Rabbiner Bernard J. Bamberger (1904-1980)
Aus: „Die Tora in jüdischer Auslegung“
Das dritte Buch der Tora, Levitikus, enthält einige der wichtigsten Bibeltexte. In diesem Buch lesen wir Satze wie „Liebe deinen Nächsten so, wie du dich selbst liebst“ und „Ihr sollt im Land allen Einwohnern Freiheit ausrufen“.
Zum großen Teil handelt das Buch jedoch von Dingen, die mit unserem heutigen Leben recht wenig zu tun haben, von Opferanweisungen und Regeln zur rituellen Reinigung. Fast alle haben ihre Geltung verloren, als der Tempel im Jahr 70 d.Z. zerstört wurde. Selbst für die Lebensweise streng orthodoxer Juden haben sie heute keine Bedeutung mehr und wurden darum von normierenden Rechtssammlungen wie dem Schulchan Aruch ausgeschlossen. In der orthodoxen Tradition wird dies allerdings nur als eine vorübergehende Unterbrechung gewertet: Wenn der Messias kommt, wird der Tempel wieder erbaut und der Opferkult wieder aufgenommen werden. Das orthodoxe Gebetbuch enthält daher Gebete für diese Wiederherstellung. Doch die meisten zeitgenössischen Juden, nicht nur diejenigen, die dem Reformjudentum angehören, betrachten diese Opferbräuche als gänzlich überholt. Sie rechnen nicht mit ihrer Wiederbelebung und wollen sie auch nicht.
Der Philosoph Philo, der zu Beginn der allgemeinen Zeitrechnung in Alexandria lebte, fand im Opferkult vielerei geistige Bedeutungen. Er deutete die Gesetze symbolisch oder allegorisch und war fest davon überzeugt, dass er zu ihrer tiefsten und wahrsten Absicht vorgedrungen sei. Diese Betrachtungsweise ist uns heute nicht mehr möglich. Der einzige für uns mögliche Zugang ist der historische, der das Material im Licht der Zeit sieht, in der es entstand und vor dem Hintergrund der altorientalischen Kultur.
Ein solche historische Betrachtungsweise ist auch für die allgemeine Leserschaft fruchtbar. Sie zeigt eine spannende Entwicklung der Religions- und Moralvorstellungen in der Bibel selbst. Nur im Buch Levitikus gibt es einige wenige Abschnitte, in denen das Wort kadosch, das gewöhnlich mit „heilig“ übersetzt wird, auch „tabu“ bedeuten kann, andere Stellen, an denen es den höchsten Grad ethischen und geistigen Strebens bezeichnet.
Darüber hinaus werden wir entdecken, dass die rituellen Abläufe, die hier beschrieben werden, zwar in vieler Hinsicht denen anderer antiker Volker ähneln aber auch einige bedeutsame Unterschiede aufweisen. Die eigentümliche Erscheinung eines sich entwickelnden Judentums ist sogar in einer Epoche erkennbar, die Änderungen von sich wies, vor allem Änderungen im Bezug auf Brauch und Ritus, die von einer erblichen und daher in der Regel konservativen Priesterschaft gepflegt wurden.
Wichtiger ist aber wohl die Tatsache, dass diese Materialien allen Menschen zugänglich gemacht worden sind. Andere altorientalische Völker besaßen Mythen und Legenden, die uns gelegentlich an die Geschichten des TaNaKh (Pentateuch) erinnern. Ebenso besaßen sie zivil- und strafrechtliche Gesetze, wie den Kodex Hammurabi, der auf einem Denkstein an einem öffentlichen Platz aufgestellt war. Doch ihre rituellen und liturgischen Texte wurden im allgemeinen in den Tempeln für den ausschließlichen Gebrauch durch die Priester verwahrt. Nur in der Torah finden wir Geschichten, Gesetze und Ritualanweisungen, die in einem einzigen Dokument zusammengefasst wurden und für alle zugänglich sind.
