Theorien zur Entstehung des „Kol Nidre“

Auszug aus einem Artikel von Rabbiner H. I. Grünewald, München
Erschienen in der Jom Kippur-Ausgabe der „Allgemeinen jüdischen Wochenzeitung“ 1965

Die bekannteste literar-kritische Untersuchung der Entstehungsgeschichte des Kol Nidre ist die Theorie, die Bloch im Jahre 1917 vertreten hat. Ihr zufolge entstand unser Text im 7. Jahrhundert in Spanien, das zur damaligen Zeit unter der Herrschaft der Westgoten stand. Im Jahre 613 erließ König Sisebut dort den Befehl, daß alle Juden, die nicht bereit waren, das Christentum anzunehmen, das westgotische Spanien verlassen müßten, woraufhin ein großer Teil der Juden zum Schein sich taufen ließ, wobei sie zu schwören hatten, daß sie sich jeder jüdisch-religiösen Praxis in Zukunft enthalten würden und einzig und allein an die Doktrinen der katholischen Kirchen glauben würden. Dies geschah, wie gesagt, zum Schein, und alljährlich, vor Beginn des Versöhnungstages, der im Geheimen wie alle anderen jüdischen Riten und Gesetze weiter beobachtet wurde, entledigte man sich dieser erzwungenen Versprechungen und Gelübde und trat mit reinem Gewissen vor seinen G’tt, den nach wie vor allein angebeteten G’tt der Juden.

Diese Theorie über die Entstehung des Kol Nidre entbehrt nicht erheblicher innerer Schwierigkeiten und Widersprüche. Warum zum Beispiel wurde die Kol Nidre Formel in Gegenden vorgetragen, in denen die Juden zur damaligen Zeit in Ruhe und Frieden lebten, wie etwa in Palästina? Warum, andererseits, war die Kol Nidre Formel in der damaligen Zeit in Babylonien völlig unbekannt, obwohl ein reger Schriftverkehr zwischen Spanien und Babylonien bestand, dem wir zum Beispiel das erste hebräische Gebetbuch verdanken? Mehr als das noch: Warum widersetzten sich die Talmudgelehrten Babyloniens diesem Brauch des Kol Nidre Sagens, als sie aus Palästina davon hörten, wenn doch sein Anlaß ein absolut lokal gebundener und vertretbarer war?

Und warum ist die Kol Nidre Formel, wenn sie sich nur auf die zum Christentum gezwungenen Juden bezog, so weitschweifig und erwähnt Versprechungen und Gelübde, deren Zusammenhang mit den Geschehnissen im Spanien der Westgoten nicht ersichtlich ist? Aus all diesen Erwägungen haben jüngere Forscher die Blochsche Theorie abgelehnt und haben eine andere Vermutung angestellt, die erwähnenswert ist. Ihre Auffassung knüpft sich an den Namen des Professor Kraus in Wien.

Viele Jahrtausende vor der Entstehung der Kol Nidre Formel beherrschte die Auseinandesetzung zwischen den Pharisäern und den Sadduzäern die jüdische Gemeinschaft. Es ging dabei um die Anerkennung der mündlichen Überlieferung, der die Sadduzäer den Gehorsam verweigerten. Für sie war nur das in der Thora niedergeschriebene Wort verbindlich, es gab für sie keine Tradition, die sich daneben mündlich seit Moses Zeiten übertragen haben würde, eine Tradition, der die Pharisäer keine geringere Autorität zugestanden, wie der Thora und dem in ihr schriftlich niedergelegten Gesetz. Diese Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Gruppen setzte sich nach dem Ende der staatlichen Selbständigkeit der Juden in unverminderter Vehemenz fort und die Verfechter der Autorität der mündlichen Lehre in den der Staatlichkeit folgenden Jahrhunderten trugen den Namen Rabbinen, ihre Gegner sind die Karäer, deren letzte Vertreter noch in unserer Zeit leben. Der Kampf Rabbinismus und Karaeismus nahm die heftigsten Formen an, und manche Episode ist uns berichtet von der Vehemenz, in der dieser Kampf geführt wurde. Und doch waren beide Gruppen gläubige Juden, beide trafen sich in der Synagoge zum gemeinsamen Gebet.

