie Ja’akow mich liebte, und dass er sieben Jahre lang für mich bei meinem Vater diente. Als der Tag unserer Hochzeit kam, beschloss mein Vater, ihm an meiner Stelle meine Schwester zu geben. Ich unterdrückte meine Eifersucht und ließ sie nicht zur Schande werden. Ich, die ich nur Fleisch und Blut, Staub und Asche bin, ich brachte es fertig, den Neid gegen meine Rivalin zu überwinden. Wie kannst Du, Du ewig lebender, barmherziger König, den nichtigen Götzen gegenüber Neid verspüren und meine Kinder in die Verbannung schicken?» – Da erbarmte sich der Ewige und sprach: «Um deinetwillen, Rachel, bringe Ich sie zurück.» (Jirm. 31,15)

Land und Volk

«Es versöhnt sein Land sein Volk» (5. M. 32, 43).

Mit diesem tröstlichen Ausblick endet Mosches Lied, das er zum Abschied von seinem Volk und von dieser Welt singt. Es geht ihm dabei nicht um eine Versöhnung im üblichen religionsphilosophischen Sinne des Wortes, sondern um einen Ausgleich in der Geschichte, welcher Israel helfen soll, sein Leid und das ihm angetane Unrecht zu vergessen. Deshalb schlägt R. Schlomo Jizchaki vor, das Verb razeh hier nicht mit und es versöhnt – sondern mit und es besänftigt zu übersetzen.

«Land» und «Volk» sind hier gleichgestellt, sogar gleichgesetzt. Dies wird durch die eigenartige Satzkonstruktion demonstriert, in der eben das Fehlen einer Konjunktion zwischen den beiden Worten deren tiefe innere Verbindung spüren lässt. In den Jahrtausenden, in denen Land und Volk zusammen Niederlagen erlitten oder getrennt und doch füreinander kämpfend Siege davontrugen, ist aus dieser unmodulierten Zweisamkeit eine sensible Wechselbeziehung entstanden. Die Hoffnung der Zerstreuten war das Land, das auf sie wartete, und die Hoffnung des verlassenen Landes war das Volk, das von ihm träumte. Die Wechselbeziehung zwischen Volk und Land ging so weit, dass das heimatlose Volk vorübergehend sich selbst als «die Heimat» betrachtete, um dem Warten auf die Erlösung einen Sinn zu geben.

So ist die Deutung Rabbi Schlomos zutreffend, wenn er schreibt:

«Welches ist ’sein Land‘? Sein Volk! Wenn sein Volk getröstet wird, wird auch sein Land getröstet.» – Ibn Esra geht in seiner Erklärung kritisch und systematisch vor; er schreibt: «Es gibt solche, die meinen, der Sinn des Verses sei derselbe, als ob hier ‚Er besänftigt sein Land und sein Volk‘ stünde. Die legendäre Deutung wiederum sagt, das Land bringe dem Volk die Sühne. Auch dies passt jedoch nicht in den Zusammenhang; zudem müsste w’chipra stehen, weil das als Subjekt vorgeschlagene Wort Adama (Erde, Land) im Hebräischen weiblich ist. Darum ist meine Auffassung, dass das Volk dem Lande Sühne erwirkt.

Man kann das Wort w’chiper auch mit es wird reinigen übersetzen, in dem Sinne, wie es bei J’cheskel (39,11-16) zu lesen ist, dass das Volk Israel – nachdem der Krieg gegen Gog beendet sein wird – sein Land reinigen würde» (Awraham Ibn Esra zu 5. M. 32, 43).

Besonders aktuell scheint uns Ibn Esras Kommentar zu sein. Die Betonung der aktiven Rolle des Volkes in der Erlösung Israels, wie er sie versteht, ist der Kerngedanke der zionistischen Idee geworden. Sein Hinweis auf die Vision J’cheskels, der die Beendigung der Kriege gegen Gog verkündet, entspricht dem tiefen Wunsch Israels, endlich in Frieden zu leben. Seine Deutung des Wortes w’chiper im Sinne von Reinigung lässt alle erfreut aufhorchen, die sich das Heilige Land nicht anders als voll hoher Moral und tiefer Religiosität vorstellen möchten.

