Das gesungene Gebet in der Synagoge

Von Chanah Roth

Will man vom Synagogengesang sprechen, so muss man sich erst einmal mit dem religiösen Ritual der Juden auseinandersetzen. Dieses hat seine ersten Anfänge bereits zu Zeiten da von Moses, der Grundstein zum kollektiven Gottesdienst gelegt wurde.

Als Moses die Gesetze Gottes vom Berg Sinai gebracht hatte, begann er jeden Sabbat sein Volk zu versammeln, um ihm das Gesetz zu erklären. Das Volk antwortete ihm gemeinsam, und aus diesem Dialog entstand mit der Zeit ein Ritual, aus dem zuerst eine rhythmisierte Rede und später dann ein Gesang hervorging.

Ein wirkliches religiöses Ritual allerdings gehört erst in die Zeit, als König Salomo (Schlomoh haMelekh) in Jerusalem den Ersten Tempel erbauen ließ. Dort konzentrierte sich das gesamte religiöse Leben. Der zentrale Akt des Tempelgottesdienstes war die Opferung, die der Höchste Priester (haKohen haGadol) unter Verlesung von Gebeten vornahm. Zur Vergeistigung des Aktes trug dann auch der Chor der Tempelsänger – der Leviter – mit seinem erhabenen Gesang bei.

Mit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 n. Chr. ging das natürliche Zentrum des Kult-, aber auch des gesellschaftlichen Lebens unter, und beide Funktionen übernahmen jetzt Gebetshäuser, die späteren Synagogen, die über das ganze Land Israel zerstreut waren. In den Gebetshäusern – den Synagogen – gab es keine Opferaltäre mehr, und die Zusammenkunft am Sabbat war eher dem Studium des Gesetzes als dem Gottesdienst gewidmet – daher stammt auch der Name Bejth Midrasch (Haus der Lehre). Im Zusammenhang mit dieser grundlegenden Veränderung hörte auch der Psalmengesang auf als ein wichtiger Teil des Gottesdienstes betrachtet zu werden, und für einige Zeit war er scheinbar ganz aus der synagogalen Praxis verschwunden. Die geistlichen Führer der Juden erkannten aber bald, dass Musik und Gesang ein sehr wirksames Mittel zu einer Verbindung der Seele mit Gott waren. Sie begrüßten deshalb mehrheitlich die Wiedereinführung von Musik in Gebet und Gottesdienst.

Schrittweise wurde die ursprünglich funktionale Musik parallel zu den psychologischen Motiven künstlerisch anspruchsvoller. Die Psalmengesänge wurden wieder zu einem nicht wegzudenkenden Bestandteil der Gottesdienste, der sich wieder der ursprünglichen Tempelmusik annäherte, bis auf die Instrumentalbegleitung, die aus der Tempelmusik in die Synagogenmusik nicht mehr übernommen wurde.

Der Synagogengesang ist im religiösen Ritual der Juden eine Erscheinung sui generis. Im Vergleich zur griechischen Musik, die sich parallel entwickelte, ist sie emotionsgeladener – sensibler. Die Israeliten brauchten kein eigenes Musiksystem zu entwickeln, auch keine eigene Musiktheorie. Die Macht ihrer Musik liegt nicht in der systematischen Erfassung und Erkenntnis musikalischer Formen, sondern in der Erfüllung des Phänomens der Musik als Geschenk Gottes. Ihre Musik ist nicht rational -wissenschaftlich, sondern intuitiv, sie gründet sich auf Talent und Inspiration. Unter diesem Gesichtswinkel muss man auch die gesamte weitere Entwicklung der jüdischen Musik betrachten, die im Unterschied zum europäischen geistlichen Formalismus ständig auf Emotionen und geistlicher Verinnerlichung basiert.

Die jüdische Liturgie ist für den Gläubigen eine alltägliche Angelegenheit, denn wie in den Synagogen, so beten die Menschen auch in ihrem häuslichen Milieu. Im orthodoxen Alltag mindestens zweimal täglich – früh und abends und außerdem noch nach jedem Essen. Der Tageszyklus greift dann in einen Wochen-, Monats- und Jahreszyklus über. Jeden Sabbat, zu Neumond und anderen Feiertagen des Jahres werden die Gottesdienste um weitere liturgische Singtexte erweitert.