Das Buch Deuteronomium (Dewarim, 5.B.M.) gebietet, dass Eltern ihren Kindern seinen Inhalt sorgfältig lehren sollen und sieht vor, dass das gesamte Buch alle sieben Jahre öffentlich verlesen wird. Doch selbst das Deuteronomium lässt Angelegenheiten der Priesterschaft vollständig in der Hand der Priester. Es beschreibt den Vorgang der Opfer nicht und verweist das Volk zur Beurteilung von „Aussatz“ an die Priester (Dtn 24,5) Von daher war es eine Art Revolution, als die priesterlichen Gesetze in einem Werk zusammengefasst wurden, das für die gesamte Bevölkerung bestimmt war. Diese Gesetze sollten nicht mehr länger Berufsgeheimnis sein Eine Anzahl von Abschnitten im Buch Levitikus beginnt darum mit: „Rede mit den Priestern, den Söhnen Aharons“, oder: „Gib Aharon und seinen Söhnen folgenden Befehl“, doch andere, darunter der erste Abschnitt über die Opfer, beginnt mit: „Rede mit den Kindern Jisraels und sage ihnen“. Die Vorstellung einer vollständigen Tora, die alle, die es wollen, studieren können, bringt hier einen neuen demokratischen Geist zum Ausdruck.
Hinzu kommt, dass die scheinbar nichts sagenden rituellen Abschnitte die talmudischen Gelehrten teilweise zu Kommentaren drängten, die es um ihrer Schönheit und ihrer tiefgründigen Einsichten willen wert sind, beachtet zu werden.
Andere Themen des Buches Levitikus aber prägen bis heute das Leben vieler Juden. Hingewiesen sei zum Beispiel auf die Speisegesetze. Auch diejenigen, die die Kaschruth nicht beachten, sollten etwas über den Charakter und den Geist dieser Bestimmungen wissen, die oft von wohlwollenden, aber uninformierten Laien missverstanden und fehlgedeutet wurden.
Wieder andere Abschnitte behandeln Themen, die für alle religiösen Juden von Belang sind. Als Beispiel seien die Kapitel über verbotene sexuelle Beziehungen genannt und die ausführliche Beschreibung der Feiertage und Feste. Wir behandeln solche Abschnitte, indem wir davon ausgehen, dass wir vieles aus der Tora lernen können, obwohl wir ihre Autorität nicht blind und unhinterfragt hinnehmen. In dem großartigen Heiligkeitsgesetz sowie in dem Abschnitt über das Joweljahr sehen wir uns durch die edelsten und strengsten ethischen und religiösen Ideale herausgefordert. Unsere Darstellung wird sich oft auf die Ursprünge und die ursprüngliche Absicht der alten Regeln beziehen. Beim Lesen sollte man jedoch stets im Hinterkopf behalten, dass ein Brauch sich fortsetzen kann, lange nachdem seine ursprüngliche Bedeutung verworfen und vergessen ist. Man darf zum Beispiel nicht davon ausgehen, dass die Generationen von Juden, die im Tempel Opfer dargebracht haben, oder die Verfasser, die die Opfergesetzte im Buch Levitikus zusammenstellen, noch daran glauben, dass Gott buchstäblich das Bedürfnis nach Nahrung habe.
Auch wird der Wert eines lebendigen Brauchs nicht notwendig davon beeinträchtigt, dass er vielleicht im Aberglauben wurzelt. Ein einfaches Beispiel, das nicht im Zusammenhang mit den Buch Levitikus steht, mag dies verdeutlichen. Bestattungs- und Trauerriten haben ein ausgesprochen hohes Alter. Ursprünglich dienten sie dazu, die Lebenden vor den Geistern der Toten zu schützen. Man glaubte, dass diese nun wütend seien, weil ihnen die Bequemlichkeiten und Beziehungen, an denen sie sich im Leben erfreut hatten, weggenommen wurden. Um die Weggegangenen daran zu hindern, zurückzukehren und ihren Familien zu schaden, schichtete man einen Steinhaufen über ihre Gräber. Unser Brauch, einen Grabstein zu errichten rührt letztlich von dieser alten Angst her. Doch es ist offensichtlich, dass dies nicht der Grund ist, weshalb wir heute die Gräber unserer Verstorbenen kennzeichnen. Anders als die beiden ersten Bücher der Bibel, enthält das dritte nur sehr wenige erzählende Stücke. Deshalb schien es notwendig, jedem Abschnitt eine recht ausführliche Einführung voranzustellen, bevor der Text versweise erläutert wird.
