Gott wohnt hier nicht mehr

Über Heiligkeit, Souveränität und die Entweihung des Heiligtums

Von Moshe Halbertal

Der israelisch-palästinensische Konflikt ist kein Grenzstreit. Es ist ein Streit zweier Besitzer, die dasselbe Stück Land beanspruchen — ein Streit, der nur durch einen Kompromiss gelöst werden kann. Nach jahrelangen Bemühungen wurden die äußeren Kreise des jüdisch-arabischen Konflikts (d.h. Israels Grenzstreitigkeiten mit seinen Nachbarn) nach und nach abgetragen. Doch paradoxerweise — und entgegen jeder internen und politischen Logik — wurde der Kampf genau zu dem Zeitpunkt, als das Ende des Konflikts bereits in greifbarer Nähe lag, schärfer denn je zuvor und weitete sich zu einem Religionskrieg aus — einem Kampf zwischen Juden und Muslimen.

Die Positionierung des Tempelbergs und des in seinem Zentrum gelegenen symbolischen heiligen Felsens verwandelte den nationalen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern in eine religiöse Konfrontation, die droht, die gesamte Region zu erschüttern. Wasser- und Landrechte und die Rückführung von Flüchtlingen sind sicherlich schwierige Themen, die aber Kompromisse zulassen. Durch die Erhebung des Kampfs auf die symbolische Ebene und seine Aneignung durch Religionsführer wird der Streit in einen ausweglosen apokalyptischen Showdown zwischen Religionen verwandelt. Land und Wasser können geteilt werden. Doch wie teilt man ein Symbol?

In der sich entwickelnden religiösen Debatte haben beide Parteien einen ähnlichen, jeweils jeder Grundlage entbehrenden Anspruch erhoben, der Heiligkeit und Souveränität direkt miteinander verknüpft. »Wenn uns ein Ort heilig ist, so gehört er uns«, lautet das von Rabbinern, Kadis, Staatsmännern, Politikern und Unwissenden immer wieder heruntergebetete Mantra. Das Oberrabbinat etwa erklärte eiligst, das Aufgeben der Souveränität über den Tempelberg wäre ein Schlag gegen alles, was den Israelis heilig ist — als gäbe es eine Art axiomatischer Verbindung zwischen Heiligkeit und Kontrolle.

Tatsächlich aber ist es genau umgekehrt: Heiligkeit existiert in einer Zeit, an einem Ort oder in einer Person, die gerade keinerlei Herrschaft unterworfen sind. Heilige Zeit im Sinne der Halacha, des jüdischen Gesetzes, ist jener Zeitraum, in dem das steuernde, kreative Schaffen des Menschen zum Stillstand kommt. Die Heiligkeit der Zeit drückt sich im jüdischen Gesetz vor allem im Arbeitsverbot des Schabbats aus, das alles steuernde, kreative Streben beiseite wischt. »Arbeit« ist nicht allein anstrengende Tätigkeit. Ein Mensch, der die Schabbatgebote einbält, darf ohne weiteres einen schweren Schrank von einer Stelle seiner Wohnung an eine andere schieben, ohne den Schabbat dadurch zu entweihen. Doch schon die geringste Veränderung in der Welt, die ihn umgibt, gilt als ein Verstoß gegen die Gebote des heiligen Tages.

Das Profane hingegen ist ein kontrollierter und untergeordneter Raum. An Wochentagen ist der Mensch schöpferisch und möchte kontrollieren. Am Schabbat wird die Natur als Geschenk betrachtet. Sie wird akzeptiert, wie sie ist, ohne Wunsch nach Veränderung.

Dieser Ansatz zum Begriff der Heiligkeit, bei dem Souveränität und Heiligkeit einander widersprechen, wird von allen Manifestationen des jüdischen Gesetzes, ob groß oder klein, geteilt. Ein Schmitta-Jahr, jedes siebente Jahr, zwingt etwa Bauern, ihre Felder brachliegen zu lassen. Für das jüdische Gesetz ist die Frucht des siebenten Jahres heilig, und so ist es dem Menschen verboten, die Frucht zu manipulieren. Sie darf gegessen, doch nicht verarbeitet werden. Sie kann zum Beispiel nicht von der Pharmaindustrie genutzt werden.

Das Heilige ist ein Raum, der sich dem direkten Zugriff wie auch der Kontrolle entzieht. Ein heiliger Ort kann von Menschen nicht als Mittel zum Zweck benutzt werden. So ist es verboten, eine Synagoge zu durchqueren, nur um dadurch einen Weg abzukürzen. »Ein Mensch darf den Tempelberg nicht mit seinem Gehstock, seinen Schuhen und seiner Tasche betreten, mit Staub an seinen Füßen, oder ihn als Abkürzung benutzen«, lehrt uns die Mischna. Die Essenz der Heiligkeit in all ihren halachischen Variationen ist Trennung, Rückzug. Das Ziel ist die Einschränkung von Kontrolle und Souveränität.

