Esther

Von Pauline Bebe

Das Buch Esther ist Teil der Hagiographien. Die Geschichte spielt in Persien; wahrscheinlich stammt sie aus der Zeit nach dem Exil. Esther, eine Waise, gewinnt einen Schönheitswettbewerb, wird Königin und vereitelt das Komplott eines Vizekönigs, der die Ermordung aller Juden im Königreich plante. In der jüdischen Tradition wird Esther als Retterin des jüdischen Volkes gefeiert und dennoch ist ihre Heldenrolle nicht eindeutig. Eigentlich ist ihr Onkel und Beschützer Mordechai das wahre „Hirn hinter Esthers Erfolg“.

Schließlich ist es Mordechai, der dem König das Leben rettet, von Hamans bösen Absichten erfährt, der Esther Handlungsanweisungen gibt und der am Ende das Privileg erhält, die königlichen Farben und die Krone zu tragen. Es stimmt, dass Esther für ihr Volk ihr Leben riskiert, aber zumindest anfänglich scheint sie nach Mordechais Willen zu handeln, und es fällt ihm zunächst gar nicht leicht, sie zu überzeugen. Zwei Mal hintereinander lehnt sie das Angebot des Königs ab, ihr jeden Wunsch zu erfüllen und lädt ihn anstatt dessen zu einem Festmahl ein. Ob dies schon Teil ihrer Strategie ist, oder ob sie sich einfach nicht traut, dies großzügige Angebot anzunehmen, ist schwer zu sagen. Vielleicht ist Esther eher ein Beispiel für eine Antiheldin, eine Frau mit zwei Gesichtern, das eine ängstlich und folgsam, das andere triumphierend und verführerisch. Vielleicht wurde sie zur Heldin, weil sie es im Gegensatz zu Vaschti* geschafft hat, ihren Platz als Gattin des Königs zu behalten und in dieser Position Einfluss auf das Schicksal zu nehmen; vielleicht auch, weil sie im Laufe des Buches über sich hinaus wächst und, obwohl anfangs zaghaft und unterwürfig, schließlich ihre Verantwortung wahrnimmt und den König zu beeinflussen weiß. Auf jeden Fall spielt sie in Verbindung mit Mordechais Aktivitäten eine eher ausgleichende Rolle.

Das Thema der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau zieht sich durch das ganze Buch, das mit der Erzählung der Befehlsverweigerung der Königin Vaschti gegenüber ihrem Mann und König beginnt. Dies wird als Beleidigung nicht nur für den König, sondern für alle Männer angesehen, und ihre Bestrafung soll allen Frauen eine Lehre sein. „Nicht wider den König allein hat sich vergangen die Königin Vaschti […], denn es werden erfahren alle Frauen von dem Betragen der Königin, dass sie verachten werden ihre Männer in ihren Augen“ (!:16-17) Und die Anordnung hat folgendes erklärtes Ziel: „So werden alle Frauen Ehre geben ihren Männern von groß bis klein“ (1:20). An Stelle von Vaschti, der ungehorsamen Frau, wird Esther treten. Der Wettbewerb wird vorbereitet „und das Mädchen, das gefallen wird in den Augen des Königs, werde Königin an Vaschtis Statt“ (2:4). Das einzige Kriterium für die Wahl der neuen Königin ist die Schönheit der Kandidatin. Esther entspricht dieser Anforderung. Der Erzählung nach stand sie unter der Aufsicht ihres Vormundes, der sie nach dem Tod ihrer Eltern adoptierte. Sie hat zwei Namen: „Hadassa“ (dieser hebräische Name bedeutet „Myrthe“ und „Esther“, wahrscheinlich ein Wort babylonischer oder assyrischer Herkunft, in dem der Name der Kriegs- und Liebesgöttin Ischtar anklingt. Esther folgt den Anweisungen ihres Vormundes ohne Fragen zu stellen: „Esther verriet nicht ihr Volk oder ihre Herkunft, denn Mordechai hatte ihr geboten, dass sie es nicht aussage“ (2:10). Alle Menschen bringen ihr Sympathie entgegen, auch König Ahaschveros.