Der Name des Buches
Zu Beginn der allgemeinen Zeitrechnung, vielleicht sogar früher, hieß unser Buch „Torath Kohanim“, also „priesterliche Weisung“. Im Hebräischen wird es gewöhnlich durch die Angabe des ersten Wortes benannt: „Vajikra“…, d.h. „Und er rief“….
Die griechische Übersetzung nannte es Levitikon, „das levitische (Buch)“ und die lateinische Version dieses Namens, Levitikus, wurde allgemein üblich. Eigenartigerweise werden die Leviten in diesem Buch jedoch nur in Kapitel 25 Vers 32 bis 34 erwähnt, obwohl die Priester selbstverständlich Angehörige des Stammes Levi waren.
Der Inhalt des Buches
I Opfergesetze Kap. 1 – 7
II Die Weihung des Stiftszeltes und der Priester (und weitere damit zusammenhängende Ereignisse) Kap. 8-10
III Erlaubte und verbotene Speisen Kap. 11,1-23
IV Gesetze über Verunreinigung und Reinigung Kap. 11,24-15,33
V Der Versöhnungstag Kap. 16
VI Das Heiligkeitsgesetz Kap. 17-27
Zusätzliche Gesetze über Opfer und Nahrung Kap 17
Erlaubte und verbotene sexuelle Beziehungen Kap 18-20
Gesetz über Heiligkeit, sowohl in ethischer als auch in ritueller Hinsicht Kap 19
Gesetze über die Priesterschaft Kap. 21 und 22
Schabbat und Festkalender Kap 23
Zwei Gesetze und ein Zwischenfall über eine Gotteslästerung Kap. 24
Das Schabbat- und das Jubeljahr Kap 25
Eine Ermahnung, die Segnungen für die Beachtung des Gesetzes und Flüche für seine Missachtung enthält Kap 26
VII Zusätzliche Gesetze, die Gelübde, Gaben und Gebühren betreffen Kap. 27
Priesterschrift und Heiligkeitsgesetz
In der allgemeinen Einführung in die Tora (Band I Bereschith – Genesis) hieß es, dass die Tora eine zusammengesetzte Einheit ist. Obwohl viele Schlussfolgerungen des 19. Jahrhunderts später in Frage gestellt worden sind, kann man das Vorhandensein von drei wesentlichen Bestandteilen innerhalb des Pentateuchs kaum bestreiten.
Eines dieser Bestandteile ist das Buch Deuteronomium, das sich in seiner Sichtweise, seinem Inhalt und Stil vom Rest unterscheidet. Wissenschaftler benutzen die Initiale D, wenn sie sich auf diesen Teil beziehen.
Der zweite Bestandteil des Pentateuchs umfasst die lebhaften, spannenden und bewegenden Erzahlungen der Bücher Genesis, Exodus und Numeri und wird J/E genannt. Diese Bücher enthalten außerdem kurze Abschnitte aus einer priesterlichen Quelle P.
Das Buch Levitikus besteht insgesamt nur aus priesterlichem Material. P enthält eine erstaunlich große Menge an Erzählungen, doch das hauptsächliche Interesse liegt bei Gesetz und Ritual. Die äußere Form ist systematischer als in den übrigen Quellen und der Stil ist präziser und genauer. Er kann so würdevoll und eindrücklich sein, wie im ersten Kapitel der Genesis.
Obwohl das gesamte Buch Levitikus sich auf priesterliche Quellen gründet, ist es kein einheitlicher und geordneter Kodex. Die Opfer werden zum Beispiel in großer Ausführlichkeit besprochen, doch andere wichtige Bestimmungen zu diesem Thema, die ebenfalls von P stammen, finden sich in Exodus und Numeri. In den Kapiteln über rituelle Unreinheit (11-15) wird die schwerste Verunreinigung, der Kontakt mit einer Leiche, nicht erwähnt. Dieses Thema wird in Kap. 21 Vers 1-4 nur ganz kurz gestreift, doch eine ausführliche Darstellung findet sich nur in Numeri 19.
