Dinim und Minhagim für Kippur

Vorschriften und Gebräuche

Erew Jom Kippur (Vorabend von Jom Kippur)

Gebete:

Im Morgengebet werden die Psalmen „mismor letoda“ und „lamnazeach“ nicht gesprochen. Das Gebet „Awinu Malkenu“ wird ebenfalls nicht gesprochen, es sei denn. daß Jom Kippur an einem Schabbat ist. Da am Schabbat dieses Gebet entfällt, sagt man es dafür an Erew Jom Kippur.

Im Minchagebet wird bereits das Sündenbekenntnis „al chet“ gesprochen, da der Mensch, sollte ihm in der kurzen Zeitspanne bis zum Abend etwa zustoßen, nicht vor G’tt treten soll, ohne die Umkehr vollzogen zu haben.

Kapparot:

Vielerorts ist es Brauch, für jedes männliche und weibliche Familienmitglied einen weißen Hahn bzw. eine weiße Henne zu kaufen. Man nimmt das Tier in die rechte Hand, schwingt es dreimal über den Kopf und sagt dabei: „Dies sei mein Tausch, meine Ablöse, meine Sühne; dieser Hahn (diese Henne) sei für den Tod bestimmt und ich möge eintreten in ein langes, gutes und friedliches Leben.“ Das Tier wird dann geschlachtet und einem Armen gegeben. Man kann auch einen Fisch an Stelle des Hahns nehmen. Diese Handlung stellt ein symbolisches Opfer dar und beruht auf der Interpretation, daß der Sinn eines Opfers darin liegt, dem Opfernden vor Augen zu führen, was ihm für seine Sünden eigentlich zukommen müßte, wäre da nicht die Gnade G’ttes, die ein Opfertier als Sühne für die Sünden verlangt. Der geschilderte Brauch war stets stark umstritten und so sind viele der mittelalterlichen rabbinischen Autoritäten der Auffassung, man solle als Sühne lieber eine Geldsumme für die Armen spenden.

Die Seuda Mafseket (abschließende Mahlzeit):

Auch Erew Jom Kippur gilt als Feiertag, an dem es religiöse Pflicht ist ein Festtagsmahl zu sich zu nehmen, um sich so auf den Tag vorzubereiten. Die Seuda Mafseket findet nach dem Minchagebet, ungefähr eine Stunde vorEinbruch der Dämmerung statt. Danach ist es verboten, noch etwas zu sich zu nehmen.

Das Segnen der Kinder:

Bevor die Familie zum Abendg’ttesdienst in die Synagoge geht, ist es Brauch, daß der Vater seine Kinder segnet. Zu einem Jungen sagt er: „G’tt mache Dich wie Ephraim und Menasche“, zu einem Mädchen: „G’tt mache Dich wie Sara, Rebekka, Rachel und Lea.“ Darauf sagt er: „G’tt segne Dich und behüte Dich; G’tt lasse sein Angesicht auf Dir scheinen und sei Dir gnädig; G’tt wende sein Angesicht Dir zu und gebe Dir Frieden.“

Es ist üblich, zu Hause und in der Synagoge zum Hinweis auf die Seele des Menschen, die mit einem Licht verglichen wird, eine Kerze anzuzünden. Der Tisch wird, wie am Schabbat, mit einer weißen Decke bedeckt und es werden auch die Kerzen entzündet. Auch in der Synagoge sind alle Vorhänge und Decken in weiß gehalten (siehe auch Einführung im Kapitel „Jom Kippur“). Viele Männer tragen in der Synagoge den Kittel, ein weißes Gewand, in das auch die Verstorbenen gekleidet werden. Der Betende wird so an seine Sterblichkeit erinnert und zur Umkehr ermahnt.

An Jom Kippur

Verbote an Jom Kippur:

Wie am Schabbat, ist alle Arbeit untersagt.

Essen und Trinken ist verboten. Selbst das Berühren von Eßwaren soll man vermeiden. Kinder unter 9 Jahren sollen nicht fasten. Ab 9 Jahren soll man Kinder einige Stunden fasten lassen, damit sie sich daran gewöhnen, bevor Mädchen mit 12 und Jungens mit 13 Jahren dazu verpflichtet sind.

Das Waschen ist verboten und Kosmetika dürfen nicht benutzt werden.