Die meisten Experten für jüdisches Gesetz bestätigen, dass der Tempelberg an sich heilig ist. Genau deshalb dürfen ihn Juden heute nicht betreten. Doch wie kann man das Besitzrecht für einen Ort beanspruchen, auf den man noch nicht einmal seinen Fuß setzen darf? Seit der Zeit des Zweiten Tempels, von den Makkabäern bis hin zu den Zeloten, wurden heftige Kämpfe um die Kontrolle über den Tempelberg geführt. Aber diese Schlachten standen noch im Zeichen des jüdischen Kampfs gegen den Götzendienst, gegen das imperialistische Bemühen Griechenlands und Roms, Standbilder im Allerheiligsten zu errichten.

Die Muslime, das wird niemand bezweifeln, sind keine Götzenanbeter. Sie halten sich streng an das Verbot der bildlichen und figürlichen Darstellung. Der Islam hält die absolute Einzigartigkeit Gottes hoch, das schrieb schon Maimonides. Doch bei dem heftigen Kampf um das Recht jeder Seite, die eigene nationale Flagge über dem Tempelberg zu hissen, handelt es sich um einen klaren Fall von Errichtung von Standbildern im Allerheiligsten und um die Verwandlung der heiligen Stätte in einen Raum der Manipulation im Kontext eines nationalen Kampfs. Muslime und Juden, beide denselben Gott anbetend, haben den Ort des Tempels in einen Altar des Molochs, des Gottes der Menschenopfer, verwandelt. Menschen auf beiden Seiten, die sich als Diener Gottes bezeichnen und die Religion monopolisiert haben, sind bereit, eine ganze Generation junger Menschen zu opfern, um die Kontrolle über den heiligen Ort zu erlangen. Von ihnen spricht der Psalm, wenn er sagt: »Der im Himmel thronet, lachet, der Herr spottet ihrer.« (Tehilim/Psalm 2,4.)

Das Vergießen von Blut an einem heiligen Ort

Das Vergießen von Blut an einem heiligen Ort ist freilich keine neuzeitliche Erscheinung. Heiligkeit verfügt über die seltsame Eigenschaft, Kräfte der Korruption und Unreinheit anzuziehen. In der Tossefta zum Talmud-Traktat Joma erfahren wir von einem Zwischenfall, der sich gegen Ende der Zeit des Zweiten Tempels ereignet hat: Während eines sportlichen Wettkampf um das Recht, einen bestimmten Tempelritus auszuführen, erstach ein Priester einen anderen.

»Es waren einmal zwei Priester, die in einem Rennen auf der Rampe gleichauf waren. Einer der beiden stieß den anderen an, so dass dieser das Rennen um vier Ellen verlor. Der Verlierer ergriff ein Messer und stieß es in das Herz seines Gegners.
Rabbi Zadok stand auf den Stufen zum Saal und sagte: „Wenn ein Erschlagener im Freien gefunden wird und die Identität desjenigen, der ihn getötet hat, nicht bekannt ist, so sollen Eure Ältesten und Richter hinausgehen und die Entfernungen zwischen dem Erschlagenen und den in der Nähe gelegenen Ortschaften messen. Welche Ortschaft nun die nächstgelegene ist, deren Älteste sollen eine Färse darbringen (Deuteronoonum 21,1-4). Laßt uns messen und sehen, für welchen Ort die Färse dargebracht werden soll: für das Heiligtum oder für den Innenhof?“
Und dann weinten sie alle. Da kam der Vater des jungen Mannes herbei und sagte: „Brüder, ich bin Euere Buße. Mein Sohn windet sich noch. Das Messer wurde nicht entweiht.“
Daraus lernen wir, dass die Unreinheit eines Messers für die Israeliten von größerer Wichtigkeit war als vergossenes Blut. Es steht auch geschrieben: „Und auch unschuldiges Blut vergoss Menasche sehr viel, bis dass er Jerusalem damit erfüllte von einem Ende bis zum andern“ (2 Könige 21,16). Daraus lernen wir wiederum, dass Blutvergießen dazu führt, dass die Schechinah, die Gottesgegenwart, sich entfernt und der Tempel entweiht wird.“

Während eines Rennens um das Recht, einen Ritus auszuführen, ersticht also ein hitzköpfiger Priester seinen Konkurrenten im Tempel. Rabbi Zadok, der zufällig anwesend ist, wendet sich den Leuten zu und verweist voller Schmerz auf die Bußegesetze in Deuteronomium, die vorsehen, dass in einem solchen Fall einer Färse das Genick gebrochen wird. Die Bibel beschreibt dabei ein Ereignis, in dem außerhalb der Stadtmauern ein Ermordeter aufgefunden wird.

