Rabbi Stephen Fuchs
Ich war fünf Jahre alt, als ich von meiner Mutter ein wertvolles Geschenk bekam. Ich kann es noch vor mir sehen: Eine Schallplatte mit einem türkisblauen Etikett in der Mitte: Immer wieder spielte ich die Lieder ab, die unter dem Motto standen: „Kleine Lieder über große Fragen“. Eines meiner Lieblingslieder ging so:
„Ich bin stolz, ich zu sein, und ich sehe, daß du genauso stolz bist, du zu sein“.
Ich bin immer darauf stolz gewesen Jude zu sein. Ich habe immer versucht die Religionen anderer zu respektieren. Diese Grundüberzeugung ist der Antrieb für meine Antwort auf Bemühungen von Christen, Juden zu bekehren. Ebenso motiviert mich diese Grundüberzeugung zu einer Menge Arbeit, die ich versucht habe während der letzten 11 Jahre in meiner Gemeinde zu tun.
Entsprechend verletzt war ich, als die Erklärung der „Southern Baptists“ (amerikanische Freikirche) im Juni 1999 zu verstärkten Bemühungen aufrief, Juden zum Glauben an Jesus zu bringen. Im Gegensatz dazu war ich sehr stolz, als ich vor einige Zeit einen Leserbrief an die Hartford Zeitung schrieb, in dem ich meine Unterstützung und meine Wertschätzung für zwei Prediger der Southern Baptists zum Ausdruck bringen konnte, die sich öffentlich von den Bemühungen ihrer Bewegung distanzierten, Juden missionieren zu wollen. Diese Prediger haben tapfer auf die Legitimität religiöser Vielfalt bestanden. Sie erklären die Legitimität von unterschiedlichen Wegen zu dem einen, wahren G’tt. Viele christliche Gelehrte haben dazu in ähnlicher Weise Stellung genommen.
Unglücklicherweise – so sehe ich es – sprechen fundamentalistische Christen noch immer, von ihrem unabrückbaren Ziel, den „Missionsauftrag“ im 28ten Kapitel des Matthäusevangeliums und anderen Stellen im Neuen Testament zu folgen, und die Worte Jesu allen Völkern zu bringen.
Mein Freund Professor A.J. Levine geht davon aus, daß das griechische Wort, das für den Terminus „Völker“ im 28. Kapitel des Matthäusevangeliums steht, die gleiche Bedeutung hat wie das hebräische Wort „Gojim“, das alle Völker meint, außer das Volk Israel. Ich empfehle diese Auslegung den Evangelikalen und hoffe, daß sie ihren Weg finden, damit klarzukommen.
Ich bin von verschiedenen Leuten gefragt worden: „Warum nehmen die Kampagnen der Juden für Jesus Sie so mit? Warum fühlen Sie sich veranlaßt, so energisch darauf zu erwidern?“
Lektion aus der Geschichte
Meine Antwort ist: Ich habe die Lektion, die uns die Geschichte erteilt hat, gelernt. Ich glaube, daß die Kampagne Juden zu Jesus zu bringen manchmal von Liebe motiviert ist. Aber ich sage gleichermaßen eindeutig, daß es sich um eine Fehlform der Liebe handelt. Ich sage das, denn man kann sich die Geschichte anschauen und die Resultate sehen – unvermeidliche Resultate dieser Liebe, wie sie sich in der Geschichte niedergeschlagen haben.
In einem Land nach dem anderen haben Christen ihre Besorgnis um unsere Erlösung zum Ausdruck gebracht und uns dazu eingeladen, Jesus anzunehmen. Immer und immer wieder wenn wir diese Einladung zurückgewiesen haben, hat sich diese Liebe in Bosheit und Haß verwandelt. Oft war Vertreibung und Tod die Folge.
Ein außergewöhnlicher zeitgenössischer Philosoph, Emil Fackenheim, hat es folgendermaßen auf den Punkt gebracht:
„Der Holocaust war die Zuspitzung einer 2000jährigen Kampagne der christlichen Welt gegen Juden. Es begann früh damit, daß sie uns erzählten: ‚Du kannst nicht hier leben als Jude‘. Und in einem Land nach dem anderen zwangen sie uns zur Konversion. Später wurde daraus die Botschaft: ‘Ihr könnt hier nicht leben.’ Und in einem Land nach dem anderen zwangen sie uns wegzugehen. Hitlers Botschaft war: ‘Ihr könnt nicht leben’ – und sie rotteten ein Drittel unseres Volkes aus“.