Man trägt keine Schuhe aus Leder oder mit Ledersohlen. Schuhe aus anderem Material (Gummi, Holz) sind erlaubt. Diese Verbote sind bei einem Kranken eingeschränkt. Es gilt der Grundsatz: Lebensgefahr hebt das Gesetz auf (= Pikuach nefesch doche din). Ordnet ein Arzt einem Kranken das Essen an, so darf sich dieser nicht widersetzen. Erlaubt der Arzt das Fasten, aber der Kranke glaubt, Fasten könne sein Leben in Gefahr bringen, so darf er essen. Genaue Auskunft für den jeweiligen Fall holt man sich am besten bei dem zuständigen Rabbiner.

Das Abendgebet an Jom Kippur:

Es ist üblich, zum Maariv-Gebet den Talfit anzulegen. Die dazugehörige Beracha wird nur gesprochen, solange es noch Tag ist. Das Abendgebet wird mit dem „Kol Nidre“ eingeleitet. Der Chasan trägt es dreimal vor, links und rechts von ihm stehen zwei angesehene Gemeindemitglieder, von denen jeder eine Thorarolle in den Armen hält. „Kol Nidre“ bedeutet „alle Gelübde“ und ist eine Erklärung, die alle Gelübde, die jemand im Laufe des Jahres gegenüber sich selber gemacht, aber vergessen und nicht erfüllt hat, für ungültig erklärt. Selbst vergessene Versprechungen sollen das Hintreten des Menschen vor G’tt am Jom Kippur nicht belasten.

Das „Kol Nidre“ ist in Aramäisch verfaßt und wahrscheinlich vor dem 9. Jhd. entstanden. Ober die Entstehung des „Kol Nidre“ gibt es verschiedene Theorien, siehe dazu im Anhang.

Da das Gelübde eines Menschen im Judentum als heilig betrachtet wird, bestand erheblicher Widerstand gegen eine Formel, die Gelübde aufhebt, selbst wenn sie nur gegenüber sich selbst geschlossen wurden, wie z. B. keinen Wein zu trinken. Die Feinde der Juden nahmen das „Kol Nidre“ zum Anlaß, die Glaubwürdigkeit eines Juden vor Gericht zu bezweifeln, obwohl diese Formel Versprechen gegenüber Mitmenschen nicht aufhebt. Viele Verfolgungen nahmen von dieser bösartigen Unterstellung ihren Anfang. Noch im 19. Jhd. wollte die russische Regierung wegen des „Kol Nidre“ den Juden das Recht entziehen, vor Gericht den Eid abzulegen. Nach einer Rabbinerversammlunq in Petersburg wurde beschlossen, dem „Kol Nidre“ eine Erklärung vorangehen zu lassen, die auch heute noch in den Machsorim (den Feiertagsgebetbüchern) abgedruckt ist und welche klar zum Ausdruck bringt, daß Verpflichtungen gegenüber einem Zweiten nicht aufgehoben werden. Übrigens entspricht die äußere Form, in der das „Kol Nidre“-Gebet gesprochen wird auch nicht der Anordnung der Rabbinen über die Auflösung von Gelübden. Kein Vorbeter kann eine ganze Gemeinde ihrer Versprechen gegenüber G’tt oder jedes einzelnen vor sich selbst entbinden. Dazu bedarf es eines dreiköpfigen Gerichtshofes vor dem jeder einzelne seine abgelegten Gelübde beschreibt und seinen Wunsch äußert, diese Gelübde aufgelöst zu bekommen. Der Gerichtshof kann dann diese Gelübde für unwirksam erklären.

Am Vortag des Versöhnungstages und in manchen Gemeinden am Erew Rosch Haschana werden in der Tat Gelübde auf diese Weise von einem Drei-Männer-Kollegium „erlaubt“, wobei ausdrücklich darauf hinzuweisen ist, daß Gelübde, die eine andere Person betreffen nur aufgelöst werden können, wenn diese andere Person von vornherein davon weiß und mit der Auflösung des Gelübdes einverstanden ist.

Die berühmte Melodie des „Kol Nidre“ soll von dem Mainzer Rabbiner „Maharil“ (1335-1427) stammen.

