Drei finstere Wochen

Von Rabbiner S.Ph. De Vries

Genau drei Wochen liegen zwischen dem 17. Tammus und dem 9. Aw. Das sind die drei Wochen. Drei finstere Wochen: die Erinnerung an drei Wochen der Furcht, als die Unverzagten in Jerusalem im Kampf gegen die Römer ihre letzten Kräfte einsetzten.

»… gefangen in Elend … findet keine Ruhe; … seine Verfolger … bedrängen es« (Klagel. 1,3).

Auf aramäisch heißen sie die »drei Wochen der Bestrafung«. Das ist ganz deutlich. Es ist eine allgemeine Trauerzeit, strenger als die während der Omertage. Dann zieht man keine neuen Kleider zum ersten Mal an. Denn das wirkt belebend und weckt ein freudiges Gefühl. Außerdem müsste dann ein Segensspruch, eine Danksagung an Gott gesagt werden: »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du uns hast Leben und Erhaltung gegeben und uns hast diese Zeit erreichen lassen.« Das würde sich doch etwas merkwürdig ausnehmen. Wer könnte sich schon zu einer Zeit der nationalen Sorge freuen?

Aus dem gleichen Grund isst man während dieser »drei Wochen« auch kein Frühobst. Jede persönliche Freude tritt vor der nationalen Trauer zurück. Man verzichtet auf jede Feier. Es finden keine Hochzeiten statt. Man macht weder selbst Musik, noch spielt man sie. Auch die äußere Erscheinung wird nicht gepflegt. Man lässt das Haar wachsen, der Bart wird nicht entfernt. Bei einigen sogar drei Wochen lang. Hier sind die Bräuche unterschiedlich.

Der Beginn des Monats Aw

Zu Beginn des Monats Aw vertieft sich die Trauer. Das beeinflusst sogar die Mahlzeiten. Während der neun Tage kommen weder Fleisch noch Fleischgerichte auf den Tisch.

Auch keine Speisen, die tierisches Fett enthalten. Man isst nur die sogenannten milchigen Speisen. Natürlich trinkt man auch keinen Wein. Denn Wein und Fleisch gelten als typische Bestandteile festlicher Mahlzeiten. Außerdem knüpft dieser Brauch an die historische Tatsache an, dass in den drei Wochen, als Staat und Tempel kurz vor dem Untergang standen, weder Tier- noch Weinopfer auf den Altar gebracht wurden und die Menschen unter Hunger und Durst litten.

Auch das Baden wird unterlassen, wenn es nur dem Vergnügen dient. Aber Hygiene und Gesundheit dürfen selbstverständlich nicht geopfert werden, und zwar nie, in keinem Fall.

Diese drei Wochen lasten wie ein dunkler Schatten auf dem Gottesdienst in der Synagoge. Die Niedergeschlagenheit zeigt sich auch in der Art, wie die Gebete gesagt werden. Und in der Woche des Tischa be-Aw, des neunten Aw, müssen sogar die Thorarollen auf ihren Schmuck verzichten. Denn auch die Thora trauert.

Wie schon gesagt, sind die Bräuche in den einzelnen Gemeinden und Ländern verschieden. Die Liturgie für diesen Tag enthält Klagelieder, die von mittelalterlichen Dichtern verfaßt wurden. Die deutschen Juden haben auch Trauergesänge aus dem späten Mittelalter. Sie schildern die entsetzliche Not der jüdischen Gemeinden in Deutschland, die während der Kreuzzüge zerstört und deren Mitglieder grausam ermordet wurden, wie unter anderem die in Speyer, Worms und Mainz. Auf dem Kreuzzug von 1463 gegen die Türken mussten auch die Juden von Lemberg und Krakau Schweres erleiden.

Diese Bräuche sind zwar nicht direkt vorgeschrieben, aber sie haben sich aufgrund rabbinischer Entscheidungen entwickelt. Die jahrhundertelange Not hat die Trauer darüber hinaus zunehmend betont. Die Bräuche sind auch nicht zuletzt deshalb verschieden, weil nicht alle Gemeinden überall gleich schwer litten.

Es soll hier nochmals darauf verwiesen werden, dass wir uns hier nur das Leben der torah- und traditionstreuen Juden schildern, das vom Religionskodex geregelt wird. Es versteht sich von selbst, dass nicht alle Juden diese Trauerzeiten mitempfinden und ihre Riten befolgen. Und es gibt auch solche, die sie zwar befolgen, die jedoch trotzdem nicht die ihnen zugrunde liegenden Ereignisse voll erfassen.

Im allgemeinen haben diese finsteren Tage das jüdische Volksleben zutiefst gekennzeichnet. Das gilt besonders für den 9. Aw. Sogar die Sabbattage, die ihm vorausgehen, sind nicht ganz frei von seinem Einfluß.

 

Quelle: Jüdische Riten und Symbole, von S. Ph. De Vries, Marixverlag, Neuauflage 2005, Neu übersetzt und bearbeitet von Miriam Magall

Dieses Buch gilt sowohl für Juden als auch für Nichtjuden noch immer als das Standardwerk über die jüdische Religion, über die Bräuche und Vorschriften innerhalb des jüdischen Alltags.

Aus den Wurzeln der Tradition erklärt Rabbi S. Philip de Vries, der 1944 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet wurde, Riten, Symbole, Feiertags- und Alltagsbräuche, Übungen und Gebete, um das Judentum, seine historischen und moralischen Hintergründe sowie seine Glaubensformen Juden und Nichtjuden verständlich zu machen.