Es ist ein langer, langer Weg von den Bemühungen und der Liebe, die unsere Nachbarn ausdrücken bis zu Hitlers Öfen. Wenn ein Jude / eine Jüdin Jesus als seinen oder ihren Messias annimmt, dann erfüllt er oder sie keine biblische Prophezeiung. Wenn ein Jude Jesus als Messias akzeptiert, dann wird er (oder sie) Christ und verläßt damit die jüdische – religiöse – Gemeinschaft. Man kann nicht beides gleichzeitig sein: Jude und Christ. Das ist so seit mehr als 1800 Jahren als sich unsere Religionen gespalten haben und ihre getrennten Wege gingen. Dabei bleibt es auch heute.
Wenn jemand Christ werden möchte, so wünsche ich ihm oder ihr, daß dieser Weg ihm oder ihr spirituelle Erfüllung bringen möge. Aber er / sie kann nicht gleichzeitig Jude sein. Wenn also die Kampagne Juden zu Jesus zu bringen ihr erklärtes Ziel erreichen würde und jeder Jude Christ werden würde, dann wäre das Endergebnis als hätte Hitler den Krieg gewonnen. Es gäbe keine Juden mehr. Das ist – kurz gesagt – der Grund, warum diese Bekehrungsfeldzüge mir solche Sorge bereiten.
Vor viertausend Jahren verließ Abram die heidnische Welt mit seiner Frau Sarai um von einem einzigen fürsorglichen G’tt zu lehren, der möchte, daß wir Menschen unsere Begabungen dazu verwenden, eine gerechte, fürsorgliche und mitfühlende Gesellschaft zu schaffen. Christen nennen das „Rechtfertigung durch Werke“, und sie haben damit 100% recht. Genau das ist es, und das ist einer der grundlegenden Unterschiede zwischen Judentum und Christentum.
Wir rechtfertigen uns nicht durch das, was wir glauben, sondern durch das, was wir tun. Ich verstehe und respektiere völlig, daß Christen das anders sehen, aber ich weiß, wieviel Gutes in die Welt gekommen ist, weil wir Juden darauf bestanden haben unserem einmaligen und besonderen Weg mit G’tt zu folgen.
Meine Hoffnung ist die, daß wir in gegenseitigem Respekt und Frieden leben können. Gegenseitiger Respekt schließt es aus, die Integrität unserer Religion wie sie ist, herabzusetzen. Wenn Jesus Erfüllung, Befriedigung und Bedeutung in das Leben von Christen bringt – ich sage es nochmals – dann bin ich froh für sie. Aber Jesus spielt keine Rolle – wie auch immer diese geartet sein mag – im religiösen Denken von Juden.
Das Judentum und der Messias
Es gibt drei Hauptforderungen im Hinblick auf Jesus, die Christen erheben und die Juden kategorisch zurückweisen:
1. Der Märtyrertod, den Jesus erlitten hat, führt Sühne für kollektive Sünden der Menschheit oder Sünden des Individuums herbei.
2. Wir weisen die Idee zurück, daß G’tt sich in irgendeiner menschlichen Form inkarniert hat, daß irgendein menschliches Wesen ein Objekt der Anbetung sein könnte.
3. Wir weisen zurück, was Paulus in seinen Briefen behauptet – nämlich daß das Leben und der Tod von Jesus das jüdische Religionsgesetz und seine Einhaltung nutzlos machen.
Wer mit einer dieser Forderungen übereinstimmt, mag Christ sein – Jude ist er jedenfalls nicht.
Zu der Zeit als Jesus lebte, waren die Erwartungen von Juden an den Messias sehr klar. Der Messias, den unser Volk erwartete, würde vier Dinge tun bzw. herbeiführen:
1. Das Ende der Unterdrückung der Juden durch die Römer
2. Einen Nachkommen König Davids über ein vereinigtes Israel einsetzen
3. Die wunderbare Rückkehr der ins Exil Zerstreuten in das Land Israel
4. Eine unendliche Zeit des Friedens und der Harmonie in der Welt.
Ganz einfach gesagt: Jesus hat nichts davon getan. Deshalb kann er aus jüdischer Sicht nicht der Messias sein.
Bibeltreue Christen zitieren mir – wie wahrscheinlich auch vielen von Ihnen – immer wieder Passagen aus den hebräischen Schriften, die – wie sie sagen – punktgenau und unverkennbar auf Umstände im Leben Jesu hinweisen, wie sie im Neuen Testament erzählt werden. „Wie ist das möglich“ fragen sie „wenn Jesus nicht der Messias ist, von dem die Propheten gesprochen haben?“.