Während des ganzen Jahres wird im „Kriat-Schma“ der Satz „gelobt sei der Name der Herrlichkeit seines Reiches für immer und ewig“ leise gesprochen. Nur am Jom Kippur wird er laut gesagt. Dieser Vers gilt als Gesang der Engel gegenüber G’tt. Am Jom Kippur, wenn das ganze Volk Israel in den weißen Talit gekleidet vor G’tt steht, dann ist es den Engeln gleichgestellt.

Sowohl beim stillen Beten des Hauptgebetes, als auch bei dessen lauten Vortrag durch den Chasan, wird jedesmal das Sündenbekenntnis „al chet“ gesprochen.

Der Morgeng’ttesdienst und der Thoravortrag:

Es würde zu weit führen, all die herrlichen Hymnen und Gebete anzuführen, die im Laufe der Geschichte für Jom Kippur entstanden sind. Nur die herausragendsten Gebete seien kurz besprochen.

Nach dem Schacharit werden zwei Thorarollen ausgehoben. Zu der ersten werden sechs Männer aufgerufen und ihnen aus dem 3. Buch Moses, Kap. 16 vorgelesen, in dem der Dienst im Stiftszelt an diesem Tag beschrieben ist. Aus der zweiten Thorarolle wird das Kapitel 29, Vers 7-11 aus dem 4. Buch Moses vorgetragen, in welchem die an Jom Kippur dargebrachten Opfer beschrieben sind.

Die Haftara stammt aus Jesaja, Kap. 57, Vers 14 bis Kap. 58, Vers 14. Darin heißt es: „Ist das ein Fasten, das ich verlange? Ein Tag, wo sich der Mensch kasteit, zu krümmen dem Schilfe gleich sein Haupt, und daß auf Sack und Asche er sich lagere — das magst du ein Fasten nennen und ein Tag des Wohlgefallens für den Ewigen? Ist nicht das ein Fasten, das ich verlange? Öffnen die Schlingen des Frevels, lösen die Bande des Joches, und frei entlassen Unterdrückte, und daß ihr jegliches Joch abreißet. Dem Hungrigen dein Brot brechen, daß du umherirrende Arme in das Haus bringst… Dann wird anbrechen gleich dem Morgenrot dein Licht und deine Heilung schnell gedeihen, und es ziehet dir voran deine Frömmigkeit, die Herrlichkeit des Ewigen schließt deinen Zug.“ Das Fasten hat erst einen Sinn, wenn ihm eine Verbesserung des sozialen Verhaltens gegenüber dem Nächsten folgt.

Nach dem Thoravortrag folgt das „Jiskor“, das Gebet für die Toten.

Das Mussafgebet findet wie am Neujahrsfest in den meisten Gemeinden einen Höhepunkt in dem Gebet „unetane tokef“ (= wir wollen von der Macht dieses Tages erzählen). Es beschreibt, wie G’tt auf dem Thron des Rechts sitzt, seine Geschöpfe an ihm vorüberziehen und er ihr aller Schicksal an Rosch Haschana niederschreibt und an Jom Kippur besiegelt. Die Hymne schließt mit dem Satz: „Aber Umkehr, Gebet und Wohltätigkeit haben die Macht, das strenge Urteil abzuwenden.“ Die Überlieferung schreibt dieses Gebet Rabbi Amnon von Mainz zu. Er soll allen Versuchen des Erzbischofs von Mainz widerstanden haben, der ihn sogar durch Folter zum Verlassen seines Glaubens bewegen wollte. Es war Jom Kippur, als Rabbi Amnon den Folgen der Folterung erlag. Zuvor ließ er sich noch in die Synagoge tragen und sprach dort das „unetane tokef.“

Im weiteren Verlauf des Mussafgebetes wird das „Alenu“Gebet gesagt, bei dessen Worten „wir beugen die Knie und neigen uns und anerkennen den König aller Könige“ die Gemeinde auf die Knie fällt. Der Chasan trägt dann die Beschreibung des Jom Kippur-G’ttesdienstes im Tempel vor, wie sie in der Mischna Joma festgehalten ist. So wird auch heute der Tempeldienst symbolisch durchgeführt und gerät nicht in Vergessenheit. Auch hierbei fallen die Betenden dreimal auf ihr Gesicht.