So wird Esther zur Königin ausgerufen. Darauf erfährt Mordechai von einem Komplott und Esther gibt die Information an den König weiter. Sie ist die Mittelsperson zwischen zwei Männern. Eine neue Intrige entspinnt sich, in der sich diesmal Mordechai und Haman als Kontrahenten gegenüberstehen. Haman ist zu einem hohen Würdenträger bei Hofe aufgestiegen, doch Mordechai weigert sich, ihm die Ehre zu erweisen und sich vor ihm niederzuwerfen. Während Esther durch ihre Unterwürfigkeit und das Verheimlichen ihrer Herkunft charakterisiert wird, ist Mordechai alles andere als unterwürfig und er verbirgt auch sein Judentum nicht. Haman wirft Lose um den Tag für die Ermordung von Mordechai und seinem Volk zu bestimmen. Esther erfährt, dass die Juden trauern, fasten und in Sack und Asche gehen und ist erschüttert. Sie schickt Mordechai, der auch härene Gewänder trägt, neue Kleider, doch der weigert sich, sie anzuziehen. Um die Hintergründe dieses Verhaltens herauszufinden, schickt sie einen Eunuchen zu Mordechai, und der erklärt die Situation . Er fordert von Esther, für ihr Volk beim König zu intervenieren, doch sie lehnt aus Angst, selbst der Todesstrafe anheim zu fallen, ab. Mordechai setzt sie mit einer Drohung unter Druck: „Bilde dir nicht ein in deinem Sinne, zu entkommen im Hause des Königs [allein] von allen Juden: Denn wenn du schweigst in solcher Zeit, wird Hilfe und Rettung erstehen den Juden von einem anderen Ort her, und du und dein Vaterhaus, ihr werdet umkommen“ (4:13-14). Diese Drohung führt zum Tausch der Rollen: Esther übernimmt jetzt die Initiative, sie gibt Befehle und Mordechai gehorcht ihr. Sie verlangt von ihm, das jüdische Volk zur Unterstützung ihres Vorhabens zum Fasten aufzurufen und schließt mit den Worten: „und ich werde kommen zum König […] und ich bin so oder so verloren“ (4:16). Esther erreicht eine Audienz beim König. er reicht ihr sein Szepter und verspricht ihr die Erfüllung aller ihrer Wünsche, worauf Esther ihn und Haman zu einem ersten Festmahl einlädt. Beide kommen und werden von ihr zu einem zweiten Mahl eingeladen. Sie sagt nicht gleich, was ihr Begehr ist, sondern hofft mit den beiden Einladungen den König milde zu stimmen. In der Zwischenzeit lässt Haman für Mordechai einen Galgen errichten. Ahaschveros und Haman kommen zu Esthers zweitem Gastmahl. Zum dritten Mal fragt nun der König, was Esther sich wünsche und diesmal antwortet sie: „Wenn ich Gunst gefunden in deinen Augen, oh König, und es dem Könige gefällt, werde mir mein Leben geschenkt auf meine Bitte, und mein Volk auf mein Gesuch! Denn wir sind verkauft worden, ich und mein Volk, zum Vertilgen und zum Würgen und zum Vernichten; und wenn wir doch als Knechte und Mägde wären verkauft worden, und ich hätte geschwiegen; denn der Dränger sieht nicht auf den Schaden des Königs“ (7:3-4). Esther offenbart dem König die Identität des Verfolgers. Als Haman versucht die Königin zu verführen oder um Gnade zu bitten, sieht es für einen Augenblick so aus, als ob sein Schicksal in ihren Händen liege: „Da war Haman hingesunken auf das Polster, worauf Esther saß; da sprach der König: Auch noch der Königin Gewalt anzutun bei mir im Hause?“ (7:8). Haman wird dazu verurteilt, an dem Galgen aufgeknüpft zu werden, den er für Mordechai errichten ließ. Der König macht Esther das Haus von Haman zum Geschenk, sie gibt es weiter an Mordechai. Ein weiteres Mal spricht sie beim König vor um ihr Volk zu retten: „Denn wie vermöchte ich anzusehen das Unheil, das mein Volk treffen wird, und wie vermöchte ich anzusehen die Vernichtung meines Geschlechtes!“ (8:6). Da nach persischem Gesetz der erste Erlass [Übs.: mit dem Haman im Namen des Königs die Vernichtung des jüdischen Volkes anordnete] nicht zurückgenommen werden konnte, wird ein weiteres Edikt herausgegeben, das den Juden erlaubt, sich im Falle eines Angriffes zur Wehr zu setzen. [Nachdem die Juden viele ihrer Feinde getötet haben] bittet Esther den König, dass sie ihren Kampf fortsetzen dürfen und dass auch die Söhne Hamans aufgehängt werden. Der Erzählung nach wurde das Purimfest von Esther und Mordechai selbst eingeführt und durch Briefe im ganzen Königreich verbreitet: „Und das Geheiß Esthers bestätigte diese Purim, und es wurde in einem Briefe geschrieben.“ (9:32).