Die fernen Himmel – und die nahe Erde…

Mosche beginnt seine Abschiedsrede mit den Worten: «Haa’sinu – horcht auf, Ihr Himmel, ich will sprechen, und höre die Erde die Sprüche meines Mundes!» (5. M. 32, 1). – J’schaja sagt fast das Gleiche, wendet sich jedoch mit der Aufforderung, ha’asini – horche, an die Erde; er sagt:

«Schim’u – hört, Ihr Himmel, und horche, 0 Erde!» (Jes. 1, 2). – Woher nun dieser Unterschied, trotz der auffälligen Ähnlichkeit? Warum verlangt Mosche vom Himmel, dass er «sein Ohr neige» (das Tätigkeitswort ha’asinu ist vom Hauptwort Osen – Ohr gebildet und bedeutet etwa: sich etwas ins Ohr sagen lassen), während J’schaja das Selbe nur von der Erde erwartet?

Die Gelehrten, die auf diese stilistische Eigentümlichkeit hinweisen, erklären sie damit, dass Mosche näher zum Himmel war, so konnte er ihm seine Worte «direkt ins Ohr» sprechen. J’schaja hin gegen war näher zur Erde, deshalb musste er sich damit begnügen, sich unmittelbar an die Erde zu wenden. Auch unsere Sprache – die Sprache des modernen Menschen – ist durch das biblische Weltbild geprägt, in dem das Universum für das menschliche Verständnis etwa «dreistöckig» erscheint: Himmel, Erde und die Urtiefe (1. M. 1, 1-2).

Die neuzeitliche Wissenschaft vermochte dieses Weltbild nur in seinen Proportionen und Relationen abzuändern. Die Erde ist «kleiner» geworden; sie ist heute «messbar»… Die Himmel erfuhren – gleich dem biblischen Weltbild – nunmehr auch in unserer mit dem Teleskop unterstützten Phantasie eine erschütternde Ausdehnung; ihre Weite ist praktisch unermesslich. Denn, was kann schon der gewöhnliche Sterbliche mit einer Unzahl von Lichtjahren an fangen? Er muss überwältigt mit den Worten des Psalmisten sagen:

«Ewiger, unser Herr, wie mächtig ist Dein Name auf der ganzen Erde, Du, dessen Ruhm am Himmel hallt!» (Ps. 8, 2) – Die amerikanischen Astronauten, die auf dem Mond landeten, hinterließen dort mit einem guten Grund die Abschrift dieses Psalms…

Auch das biblische Bild der Urtiefe behielt in der Vorstellung – ja auch in der Erfahrung – des modernen Menschen seine Gültigkeit. Nur eben seine Dimensionen wuchsen ins Unendliche… Denn, in dem Moment, da die Wissenschaft die Idee des sich ständig ausdehnenden Universums zu dozieren begann und folglich die Erde auch in unserer Phantasie in diese Unendlichkeit katapultiert wurde, hörte in der Vorstellung des modernen Menschen auch die gedankliche Platzierung der Urtiefe unter der Erde auf, sie ist überall erschreckend gegenwärtig, wo der Mensch sich in seinem physischen und moralischen Weltbild keinen Himmel mehr vorstellen kann. – Die jüdische Glaubensphilosophie weist auf einen Ausweg aus diesem modernen Chaos hin, indem sie den Ewigen, unter anderem, Ha-Makom – der Ort nennt. Das heißt, dass Er alles, Höhe und Tiefe, das für uns Messbare und das für unsere Dimensionsbegriffe Unvorstellbare, umfasst, beherrscht und verwaltet.

J’schaja sieht und zeigt das wandelbare Bild der Welt, wie sie in den Augen des Menschen, der auf der Erde steht, augenblicklich erscheint. Er steht auf einer bestimmten Stufe der Geschichte und in der Kette der geistigen Entwicklung. Sein Standort ist ein Teil «des Ortes», wie die Erde selbst, Mosche hingegen steht «an dem Ort». Er lauscht dem Himmel, und der Himmel horcht auf, auch die Erde hört, wenn er spricht. Er verkörpert den Glauben, der vom Sinai verkündet, für alle Menschen und für alle Zeiten reicht.

Aus: Zeitnahe Betrachtungen zu den fünf Büchern Mosches – Sein Licht in Deiner Hand, Rabbiner Dr. Jakob Teichman, Herausgegeben vom Rabbinat der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, erschienen bei Morascha.