Selbst innerhalb des Buches Levitikus fehlt eine systematische Ordnung. Der Abschnitt über das Opfer enthält zwei Teile, Kapitel 6 und 7, die zusätzliche Bestimmungen zu den verschiedenen Opferarten geben, die bereits in den Kapiteln 1-5 dargestellt worden sind (Kap. 17 bietet weiteres Material zum Thema Opfer) Kapitel 20 ist weitgehend eine Wiederholung der Gesetze aus Kapitel 18.
Bei P handelt es sich nicht um eine nahtlose Einheit, die von einem einzigen Verfasser geschrieben wurde. Es ist eine Zusammenstellung priesterlicher Traditionen aus verschiedenen Quellen und zweifellos aus verschiedenen Zeitepochen. In den Einzelheiten gibt es zahlreiche Abweichungen und es weist einiges darauf hin, dass die Sammlung, nachdem sie bereits abgeschlossen war, noch Zusätze und redaktionelle Änderungen erfuhr. Doch die Versuche der Wissenschaft, P in seine einzelnen Quellen zu zerlegen und jede einzeln zu datieren, sind wenig überzeugend.
Die Forschung hat außerdem gezeigt, dass man hinter vielen der geschriebenen Dokumente mit einer langen mündlichen Tradition rechnen muss. Ein geschriebenes Gesetz kann Jahrhunderte lang bereits Geltung gehabt haben, bevor es in einen unserer gegenwärtigen Texte eingefügt wurde.
Doch selbst in einer Übersetzung erkennt man in der zweiten Hälfte des Buches eine deutliche Änderung im Inhalt, Stil und Ton. Die Kapitel 1 bis 16 sind inhaltlich und stilistisch den P-Materialien ähnlich, die sich in den anderen Büchern der Torah finden. Die Kapitel 17 bis 26 besitzen dagegen viele eigentümliche Charakteristika. Oft erläutern sie Zweck und Absicht der Gesetze – eine Seltenheit in P.
Über die Begründungen einzelner Bestimmungen hinaus beziehen sich diese Kapitel durchgängig auf ihren allgemeinen Zweck: die Heiligkeit des israelitischen Volkes zu bewahren. Diese Heiligkeit wird nicht nur in der rituellen Reinheit gesehen, sondern vor allem in persönlicher und sozialer Gerechtigkeit. Der göttliche Ursprung und die göttliche Zustimmung werden immer wieder durch Sätze wie „Ich, der Ewige, euer Gott“ am Ende eines Gebots betont. In ihrer Verbindung von moralischen und rituellen Elementen erinnern diese Kapitel an D. Kurz gesagt: Bei diesen Abschnitten handelt es sich um eine charakteristische Eigentümlichkeit von P oder gar um eine eigenständige Quelle, die in der Wissenschaft Heiligkeitsgesetz H genannt wird. Aus diesem Textteil stammen die meisten derjenigen Abschnitte des Buches Levitikus, die uns heute noch ansprechen.
Obwohl H von den übrigen Teilen der Tora abweicht, zeigt es in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeit mit den Prosatexten des Propheten Jecheskel (Ezechiel). In der Wissenschaft wurden längere Listen der Sätze zusammengestellt, die häufig bzw. selten in Ezechiel und H belegt sind und, wenn überhaupt, in anderen biblischen Texten. Man hat sogar vorgeschlagen, Ezechiel als den Verfasser des Heiligkeitsgesetzes zu betrachten, doch Ezechiels Auffassungen über religiöse Observanz widersprechen einigen Bestimmungen von H. Es erscheint jedoch als sehr wahrscheinlich, dass H aus der Wirkungszeit dieses Propheten stammt, das heißt, aus den Jahren nach dem Untergang Judas im 6. Jh. v.d.Z.
