Der Glaubenseifer in Torah und Talmud, in Halacha und Agada

Der nach Pinechas, dem Eiferer benannte Wochenabschnitt greift das Phänomen des Glaubenseifers auf. Die Stellungnahme zu diesem Problem ist heute eine äußerst aktuelle Frage geworden. Es ist deshalb von großer Wichtigkeit, festzustellen, welchen Platz der fanatische Eifer in Bibel und Talmud einnimmt und was unsere Dezisoren dazu zu sagen haben.

Dem einfachen Sinn des Textes nach zu urteilen, ist die Stellung der Bibel eine absolut positive, denn es heißt: „Pinechas, Sohn Elasars, Sohnes Aharons des Priesters, hat meinen Grimm abgewendet von den Kindern Israel, indem er an meiner Statt eiferte unter ihnen, dass ich nicht aufrieb die Kinder Israel in meinem Eifer. Drum sprich: Ich gebe ihm meinen Bund des Friedens. Es sei ihm und seinen Nachkommen nach ihm der Bund des ewigen Priestertums; dafür dass er geeifert hat für seinen G“tt und gesühnt hat die Kinder Israel“ (Kap. 25, 10-13).

Dieser klaren und eindeutigen Einschätzung gegenüber stehen erstaunliche Aussprüche im Talmud. Im Jeruschalmi — Sanhedrin Kap. 9, Halacha 7 finden wir zwei Aussprüche, die für unser Thema wichtig sind:

„Pinechas handelte nicht im Sinne unserer Weisen“.

Rabbi Bar Pasi sagte: „Man wollte ihn schon aus der Gemeinde ausstossen, als der Heilige schützend eingriff und erklärte: Es sei ihm und seinen Nachkommen nach ihm der Bund des ewigen Priestertums.“

Auch im Bawli (babylonischer Talmud, Sanhedrin 82a) wird die Frage aufgeworfen, ob Pinechas recht gehandelt habe oder nicht. Drei verschiedene Ansichten sind hier vertreten, und alle stützen sich auf denselben Vers: „Als Pinechas, Sohn Elasars, Sohn Aharons des Priesters, das sah, da stand er auf aus der Mitte der Gemeinde und nahm eine Lanze in seine Hand“ (Kap. 25, 7). Die Talmudlehrer, deren Ansichten an dieser Stelle zum Ausdruck kommen, versuchen die Frage zu beantworten, warum Pinechas es wagte, ohne die Erlaubnis unseres Lehrers Mosche zu handeln.

Raw sagte: Er sah die Tat und gedachte der Halacha und sprach zu Mosche: ich habe von dir die Überlieferung, dass denjenigen, der einer Kutäerin beiwohnt, die Eiferer töten; da sagte er zu ihm: der den Brief zu lesen versteht, sei auch sein Überbringer… (du musst die Halacha in die Tat umsetzen), sofort nahm er einen Speer in seine Hand. Dieser Auffassung nach hatte Pinechas mit der Zustimmung Mosches und auf seinen Befehl gehandelt.

Im Gegensatz dazu meinen die anderen Amoraim*, dass Pinechas seine Tat nur aus eigenem Antrieb vollbracht hat. Schemuel sagte: „Keine Klugheit und keine Einsicht und keine Überlegung gilt wider den Herrn“ (Sprüche 21, 30), d.h., wenn es um die Entweihung des g“ttlichen Namens geht, erweist man dem Weisen keine Ehre. Dazu bemerkt Raschi: „Deshalb erlaubte sich Pinechas, eine halachische Entscheidung in Gegenwart seines Lehrers zu treffen (und dementsprechend zu handeln). Er vergeudete nicht die Zeit, um Mosche um Erlaubnis zu bitten, damit die anwesenden Zuschauer aus seinem Zögern nicht die falsche Folgerung ziehen sollten, dass es erlaubt sein könnte, einer Aramit beizuschlafen.