„Wie kann das sein?“ Meine Antwort: „Es ist ganz einfach. Im 18 Jahrhundert gab es in Polen einen hochgeschätzten Prediger – den Maggid von Dubnow. Er erzählte eine Geschichte, die diese Frage beantwortet:
„Einst fuhr ein Mann in seinem Wagen über das Land. Er kam an einer Scheine vorbei. Und auf der einen Seite der Scheune waren einige Zielscheiben. Genau im Zentrum steckte in jeder ein Pfeil.
Der Mann hielt seinen Wagen an und sagte: „Ich muß unbedingt die Person treffen, die jedesmal so perfekt geschossen hat“. Er fand den Besitzer der Scheune und fragte ihn: „Wie ist es möglich daß du niemals den Mittelpunkt der Zielscheibe verpaßt hast – und das bei jedem Pfeilschuß?“
„Ganz einfach“ antwortete der Mann. „Zuerst habe ich den Pfeil in die Scheunenwand geschossen und dann habe ich die Zielscheibe darum herum gemalt“.
Wie zeigen die Schriften des Neuen Testaments, daß das Leben von Jesus und seine Taten sich in das einfügen, was in den hebräischen Schriften vorhergesagt wird? Ganz einfach: Die Schreiber des Neuen Testaments haben ihre Erzählungen so verfaßt, daß ihre Darlegungen vom Leben Jesu mit den prophetischen Passagen, die sie so gut aus den hebräischen Schriften kannten, übereinstimmten.
Vor einiger Zeit habe ich mir zwei Stunden lang die Radio-Talkshow von John Ziegler angehört. Ein Höhepunkt des Abends war für mich, als ein Anrufer die Frage stellte: „Wenn ein Christ Jesus aufgibt, um zum Judentum zu konvertieren, ist er dann immer noch ein Christ?“ „Nein“ – war die Antwort des christlichen Predigers, und „Bingo“ war meine unausgesprochene Reaktion. Genau das ist der Punkt: Ein Jude für Jesus ist im gleichen Maß ein Widerspruch in sich wie ein „Christ nicht für Christus“.
Messianische Juden oder Juden für Jesus
Juden für Jesus oder messianisches Judentum ist ein großes Geschäft mit viel Geld im Hintergrund. Sie schalten ganzseitige Anzeigen in Newsweek, Time oder New York Times.
Haben Sie eine Vorstellung, was das kostet? Fast jeden Abend sind messianische Juden eine Stunde im Fernsehen – und das an jedem Tag der Woche. In einer der letzten Ausgaben des Magazins „Charisma“ (Anm: christliche Zeitschrift), dessen Titel einen sogenannten messianischen Rabbiner zeigte, machten sie denen, die Juden vom Judentum wegbringen wollen, deutlich, was zu tun und was zu lassen sei.
Der Artikel sagt: „Sei ein Freund. Schaffe zuerst eine ernsthafte Freundschaft. Versuche noch nicht Juden zu bekehren. Sage „Messias“ – sag nicht „Christus“. Sage „Glaubender“ und sage nicht „Christ“. Sage „Neuer Bund“ oder „Alter Bund“ und nicht „Neues Testament“ oder „Altes Testament“. Sage „Gemeinde“ und sag nicht „Kirche“. Sage „vollendet“ oder „erfüllt“ und nicht „gerettet“ oder „wiedergeboren“. Sag „messianischer Jude“ und nicht „Christ“.
(Anmerkung des Übersetzers: Im deutschen Sprachraum verwenden Judenmissionare statt „Neues Testament“ gelegentlich auch Begriffe wie „Jüdisches Neues Testament“ oder „brit chadasch“ (hebr. Neuer Bund); statt Altes Testament wird auch „Torah“ verwendet)
Es ist eine sehr subtile, gerissene und sorgfältig ersonnene Kampagne um die Juden für einen anderen Glauben zu ködern, die nicht wirklich wissen, was es bedeutet Jude zu sein.
Wenn ich höre, wie Christen darauf bestehen, daß ihre Tradition von ihnen fordert, Juden gegenüber Zeugnis abzulegen über ihre Liebe zu Juden, dann denke ich immer an die Geschichte des chassidischen Schülers, der zu seinem Rebben kam und ausrief: „Meister – ich liebe dich!“. Und der Rebbe antwortete ihm: „Weißt du, was mich verletzt?“.
Der Schüler antwortete: „Nein, Rebbe, wie kann ich wissen, was dich verletzt?“
Der Rebbe antwortete ihm: „Wenn du nicht weißt, was mich verletzt, dann kannst du mich auch nicht lieben.“
Für mich ist das grundlegend: Du kannst mich nicht lieben, du kannst nicht wahrhaftig mein Freund sein, wenn du nicht anerkennst, was mich tief verletzt und davon abläßt mir diesen Schmerz zuzufügen.
Judentum – eine Krankheit?