Der Verfasser dieses Kommentars hält die schriftlichen Dokumente des Pentateuchs für eine Kristallisation mehrerer Traditionen, von denen einige sehr alt sind. Dies trifft ebenso auf P zu. Es enthält trotz einer gewissen Uniformität in Stil und Gestaltung viele Widersprüche, die auf eine Komposition aus verschiedenen Quellen hinweisen. Es spricht einiges dafür, dass die priesterlichen Materialien im 5. Jh. v.d.Z. ihre gegenwärtige Form erhielten. Die Redakteure bewahrten einen Großteil des alten Materials unverändert, doch ebenso konnten sie auch Dinge ändern oder ergänzen, um neuen Bedürfnissen zu entsprechen. Das Gesetz über den Sündenbock (16, 8-10 und 20-22) ist nur eines der genuin archaischen Elemente in P. Daneben enthält die Priesterschrift aber auch Abschnitte, die eine gekünstelte und künstliche Altertümlichkeit aufweisen, vor allem die Darstellung eines ausgearbeiteten Schreins mit einem hoch organisierten sakralen System, das für die Bedingungen der Wüste vollkommen ungeeignet ist. Dies lässt auf ein relativ spätes Datum der Entstehung schließen. Ebenso auch die heftige Auseinandersetzung zwischen Priestern und Leviten – im Buch Deuteronomium dagegen erscheinen diese beiden Begriffe als Synonyme]. Das uns heute vorliegende Buch Levitikus ist also das Endprodukt einer langen und komplizierten Entwicklung.
Kommentare zu Levitikus
Jahrhundertelang begannen jüdische Kinder ihr Bibelstudium mit dem Buch Levitikus. Diese seltsame Wahl wurde dadurch begründet, dass die reinen Kinder zuerst die Opfer lernen sollten, die in Reinheit dargebracht werden. Doch auch Erwachsene haben dieses Werk eifrig studiert. Die rabbinischen Kommentare über die Bücher der Bibel sind als „Midraschim“ bekannt. Diejenigen zu Levitikus sind die längsten und ausführlichsten unter ihnen.
Das Buch heißt Torat Kohanim und ebenso Sifra („das Buch“). Das Material wird weitgehend auf die Ausführungen des im 2. Jh.d.Z. lebenden Rabbi Akiwa und seiner Schüler zurückgeführt.
Das Wort Midrasch bedeutet „Suche“, „Interpretation“. Midraschim ziehen aus dem Bibeltext oft Schlüsse, die weit über seinen offenkundigen Sinn hinausgehen. Doch die midraschische Methode von Rabbi Akiwa war besonders intensiv. Er war davon überzeugt, dass jedes Wort und jeder Buchstabe des Pentateuchs eine reiche und vielfältige Bedeutung birgt. In Sifra kann eine rechtliche Regelung von einen „und“ oder „aber“ her abgeleitet werden und bietet so die biblische Untermauerung für Bestimmungen, die bis dahin nur durch die Tradition bekannt waren. Sifra kommentiert nahezu jeden Vers des Buches Levitikus sowohl in halachischer, das heißt rechtskräftiger, als auch in aggadischer Hinsicht, d.h. als Moral und religiöse Belehrung.
Vermutlich wurde Sifra im 3. Jh. d.Z. kompiliert. Später erschienen weitere Midraschim zu Levitikus, die vermutlich ins 6. oder 7. Jh. zu datieren sind. Diese Werke sind fast ausschließlich aggadisch und enthalten Homilien (Auslegungen), die sich auf die ersten Sätze verschiedener Abschnitte dieses Buches beziehen. Sie handeln über Themen, die für die damalige Hörerschaft von Interesse waren, für die die Einzelheiten über das Opfer und ähnliches eher öde und langweilig schienen.
So handelt zum Beispiel die Homilie zu dem Eingangsvers „Der Ewige rief Mosche“ über Prophetie und Offenbarung, diejenige über Kapitel 2 Vers 1 „Bringt jemand (nefesch) ein Speiseopfer dem Ewigen zu Ehren“ versteht Nefesch als „Seele“ und erörtert die Beziehung zwischen Körper und Seele. Obwohl in Kapitel 10 Vers 9 Wein nur für einen Priester verboten wird, der ein Opfer darbringen wird, verwendet der Midrasch diesen Vers für eine allgemeine Homilie über die Übel des Trinkens, die einige humoristische Züge enthält. Der Vers „Wenn dein Bruder neben dir verarmt“ (25,35), bot den Anlass zu einer langen und großartigen Predigt über die Nächstenliebe. Diese Materialien finden sich in einem Werk mit dem Namen Wajikra Rabba (frei übersetzt: „Der große Midrasch über Levitikus“) und im Midrasch Tanchuma, der sich über die gesamte Tora erstreckt und in mindestens zwei Versionen existiert. Viele Kommentierungen über Levitikus sind außerdem in anderen Midraschim zu finden sowie in den beiden Talmudim (Jerusalemer und Babylonischer Talmud). Das meiste dieser Materialien wurde in mittelalterlichen Kompilationen, dem Jalqut Schimoni und dem Midrasch ha-Gadol gesammelt.