Die Ältesten der Stadt, die dem Fundort des Leichnams am nächsten gelegen ist, sind verantwortlich für die Sicherheit der Reisenden im Umkreis ihrer Stadt. Sie werden angewiesen, eine Färse zu besorgen und ihre Sünde zu büßen mit den Worten: „Unsere Hände haben nicht vergossen dieses Blut, und unsere Augen haben nichts gesehen.“ (Deuteronomium 21,7.)

Doch weil sich der besagte Fall innerhalb des Tempels zugetragen hat, fragt Rabbi Zadok, ob die Pflicht für die Opferung der Färse auf das Heiligtum oder auf den Innenhof entfällt, die beide in der Nähe des Tatorts liegen. Die Menschen, die erkennen, um welch schwerwiegende Angelegenheit es sich da handelt, brechen in Tränen aus. Buße ist möglich, solange die Heiligkeit des Tempels bewahrt bleibt. Doch wie kann es Buße geben, wenn der Tempel selbst entweiht wurde?

Doch ist die Angelegenheit mit den schockierenden Worten von Rabbi Zadok nicht zu Ende. Während er und das Volk noch den Mord betrauern, eilt der Vater des attackierten Priesters herbei und ruft erleichtert aus: „Mein Sohn windet sich noch. Das Messer wurde nicht entweiht.“ Das Mordmesser war ein heiliges Instrument, das für Tempelriten verwendet wurde, und wie wir alle wissen, bedeutet die Berührung mit einem Toten (für Priester/Cohanim) Unreinheit. Im Gegensatz zu Rabbi Zadok sorgt sich der Vater des Priesters nicht um die Entweihung des Tempels oder gar um das Leben seines Sohnes. Was ihn interessiert, ist, ob das Messer unrein wurde. Sein Sohn ist noch nicht tot, also kann das Messer noch gerettet werden. Dem Erzähler dieser Begebenheit erscheint das Verhalten des Vaters offensichtlich nicht ungewöhnlich. Mit seinem lapidaren und kritischen Kommentar fasst er die gesamte kulturelle Situation am Vorabend der Zerstörung des Tempels zusammen: „Daraus lernen wir, dass die Unreinheit eines Messers für die Israeliten von größerer Wichtigkeit war als vergossenes Blut.“ Diese kaustische Anmerkung zur Stimmung während der späten Periode des Zweiten Tempels bietet einen tiefen Einblick in die Umstände, die vielleicht zur Zerstörung des Tempels und zum Zusammenbruch der jüdischen Gesellschaft geführt haben könnten.

Während der Monate im Herbst 2000, in denen Blut auf dem Tempelberg floß und beide Seiten ihre Bereitschaft demonstrierten, die jungen Menschen Israels und Palästinas auf dem Altar des Molochs zu opfern, hätten jüdische und islamische Führer sich den Worten der Tossefta zuwenden sollen. Jene, die den Tempelberg für sich beanspruchen und davon träumen, ihr Leben im Hause Gottes zu verbringen, sollten wissen, dass die Schechina, die Gottesgegenwart, diesen blutgetränkten Ort verlassen hat. Gott wohnt hier nicht mehr.

Um den israelisch-palästinensischen Konflikt zu beenden, müssen ein paar harte, aber legitime Fragen gestellt werden: Ist es den Palästinensern ernst mit ihrem Wunsch nach Frieden? Was sind Israels Sicherheitsbedürfnisse, und wie können sie mit einem angemessenen souveränen Territorium für die Pälästinenser in Einklang gebracht werden? Ist ein jüdischer demokratischer Staat mit der demographischen Perspektive, die sich uns heute bietet, möglich?

Und dann ist da noch die jüdische Verbindung zum Tempelberg, verknüpft mit der sensiblen Frage der palästinensischen Anerkennung der nationalen und historischen Rechte des jüdischen Volkes sowie der Garantie auf freien Zugang zu den heiligen jüdischen Stätten. Die Debatte um diese Fragen ist wichtig und legitim, doch diejenigen, die darauf bestehen, die Diskussion über Souveränität auf die Tradition der Heiligkeit zu begründen, entweihen, was heilig ist.

Moshe Halbertals Artikel erschien am 5. Januar 2001 in der israelischen Tageszeitung Ha‘aretz. Aus dem Englischen von Maurice Tszorf. Er erschien außerdem im Jüdischen Almanach 2002.