Der dritte Amora, Rabbi Jizchak sagt: „Pinechas sah, dass ein Engel des Verderbens sich näherte und anfing, das Volk zu schlagen — „da stand er auf aus der Mitte der Gemeinde.“

In der halachischen Entscheidung des Maimonides finden wir eine Zusammenfassung der Ansichten seiner Vorgänger. Er schreibt:

„Wer einer heidnischen Frau, sei es im Ehezustand oder sei es als Prostituierte, beiwohnt, und der Akt geschieht in der Öffentlichkeit — d.h. vor mindestens zehn oder mehr israelitischen Augenzeugen — und dabei von Eiferern erschlagen wird, so sind die Eiferer wegen ihres schnellen Entschlusses sehr zu loben. Das ist eine Halacha, die auf Mosche und die Offenbarung am Sinai zurückzuführen ist. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, dass Pinechas den Simri erschlug.

Aber der Eiferer darf den Sünder nur bei frischer Tat totschlagen, jedoch nach Vollendung des frevelhaften Aktes darf man ihn nicht töten… und wenn der Eiferer ihn trotzdem erschlägt, ist er selbst todesschuldig. Wenn der Eiferer sich erst mit der Bitte um Erlaubnis, den Sünder zu töten, an den Gerichtshof wendet, bekommt er keinerlei Anweisung, obgleich der Akt selbst noch nicht vollendet ist. Überdies, wenn der Sünder den Eiferer aus Notwehr erschlägt, ist der Täter nicht todesschuldig“ (Gesetze über verbotene geschlechtliche Beziehungen (Issurej Biah), Kap. 12,4-5).

Im Religionsgesetz ist also eine eindeutige Tendenz zu erkennen, den Begriff „Eiferer dürfen ihn töten“ einzuschränken.

In der Midrasch-Literatur werden sehr unterschiedliche und oft sogar gegensätzliche Meinungen über den Eifer im allgemeinen und über Pinechas im besonderen geäußert. In der Bibel wird auch der Prophet Elijahu als großer Eiferer geschildert. Der Midrasch gibt einen Dialog zwischen dem Ewigen und Elijahu wieder, in dem eine sehr negative Beurteilung des Eifers zum Ausdruck kommt. In der Bibel heisst es: „Da erging an ihn das Wort G“ttes, der ihn fragte:

Was hast du hier, Elija? Er antwortete: Geeifert habe ich für den Herrn, den G“tt Zwaot, denn die Kinder Israel haben deinen Bund verlassen, deine Altäre haben sie niedergerissen…“ (1 Könige 19, 9-10).
Nun kommt aber der Midrasch und bringt in diesen Dialog Worte scharfer g“ttlicher Kritik hinein. Die Frage des Ewigen: „Was hast du hier, Elijah?“ versteht der Midrasch als eine Rüge: „Auf die Frage des Herrn hätte Ehijahu sagen müssen: Herr der Welt, Deine Söhne sind es, die Söhne der durch Dich geprüften Erzväter Awraham, Jizhak und J’akow, die Deinen Willen auf Deiner Welt getan haben“ — aber er — Ehijahu — hat das nicht gesagt.“ (Seder Elijahu Sutta — Kap. 8; Jalkut, Könige §217).

Zu einer ganz anderen Einschätzung der Eiferer Pinchas und Ehijahu und des Eifers überhaupt gelangen wir, wenn wir ein literarisches Phänomen im Midrasch in Betracht ziehen, das Prof. J. Heinemann mit „Verdichtung“ bezeichnet hat. In seinem hebräisch geschriebenen Werk „Mittel und Wege der Agada“ führt Heinemann aus: Die Erscheinung der „Verdichtung“ findet sich in der ganzen antiken Literatur, d.h. die Konzentration der Handlung auf ein begrenztes Gebiet, was Ort, Zeit und die Anzahl der handelnden Charaktere betrifft.