Eine Frau antwortete auf einige meiner in Zeitungen veröffentlichten Artikel mit einem Brief: „Rabbi, warum sollten wir Jesus Ihnen gegenüber nicht proklamieren? Wenn Sie Krebs hätten, und ich hätte das Heilmittel für Krebs, wäre es dann nicht ein Akt der Freundschaft und Liebe von mir, dieses Heilmittel mit Ihnen zu teilen?“
Mit allem aufrichtigem Respekt: Ich habe – G’tt sei Dank – nicht Krebs. Ich habe einen Glauben, der mich nährt. Ich habe einen Glauben, den ich schätze. Ich habe einen Glauben, der mich zu einem besseren Menschen macht als ich sonst wäre. Ich habe einen Glauben der vollständig und nicht ergänzungsbedürftig ist – und ich habe keinen Bedarf an einem Heilmittel oder einem Erlöser von außen.
In biblischer Terminologie würde ich es folgendermaßen ausdrücken: Schloß G’tt einen Bund mit Abraham? Natürlich! G’tt versprach dem jüdischen Volk Schutz, Nachkommenschaft und Dauerhaftigkeit als Volk, und Besitz – das Land Israel. Im Gegenzug bestimmte G’tt, daß wir – die Kinder Israels – ein Segen sein sollen (1.Mose 12,2). Wir sollen in G’ttes Wegen wandeln und untadelig sein (1.Mose 17,1). Wir sollen Lehrer sein und Beispiele für Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit (1.Mose 18,19). Das sind die Worte des Bundes im Buch Genesis (1.Mose), den G’tt mit Abraham und uns, den Nachkommen Abrahams, gemacht hat. Ist dieser Bund unwiderruflich? Natürlich! Christliche Schriften behaupten es immer wieder. Ist G’tt ein Lügner? Natürlich nicht.
Ich sage zu jedem Christen, der mein Freund sein möchte: Wir haben unseren Bund mit G’tt. Er ist vollständig. Er ist unwiderruflich. G’tt ist kein Lügner. Wir haben keinen Bedarf an Jesus. Wenn Du unseren Glauben nicht respektieren kannst, dann lass uns wenigstens in Ruhe.
Die jüdische Tradition und Menschenopfer
Wenn wir wirklich die Bedeutung von Abrahams Bund verstehen, dann verstehen wir auch, daß die ganze christliche Ausdrucksweise von G’tt, der seinen Sohn am Kreuz opfert, im Widerspruch steht zu jüdischen Lehren. Jedes Jahr an Rosch haSchanah (jüdisches Neujahrsfest) lesen wir, wie G’tt Abraham aufforderte ihm Isaak auf dem Berg Moriah zu opfern. Im entscheidenden Moment rief G’tt Abraham zu: „Stop! Lege Deine Hand nicht auf den Jungen und tu ihm nichts zuleide“. Was wir daraus lernen ist, daß keine wahre Religion ein Menschenopfer erfordert in SEINEM – G’ttes – Namen. Wir lernen daraus auch, daß ein Menschenopfer dem G’tt, den wir anbeten, verhaßt ist.
Die Torah lehrt uns, dass jeder, der die Abscheulichkeit eines Menschenopfers begeht, sich unwiderruflich vom jüdischen Volk abschneidet (3 Mose 20,2). Es ist eine abscheuliche und unverzeihliche Tat gegen G’tt. Das Konzept in den Evangelien, daß G’tt seinen Sohn opfern würde, widerspricht jüdischer Lehre von damals bis heute. Deshalb sollte es niemanden überraschen, daß Juden Jesus nicht als Messias akzeptieren wie Christen das tun.
Und schließlich lehrt uns die Torah auch die alten Rituale für den Versöhnungstag (3 Mose 16). Die Torah stellt fest, bevor die Priester das Sühneritual für das Volk durchführen konnten, mußten sie erst Sühne erwirken, für sich und ihr Haus.
Allen, die Juden zu Jesus bekehren wollen, empfehle ich deshalb: Bringt die christliche Botschaft all den Christen, bei denen sie zu kurz kommt. Leistet also Sühne für euch und eure Haushalte. Und überlaßt es uns, daß wir uns Sorgen um die unsrigen machen!
Eine tiefe Weisheit lag in den Worten des Liedes auf der Schallplatte, die meine Mutter mir vor so langer Zeit geschenkt hat:
Ich bin stolz, ich zu sein, und ich sehe, daß du genauso stolz bist, du zu sein.
Das ist einfach die menschliche Natur! Warum sollte ich Dich dafür hassen, daß du ein Mensch bist wie ich. Lasst uns gegenseitig unsere Traditionen respektieren und wir werden beide weiterkommen wenn wir es versuchen.