Obwohl Esther der Autorität des Königs und der ihres Vormundes untersteht, ergreift sie die Initiative. Sie wird zur Königin ernannt und kann mit der Erlaubnis des Königs das königliche Siegel benutzen; gleichzeitig kann sie nicht einfach mit dem König reden, wenn sie es wünscht. Sie setzt also ihren Charme zur Erreichung ihrer Ziele ein. Dennoch ist in der Gesamtbetrachtung Mordechai der wahre Held der Geschichte, am Ende darf er die königlichen Gewänder tragen. Wenn auch die Königin herrschaftliche Gewänder trägt, bedeutet dies nicht, dass sie die entsprechende Macht besitzt — muss sie doch zur List greifen, um überhaupt gehört zu werden. Gleichzeitig hat auch sie Anteil an der Umkehr der Machtverhältnisse: die Schwachen siegen am Ende und die Starken gehen unter. Als Frau, Waise und Jüdin steht Esther symbolisch für die Schwachen der Gesellschaft. Sie ist bereit, in den königlichen Harem einzutreten, weil sie der Erzählung nach zur Retterin ihres Volkes berufen ist. Nach einem Vorbereitungsjahr [im ersten Harem] wird jedes der jungen Mädchen dem König vorgeführt und dann in einen zweiten Harem gebracht, wo sie zu warten hatte vom König gerufen zu werden. Selbst wenn der Bericht übertrieben ist, drückt er doch bildhaft die fantastischen Vorstellungen von königlicher Macht und Potenz aus, der alle Jungfrauen des Landes zur Verfügung stehen.

Esther spielt also dieses Spiel mit. Am Anfang ist sie völlig passiv; später wird sie zwar von Mordechai zum Handeln gebracht, aber sie geht weiter diskret und vorsichtig vor. Sie akzeptiert ihre untergeordnete Rolle und beschreitet die verschlungenen Wege, die ihr als Frau zur Erreichung des Zieles zur Verfügung stehen. Abgesehen von dem Moment, in dem sie [die Juden] zum Fasten auffordert, folgt sie den Gepflogenheiten der persischen Gesellschaft. Ihren Erfolg verdankt sie im Grunde ihrer verführerischen Schönheit, mit der sie den König zu umgarnen weiß, bis er Hamans Verordnungen aufhebt. In diesem Sinne ist sie eine biblische Heldin und entspricht den Vorstellungen der jüdischen Tradition: Sie greift in die Geschichte ein, aber bleibt dabei zurückgezogen und, zweifelt, anders als Vaschti, die männliche Autorität nicht an. Sie wirft die patriarchalische Struktur nicht über den Haufen, sondern passt sich ihr an — so geht von ihr keine Gefahr für die Gesellschaftsordnung aus.

Der weltliche Charakter des Buches Esther hat die Rabbinen der talmudischen Zeit beunruhigt. Da der Gottesname in ihm kein einziges Mal auftaucht, haben sie sich bemüht, wenigstens Hinweise auf Gott zu finden und haben Esther zur Prophetin erklärt. Den Vers „Und es geschah am dritten Tage, da kleidete sich Esther königlich, und stellte sich in den inneren Hof des Königshauses, gegenüber dem Hause des Königs“ (5:1) erklären sie so, dass „der Geist der Heiligkeit sie bekleidete“ (Meg. 14b). Die Rabbinen machen sie zur frommen Jüdin, obwohl der Text dies nicht hergibt. Nach ihrer Interpretation befolgte sie auch im Palast die jüdischen Gebote, besonders die Schabbat- und Speisegesetze (Meg. 13a). Die Rabbinen haben einige Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass eine biblische Heldin sich so sehr an das persische Umfeld angepasst haben könnte, dass sie Königin werden konnte ohne als Jüdin erkannt zu werden. Manchmal wir sie als gutes Beispiel (für Männer und Frauen gleichermaßen) für das Überleben in der Diaspora gesehen. Doch mehr noch als Esthers prophetische Gaben interessiert die Rabbinen ihre Sexualität, die sie recht erotisch zu beschreiben wissen. Durch die Überhöhung ihrer verführerischen Reize, die ja schon im biblischen Text deutlich zum Ausdruck kommen, fällt es ihnen leichter, Esther als Königin und Retterin ihres Volkes zu akzeptieren, weil dies ihr Frauenbild bestätigt, und so letztendlich die Krone [i.e. die Macht] beim König und bei Mordechai verbleiben kann. Für den modernen Leser bleibt Esthers Emanzipation unvollständig ; sie ist zwar ein Beispiel für dem Widerstand, doch macht sie nichts anderes, als das zu Beginn des Buches ausgesprochene königliche Dekret zu bestätigen, nach dem „alle Frauen Ehre geben ihren Männern, von groß bis klein“ (1:20). Dennoch war Esther für Juden in Zeiten der Verfolgung ein Symbol der Hoffnung darauf, dass durch eine wirkungsvolle Umwälzung einmal die Schwachen das Recht des Stärkeren bekommen könnten.

Quelle: Pauline Bebe, Isha – Frau und Judentum