Es sei noch auf das Klagelied „ele e,sk’ra“ (= an diese erinnere ich mich) hingewiesen. In ihm ist das Märtyrertum von zehn großen jüdischen Gelehrten beschrieben, die alle unter dem römischen Kaiser Hadrian für ihr Festhalten an der Thora und am Judentum ihr Leben lassen mußten und zu Tode gefoltert wurden. Unter ihnen war Rabbi Akiba, der mit den Worten der Thora auf den Lippen starb: „und du sollst G’tt lieben mit deiner ganzen Seele“, was er so interpretierte, daß er sagte, „du sollst G’tt lieben, sogar wenn man deine Seele von dir verlangt!“

Der Mincha-G’ttesdienst:

Vor der Schemone Esre wird aus der Thora vorgelesen, wie es auch am Schabbat geschieht. Vorgetragen wird das 18. Kapitel aus dem dritten Buch Moses. Nach dem Thoravortrag wird als Haftara das Buch Jona gelesen. In ihm ist beschrieben, wie die wegen ihrer Sünden zum Untergang bestimmte Stadt Ninive gerettet wird, indem sie, nach der Ankündigung des Untergangs durch Jona, die Umkehr vollzieht. An diesem Beispiel zeigt sich die Gnade G’ttes, der auf die Reue des Sünders wartet um ihm zu vergeben. So ist das Buch Jona ein passendes Thema für den Versöhnungstag.

Das Ne’ila-Gebet:

Als der Tempel noch stand, wurden am Ende des Tages die Tempeltore geschlossen (ne’ila = schließen), und dabei ein Gebet gesagt. Nach der Zerstörung des Tempels erhielt sich dieses Gebet nur in der Liturgie des Versöhnungstages und wurde mit der Vorstellung verknüpft, daß bei Sonnenuntergang die Tore des Himmels, die d ganzen Tag über den Gebeten offen standen, geschl sen werden. Ein letztesmal steigert sich das Gebet an: Intensität und dringt zu G’tt empor. „Du reichst die Hand den Sündern und Deine Rechte ist ausgestreckt, die Umkehrenden zu empfangen. Du willst die Umkehr der Bösen und hast keinen Wohlgefallen an ihrem Tod.“

War bisher vom Einschreiben in das Buch des Lebens die Rede, so heißt es nun in allen entsprechenden Versen: „Und siegle uns ein in das Buch des Lebens.”

Das Ne’ila-Gebet schließt mit den von der ganzen Gemeinde laut gesprochenen Versen: „Höre Israel, der Ewige, unser G’tt, der Ewige ist einzig“, „Gelobt sei der

Name der Herrlichkeit seines Reiches für immer und ewig“‘ (dreimal) und abschließend „G’tt, er ist der Herr“ siebenmal).

Danach wird einmal das Schofar geblasen. Der Schofarklang erinnert an das Jobeljahr, in dem die Sklaven freigelassen wurden und die Felder wieder an ihren ursprünglichen Besitzer zurückfielen. Das Jobeljahr begann alle 50 Jahre im Tischri und wurde durch das Blasen des Schofars angekündigt. Für uns heute bedeutet das Ertönen des Schofars am 10. Tischri den Abschluß des Jom Kippur.

Der Abend nach Jom Kippur

Nach dem Ma’ariw geht man nach Hause, wo man die Hawdala macht. Man sagt aber nicht den Segensspruch über die wohlriechenden Gewürze (Besamim), es sei denn, es ist Mozzae Schabbat. Die Beracha über das Licht spricht man nach Möglichkeit über die Kerze, die man am Vorabend zu Hause entzündet hatte (siehe Dinim von Erew Jom Kippur, 1 d). Danach setzt man sich zur Abendmahlzeit nieder. Der Midrasch erzählt, daß nach dem langen Fasttag eine himmlische Stimme verkündet: „Geh, iß in Freuden dein Brot und trinke frohen Herzens deinen Wein, denn G’tt hat bereits dein Tun angenommen“ (Kohelet, Kap. 9, 7).

Ist die Nacht klar und kann man den Mond sehen, so sagt man den Weihesegen über den neuen Mond = Kiddusch halewana.

Es ist Brauch, noch am selben Abend mit der Errichtung der Sukka zu beginnen, um so das neue Jahr mit einer Mizwa anzufangen.

In den Tagen von Jom Kippur bis Sukkot wird kein Tachanum gesagt, da diese Tage als Freudentage gelten. Zur Zeit des König Salomon war an diesen Tagen.

Aus: „Die jüdischen Feiertage – unter Betonung der religiösen Praxis, der Halacha„.