Dieser Kommentar basiert auf diesen Quellen ebenso wie auf den großen mittelalterlichen jüdischen Kommentatoren Raschi, Ibn Esra und anderen. Von Sifra ausgehend geben sie oft tiefgründige Erklärungen des Bibeltextes. Selbst wenn wir ihre Deutungen unzutreffend oder zu phantasievoll finden, können sie uns etwas lehren. Wir lernen von ihnen, wie frühere Generationen die Tora verstanden und gelegentlich neue und erbauliche Gedanken im Text entdeckten.
Einen großen Teil der kritischen Studien verdanken wir christlichen Bibelwissenschaftlern der letzten hundertfünfzig Jahre. Ihre Kommentare über Levitikus zählen zwar nicht zu ihren größten Erfolgen: vielleicht war es zu schwierig für sie, eine Beziehung zu den Inhalten dieses Buches zu finden oder ihre Vorurteile gegen die jüdische Tradition behinderten sie. Der in englisch verfasste Kommentar von N.H. Snaith macht intensiven Gebrauch von jüdischen Quellen.
Zwei moderne jüdische Kommentare zu Levitikus verdienen eine besondere Erwähnung. Der eine ist der Critical and Historical Commentary von M.M. Kalisch, der einer der ersten jüdischen Wissenschaftler war, der die historisch-kritische Methode für seine Bibelforschung anwandte. Selbst zu seiner Zeit neigte er stark dazu, die uralten Riten durch rationalistische und moralische Vorstellungen zu erklären und sein Werk ist heute überholt. Dennoch ist es eine Fundgrube für die Geschichte der biblischen Exegese und enthält etliche scharfsinnige Bemerkungen. Der umfangreiche deutsche Kommentar von David Hotfmann ist aus einer kompromisslosen orthodoxen Sicht verfasst. Er war jedoch wohl vertraut mit der Arbeit der christlichen Bibelwissenschaftler des 19.Jahrhunderts und es gelang ihm häufig, ihre eigene Kritik als Waffe gegen sie einzusetzen. Eine Rezension dieses gelehrten Werks verfasste Christian Bruno Baentsch, dessen eigenen Kommentar über Levitikus wir gelegenlich zitieren. Baentsch räumt ein, vieles von Hoffmann gelernt zu haben, trotz seiner orthodoxen Sichtweise.
[Ein neuerer englischer Kommentar erschien nach dem Tode von Dr. B.J. Bamberger. Sein Verfasser ist Baruch A. Levine. Dieser Kommentar ist Teil des großangelegten JPS Torah Commentary. Der Levitikus-Band wurde 1989 veröffentlicht.]
{1991 erschien der erste Teil eines ausführlichen, philologisch sehr genauen Kommentars von Rabbiner Jacob Milgrom, ebenfalls in englischer Sprache verlasst. Ein neuerer deutscher Levitkuskommentar von Erhard S. Gerstenberger, ist ein Beispiel für eine rein christliche Perspektive auf das Buch Levitikus.}
Hingewiesen sei auch auf zwei moderne hebräische Kommentare zur gesamten Tora, einschließlich Levitikus. Derjenige von Samuel David Luzzatto verbindet eine strenge Verpflichtung der Tradition gegenüber mit einer beträchtlichen Originalität. Der andere von Arnold B. Ehrlich ist ein großartiges Werk der modernen Bibelwissenschaft.
Quelle: „Die Tora in jüdischer Auslegung“
Im Herbst 1999 erschien der erste Band (beReschith / Genesis) des erstmals 1981 von Rabbiner W. Gunther Plaut unter Mitarbeit von Rabbiner Bernard J. Bamberger s’l und Professor William W. Hallo herausgegebenen Bibelkommentars „Die Tora in jüdischer Auslegung“, von Annette Böckler übersetzt und editiert, im Gütersloher Verlagshaus. Mittlerweile steht der komplette Chumasch nach Plaut in deutscher Übertragung zur Verfügung.
