Nur wenige Tage nach dem höchsten Feiertag Jom Kippur feiern wir Sukkot, das Laubhüttenfest. Der Zusammenhang jenseits der Zeit zwischen beiden Festen ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, doch durchaus gegeben.
Von Rabbiner Marcel Marcus, Jerusalem
Rein formell hat das Laubhüttenfest nichts mit dem Versöhnungstag zu tun. Letzterer ist der Abschluss der Hohen Feiertage, der letzte und wichtigste Tag, ja, der Höhepunkt der Zehn Tage der Umkehr, die mit dem Neujahrsfest begannen. Sukkot hingegen ist das letzte der drei Wallfahrtsfeste, gehört also sozusagen einem anderen «Genre» an. Denn während an Jamim Noraim der Einzelne im Mittelpunkt steht, der Einzelne in seiner Beziehung zu Gott und zu seinem Leben und erst dadurch auch zu seiner Umwelt, verweisen uns alle Wallfahrtsfeste auf unsere Geschichte als Gemeinschaft, erinnern an das Schlüsselerlebnis des Volkes Israel, an den Auszug aus Ägypten.
Aber nur vier Tage liegen zwischen dem Versöhnungstag und dem Laubhüttenfest, und so ist schon rein zeitlich eine Verbindung gegeben, die eine schöpferische Spannung schafft. Sehr oft finden wir in unserer Tradition ähnliche Verbindungen von Polaritäten, bis hin zu Vereinigungen von Gegensätzen, wie etwa die, dass Gott allwissend ist, also auch die Zukunft kennt, und der Mensch sich frei entscheiden kann. Wie beides gleichzeitig wahr sein kann, verstehen wir mit unserer menschlichen Logik nicht, aber das beweist eben nur, dass wir mit unserer menschlichen Logik nicht alles begreifen können. Schlussendlich gibt es nur eine Wahrheit, aber wir können sie nicht erfassen. Uns sind nur Teilaspekte dieser einen Wahrheit zugänglich, und diese Teilaspekte müssen sich gegenseitig ergänzen, auch wenn sie oft einander zu widersprechen scheinen. Das heißt, die Wahrheit liegt nicht in der Mitte zwischen den Gegensätzen, sondern in einer anderen Ebene, die die Gegensätze miteinander vereint. Wir, die wir diese Ebene nicht erreichen können, müssen die Gegensätze aushalten und verstehen, dass sie sich weniger widersprechen als vervollständigen. Das eine wie das andere ist richtig, und der Widerspruch zwischen beiden wird so zur fruchtbaren, schöpferischen Spannung.
Erinnerung an unsere Wanderschaft
Und was hat das alles mit Sukkot zu tun? Nun, auch dieses Fest (unabhängig zu seiner Nicht-Beziehung zum Jom Kipur, auf die wir noch zurückkommen werden) ist eine Verbindung von Polaritäten. Als Wallfahrtsfest erinnert Sukkot an den Auszug aus Ägypten, daran, dass Gott uns aus der Sklaverei befreite. Im Spezifischen erinnert das Fest an unsere vierzigjährige Wanderung durch die Wildnis und die Sorge, mit der Gott uns begleitet hat. Es ist ein Fest der nationalen Erinnerung, es geht um die besondere Beziehung Gottes zu seinem Volk Israel. Gleichzeitig aber, so lernen wir, wurden zur Zeit des Tempels an Sukkot 70 Festopfer dargebracht für die 70 Nationen der Welt, die alle Gott gleich lieb sind. Ja, Gott ist der Gott Israels, aber Er ist eben auch der Gott der ganzen Menschheit.
An Sukkot hat Salomo den Tempel eingeweiht, den imposanten Bau, der Gottes Gegenwart unter uns symbolisierte. Ein Prachtbau, der stolz verkündete, dass die Landnahme abgeschlossen und das jüdische Königreich errichtet war. Ein Zeichen der Beständigkeit. Doch das augenfälligste Ritual dieses Festes, das ihm seinen Namen gegeben hat, ist die Laubhütte. Eine prekäre Behausung, die nicht allzuviel Schutz vor Wind und Regen bietet. Sie darf kein ständiges Bauwerk sein, sondern muss jedes Jahr neu errichtet werden. Sie erinnert uns an die Unbeständigkeit der menschlichen Existenz, der condition humaine. Diese Lehre wird unterstrichen durch die Lektüre des Buches Kohelet, das dem Tempelbauer Salomo zugeschrieben wird. Sukkot erinnert nicht nur an unsere nationale Geschichte, es ist auch ein Erntedankfest, Chag haKazir. Am Ende des landwirtschaftlichen Jahres blicken wir dankbar auf das Werk unserer Hände und freuen uns über den Ertrag, den wir erwirtschaftet haben Die Ernte ist eingebracht, wir sind (hoffentlich) zufrieden mit unserem Anteil und danken Gott für seine Fürsorge und Güte. Und da kommt Kohelet, dessen Buch wir in diesen Tagen lesen, und fragt uns, «was ist des Menschen Gewinn bei all seiner Mühe, womit er sich müht unter der Sonne?». Geld allein macht nicht nur nicht glücklich, es versperrt uns auch oft den Blick auf das Wesentlichste in unserem Leben.
Nicht mehr ganz von dieser Welt
Der Versöhnungstag war diesem Wesentlichsten gewidmet. Wie lebe ich? Was ist der Sinn meines Lebens? Wie verbringe ich die Jahre zwischen meiner Geburt und meinem Tode? Weil unser körperliches Sein nicht die Antwort sein kann, entsagen wir an diesem Tag gleichsam allem Physischen. An Jom Kippur sind wir nicht mehr ganz von dieser Welt. Wir konzentrieren uns ganz auf das Geistige, versuchen unseren Körper mit seinen Ansprüchen und Forderungen zu vergessen. Wir essen nicht, schlafen wenig und verbringen den Tag in Gebet, Meditation und Reflexion.
Vier Tage später erfolgt eine vollständige Hinwendung zur physischen Existenz. Das Gebot, in der Sukka zu sein, erfüllen wir mit unserem Körper, mit unserem ganzen Körper und nur mit unserem Körper. Wir freuen uns an dieser Welt, sitzen beschaulich in unserer Hütte, die geschmückt ist mit dem Ergebnis unserer Ernte. Der Mensch ist kein rein geistiges Wesen. Wir müssen essen, um bestehen zu können. Einen Tag lang, am Jom Kippur, können wir zwar versuchen, dies zu vergessen, aber sich nur auf das Geistige zu konzentrieren, widerspricht dem Judentum, «der prosaischen Religion des Alltags» (Leibowitz).
So ist das Laubhüttenfest (auch) eine Ergänzung zum Versöhnungstag. Wir feiern unsere Rückkehr in die körperliche Welt – ohne dabei zu vergessen, dass diese irdische Welt doch nicht alles ist. Nicht ohne Grund klingt Sukkot mit Simchat Tora aus, dem Freudentag über die Lehre, die Gott uns gegeben hat. Aber das ist eigentlich schon wieder ein anderes Fest. Mögen wir dieses Jahr friedlich in unseren Hütten sitzen, gereinigt durch die Erfahrung des Jom Kippur, und Freude empfinden an dem, was wir erreicht haben – aber nicht vergessen, dass die Erlösung noch aussteht. Und versäumen wir ja nicht, an unserem Erntedankfest Kohelet zu lesen, der uns auf das Eindringlichste ermahnt, dass alles vergänglich ist und uns so unsere condition humaine in Erinnerung ruft. Chag sameach!