… Die genaue Ausführung dieses Verfahrens finden Sie auf den Seiten 320ff „Bina baMikra von Rabbiner B.S. Jacobson (Israel 1987, deutsch bei Morascha). Er weist auf die Stelle im Talmud Sanhedrin 82b hin, welche Pinhas als „Eiferer, Sohn des Eiferers“ bezeichnet. Raschi erklärt hierzu: „Er war aus Levi und eiferte schon im Falle seiner Schwester Dinah, deren Ehre er mit Blut rächte (Bereschith 34/31). Hier findet sich auch eine Weiterführung der bereits erwähnten Identifikation mit Elijahu haNawi…

Auch Targum Jonathan identifiziert Pinhas mehrfach mit Elijahu, z.B. in der Übersetzung des Verses: „Ich gebe ihm meinen Bund des Friedens“ (Kap. 25, 12). Die aramäische Wiedergabe des Verses ist zugleich eine Interpretation: „Ich schliesse mit ihm einen Friedensbund und mache ihn zu einem beständigen Boten, der ewig leben wird, um die Erlösung am Ende der Tage anzukündigen.“

Die Tatsache, dass dem Eifer, der im Totschlag seinen Ausdruck findet, grade der Segen des Friedens gegeben wird, ist äusserst erstaunlich, und einige Kommentatoren haben sich mit diesem Thema beschäftigt.

Rabbi N.Z.J. Berlin (als der Naziv bekannt) schreibt in seinem Werk „Haamek Dawar“ über den psychologischen Hintergrund des Eifers: Sogar derjenige, der in seinem Eifer nach den erhabensten Idealen strebt, wird letzten Endes von unvermeidlichen Handlungen wie Totschlag so weitgehend beeinflusst, dass er im Aufruhr seines Gemütes sein seelisches Gleichgewicht verliert. Nicht das allein, dass der grenzenlose, ungezügelte Eifer die Gesellschaft gefährdet, sondern der Eiferer selbst ist der Gefahr ausgesetzt, von der Glut seines Fanatismus angesteckt zu werden und selber zu Schaden zu kommen.

Der Naziv führt aus: „Als Belohnung dafür, dass Pinechas den Zorn des Ewigen und Seinen Grimm beschwichtigt hatte, segnete ihn der Herr mit dem Segen des Friedens, dass er in Zukunft nicht zu streng und überempfindlich sein möge, weil es in der Natur seiner Tat — des Totschlags mit eigener Hand — lag, im Herzen auch später einen Restbestand von Grausamkeit wirksam zu lassen. Weil aber Pinechas alles zu Ehren G“ttes getan hatte, bekam er den Segen des Friedens, dass er stets seine Gemütsruhe und seine seelische Ausgeglichenheit bewahren möge, und dass der Fanatismus ihm keinen Schaden zufügen solle.“

Aufgrund dieser psychologischen Erkenntnis, dass Frieden und Fanatismus eigentlich Gegensätze sind, und dass nur ein besonderer Mensch, dessen Herz vollständig rein ist, dazu fähig ist, einen Ausgleich zu finden, gelang es dem Verfasser, auch ein anderes schwieriges Kapitel in der Tora zu erklären.

Es handelt sich um das Gebot, die „verderbte (oder verstoßene) Stadt“ zu vernichten (Deut. 13, 13-19), und in diesem Fall um das Verhältnis zwischen Fanatismus und Barmherzigkeit. Der Befehl lautet, die Bewohner der Stadt zu töten und die Beute in Feuer zu verbrennen. Aber am Ende des Absatzes wird Israel, wenn es das schwere Gebot erfüllt hat, wieder gesegnet: Auf dass der Herr „dir Erbarmen gönne und sich dein erbarme und dich mehre, wie Er deinen Vätern geschworen hat“ (13,18).

In „Haamek Dawar“ wird folgendes ausgeführt: „Die Bestrafung der „verderbten Stadt“ kann böse Folgen für Israel haben, denn wer einen Menschen absichtlich erschlägt, wird grausam; umsomehr besteht die Gefahr, dass das ganze Volk grausam bleibt, wenn es die Bewohner einer ganzen Stadt hinrichten muss. Deshalb verspricht die Schrift: Wenn du die Bestrafung der Stadt in allen Einzelheiten ausführst, ohne etwas von der Beute zu geniessen, wird „der Herr von Seiner Zornglut zurückkehren und dir Erbarmen gönnen“, d.h. das Volk wird trotz der Vernichtung einer Stadt die Eigenschaften des Mitleids und der Barmherzigkeit nicht verlieren.“

* Amoraim: Sprecher, Interpreten — Lehrer, deren Diskussionen die beiden Talmude füllen.

Quelle: Bina baMikra von Rabb. Bernhard Salomon Jacobson (Israel 1987, deutsch bei Morascha).