Das war, und wir verstehen das heutzutage recht wohl, ein auf die Dauer untragbarer Zustand, und die Rabbinen, die die Majorität vertraten, sannen auf Mittel und Wege, den Karäern den Zutritt zur Synagoge, den sie ihnen nicht verbieten konnten, unmöglich zu machen. Das geschah denn dann auch auf sinnige Weise. Ein Beispiel von vielen soll erläutern, was geschah. Die Thora gebietet: Ihr sollt am Schabbattage kein Licht anzünden. Seit den Tagen der Offenbarung am Sinai weiß die mündliche Überlieferung zu erklären, daß das Entzünden von Licht am Schabbattage verboten ist, daß aber der Gebrauch eines vom Vortage brennenden Lichtes erlaubt ist. Die Karäer nahmen auch diese mündliche Überlieferung nicht an. Sie glaubten das Wort der Thora so verstehen zu müssen, daß der Gebrauch von Licht am Schabbat schlechterdings verboten sei, auch wenn das Licht schon vorher entzündet worden war. Sie glauben, am Schabbat im Dunkeln sitzen zu müssen. Hier hakten die Rabbinen ein, und sie ordneten an, daß am Freitag abends Lichter zu entzünden seien, über die ein Segensspruch gesprochen werden muß, der besagt, daß G’tt uns dieses Entzünden von Lichtern geboten habe. Hier konnten die Karäer nicht mittun. Mehr noch: Die Rabbinen verlangten, daß am Freitagabend in der Synagoge der Abschnitt aus der Mischna, das ist die mündliche Überlieferung, verlesen werde, der sich mit dem Gebrauch von Licht am Schabbat befaßt. Auch hierbei konnten sich die Karäer nicht beteiligen. Sie kamen am Freitagabend nicht mehr zur Synagoge. Der Zweck war erreicht.

Und ähnlich soll es sich am Versöhnungstage verhalten haben. Die Thora fordert unabdingbare Erfüllung jeden gegebenen Versprechens. Es gibt, im Wortlaut der Thora, keine Möglichkeit, ein einmal gegebenes Versprechen, und wäre es absolut unsinnig, unerfüllt zu lassen. Die mündliche Überlieferung hingegen gibt den Rabbinen das Recht, Juden von Verpflichtungen zu entbinden, die nach bestem Wissen und Gewissen der Richter undurchführbar sind. Das hat mit großer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit zu geschehen, aber es ist möglich. Und es ist auch sinnvoll, daß es möglich ist. Die Rabbinen, die den heiligsten Tag, den das Judentum kennt, nicht mit ihren Gegnern unter einem Dache verbringen wollten, ordneten daher an, so meint Kraus, daß vor Beginn des eigentlichen Gebets, solche Gelübde und Versprechungen erlassen werden sollten, die gegenstandslos waren— die aber trotzdem nach dem Wortlaut der Thora und dementsprechend nach der Auffassung der Karäer nicht erlassen werden konnten — wie zum Beispiel Versprechungen an die der Gelobende sich nicht erinnerte oder die er unbewußt und unbeabsichtigt gegeben hatte.

Und auch am Versöhnungstage waren auf diese Weise die Anhänger des Rabbinismus unter sich, denn die Karäer, auf Grund ihrer Überzeugung, konnten eine derartige Formel nicht anerkennen oder gar mit aussprechen. Dieser Entstehungsgrund des Kol Nidre würde dann auch den Widerstand erklären, den diese Formel in jüdischen Kreisen durch die Jahrhunderte gefunden hat. Es entspricht, so meinen viele, nicht der Heiligkeit des Tages, ihn mit einer politischen Aktion beginnen zu lassen, die als unwürdig empfunden werden muß.

Aus: „Die jüdischen Feiertage – unter Betonung der religiösen Praxis, der Halacha„.