Das Standardwerk jüdischer Tora-Interpretation, das in den jüdischen Gemeinden Nordamerikas zum Klassiker wurde, verbindet die Erläuterungen aus dem Schatz rabbinischer Auslegung zu den fünf Büchern Mose mit den Einsichten der modernen Bibelwissenschaft, wodurch sich nun auch dem deutschen Leser ein Zugang zur Tora („Lehre“ oder „Weisung“) und damit ein weiter Blick auf das Herz jüdischer Glaubenserfahrung eröffnet.
Die fünf Bände bieten den hebräischen Originaltext mit Vokalisierung und Gesangpunktation für den synagogalen Gottesdienst. Ein besonderes Glanzstück ist der deutsche Bibeltext dieses Kommentarwerks: Erstmals seit langem ist hier die herausragende, den Eintritt des Judentums in die Moderne markierende Übersetzung des Religionsphilosophen Moses Mendelssohn wieder greifbar.
Auch damit werden die Quellen, die das wiederbelebte progressive Judentum in Deutschland speisen, in ihrer ganzen Bandbreite einbezogen: der vom Humanismus geprägte jüdische Traditionalismus Mendelssohns, die in der „Wissenschaft des Judentums“ gipfelnde Reform des deutschen Judentums sowie die Lebendigkeit des angelsächsischen progressiven Judentums der Gegenwart.
Bestellen? Die Tora, Hebräisch-Deutsch, 5 Bde.: Bd.1, Genesis / Bd.2, Exodus / Bd.3, Leviticus / Bd.4, Numeri / Bd.5, Deuteronomium
In Erinnerung:
Rabbiner Dr. Bernard J. Bamberger s’l
(1904-1980)
Von Rabbiner W. Gunther Plaut
Der Band „Vajikra“ steht im Zentrum der Tora, und diese Stellung gebührt dem Verfasser des Levitikuskommentars. Rabbiner Dr. Bernard J. Bamberger s’l (1904-1980) erlebte noch die Veröffentlichung seines Beitrags in den USA, aber starb bevor die amerikanische Gesamtausgabe des Pentateuchs dem Leserpublikum vorgestellt werden konnte.
Mit seinem Tode verlor die jüdische Wissenschaft einen ihrer bekanntesten Vertreter. Obwohl er von Beruf nicht Akademiker sondern Gemeinderabbiner war, der seine letzten Jahrzehnte in New York City zubrachte, wurde er Mitglied des Gremiums der Jewish Publication Society, das die Bibel neu ins Englische übersetzte. Es ist bis heute der maßgebende englische Text der heiligen Schrift, und Bambergers wissenschaftliche Expertise trug dazu wesentlich bei.
Er verfasste geschichtliche und theologische Studien, darunter die Werke Proselytism in the Talmudic Period; Fallen Angels; The Bible – A Modern Jewish Approach; The Story of Judaism; The Search for Jewish Theology; Studies in Jewish Law, Custom and Folklore.
Sein Einfluss reichte über das gedruckte Wort hinaus. Er war Präsident des Synagogue Council ofAmerica, der Central Conference of American Rabbis, Vize-Präsident des American Jewish Book Council und der Worid Union for Progressive Judaism.
Leser dieses Kommentars werden bemerken, dass seine Bewertung des antiken Opfer- und Priesterkultes von meiner Sicht (die im Numerikommentar erläutert ist) stark abweicht. Sein Standpunkt war der eines der letzten Repräsentanten des sogenannten klassischen Reformjudentums, das sich in vieler Hinsicht der biblischen Tradition kritisch gegenüberstellte. Doch seine Wissenschaft wurde nicht von seiner persönlichen Einstellung beeinflusst, und sein Kommentar spricht für sich selbst. Die Tatsache, dass wir gelegentlich dasselbe Thema unterschiedlich behandeln konnten und dass abweichende Ansichten in unserer Toraausgabe nebeneinander stehen, ist – wenn man den Vergleich wagen darf – ein bescheidenes Zeugnis des liberalen talmudischen Diktums, das von dem Streit zwischen Hillel und Schammai sagen konnte: „Beide Ansichten spiegeln das lebendige Gotteswort.“
Möge mein seliger Freund und Kollege in dieser Weise vom Jenseits zu uns sprechen und uns lehren.
W. Günther Plaut