Eine Nacht, die anders ist

Rabbiner Pinchas Paul Biberfeld (s“l)

Da thront der Vater über der Familie, plötzlich aus der trivialen Alltagsroutine emporgehoben – die Tischrunde entschwebt im Geiste Jahrtausende zurück – in die ägyptische Antike.

Nun spricht der Vater viermal das Wörtchen Baruch – Er sei gelobt für das Quartett der Söhne, mit dem ER uns bedacht hat: Der Weise, der Naive, der Sprachlose und … der Bösewicht.
Fragt der Lubawitscher Rebbe: »Weshalb Dank für die Bescherung des Bösewichts?« Antwort: G’T sei Dank, daß er noch seinen Platz am Familientisch findet! Noch ist nicht alle Hoffnung am verlorenen Sohn nicht verloren. Er wird noch zurückfinden in den Schoß der Familie und zu dem G’Tesglauben.

Was ist los? Mah nischtanah?

Gleich zu Beginn des Seders ein anderes Quartett: die vier Fragen, beginnend mit den Worten: Ma nischtana – warum ist diese Nacht anders wie alle anderen Nächte?

Es begab sich einmal bei einem Rabbiner, der als häufigen Hausfreund einen gebildeten Christen als Gast hatte, da dieser eine Frage auf die erwähnte Frage hatte: »Meine Lieben! Ich kenne Euch als normal denkende Menschen. Am Sukkot sitzt Ihr auf dem Balkon in einer wind- und regengeschützten Laubhütte und kein Kind drückt sein Erstaunen aus. Aber am Seder-Abend – der Festtisch – mit einer feinen Damastdecke, Tafelsilber, goldenen Pokalen und Edelporzellan bedeckt – da fragt der Jüngste: ‚Was ist heute Abend los?‘ Das hätte er am Sukkot fragen sollen!«
Hierauf mit feiner Ironie der Vater: »Ihre werten Urahnen haben unseren Urahnen soviel Leid und Verfolgung angetan. Wenn ein Kind in der Sukka sitzt findet er das in Anbetracht des jüdischen Schicksals normal, aber beim feierlichen Seder-Mahl fragt er: Was ist los? ‚Ma nischtana?’«

Etwas Geduld müssen Sie schon haben

Eine unwahre Begebenheit mit zwei Studenten. Es war noch die gute alte Zeit bevor noch die Scholarships (Stipendien) erfunden waren und viele Studenten litten Mangel und Hunger. Da sprach ein jüdischer Kommilitone zu seinem Freund von der anderen Konfession. »Ich kann Dir eine Einladung zu einem reichhaltigen Menü verschaffen – nur Eines mußt Du mir versprechen: Schweig‘ und iß! Stell‘ bitte keinerlei Fragen was auch immer geschieht.« Gesagt, getan! Sie trennten sich am Rüsttage des Pessachs (Erew Pessach), um sich nachher am Halbfeiertag wiederzusehen. Als sie sich wieder wie vereinbart wieder begegneten, war der nichtjüdische Student geladen voll Ärger und Zorn.
Auf die erstaunte Frage des Freundes antwortete er: »Warum treibst Du Spott und Hohn mit meinem Hungerleiden? Ich kam zu der betreffenden Familie. Man begann mit Singsang und einem Glas Wein. Sodann – Singsang und ein salziges Radieschen – Singsang – bitteres Kraut, danach etwas scharfes – voll Wut und Enttäuschung verließ ich das ungastliche Haus«. Hierauf der Kollege: »Hättest Du doch kurz durchgehalten – ein opulenter Festschmaus hätte Dich erwartet. Warum hattest Du nicht noch etwas Geduld?« (Rabbi H. Schechter, London)

Das Geheimnis?!

Er hatte dem Esau die Erbschaft des heiligen Landes angeboten. Bedingung: Du mußt vorher ins Exil gehen um geläutert durch die Leiden würdig zu sein zum Besitz des heiligen Landes. Esau, der Urvater von Julius Cäsar, Hindenburg und anderen Krafthelden, verspürte sich nicht in der Lage das Angebot anzunehmen. Aber der verletzte, hinkende Jakob – er nahm es an! Stark war der Schwache.

Die Quintessenz: Dieser Abend, ein Highlight des jüdischen Jahres, soll uns eines lehren: Vertraut auf Ihn! It pays! Er ist nicht nur unser König, in erster Linie ist Er unser Vater, der unser Schicksal im einzelnen Individuum wie auch die ganze jüdische Nation belangend in liebevollem Schutz und Treue durch die Geschichte lenkt. Im Nissan wurde sie einst erlöst – im Nissan werden sie dermaleinst wieder erlöst werden!

Quelle: © Chaim Frank (Hrsg.), Rabbiner Pinchas Paul Biberfeld: Kommentare. Biographische Notizen, Erinnerungen und Anekdoten; München, 1998.