Die jüdischen Monate: TISCHRI

Die Namen der jüdischen Monate stammen aus der Zeit des babylonischen Exils: Tischri, Cheschwan, Kislew etc. Bezeichnungen für die Monate sind schon vor dieser Zeit in unseren Quellen zu finden.

Die Tora nennt den Monat Tischri „haChodesch haSchewi’i“ – den siebten Monat, da ja die Zählung der Monate mit dem Nissan (Pesach, das Fest der Freiheit) beginnt.

Alles „siebte“ ist in der jüdischen Tradition von besonderer symbolischer Bedeutung: „Kol haSchwi‘im Chawiwim Lem‘alah“ – alle siebten sind von oben mit besonderer Liebe bedacht.“

  • Unter den Himmeln ist Arawoth der siebte: „Solu laRochew ba‘Arawoth… – erhebt den Lenker der Höhen“ (Tehillim 68,5). In der Aggada spricht man von sieben Himmeln: Wilon, Rakia, Schechakim, Sewul, Maon, Machon und Arawot. (Chagiga 12b)
  • Bei den Begriffen für Land ist es Tewel: veHu jischpoth Tewel beZedek – und Er richtet die Welt nach Gerechtigkeit… (Tehillim 9, 9). Die sieben Bezeichnungen sind: Arez, Adama, Arka, Gai, Zija, Neschija und Tewel.
  • Bei den Generationen: Adam, Schet, Enosch, Kenan, Mahalalel, Jored, Chanoch. Vajithalekh Chanoch et haElokim – es wandelte Chanoch mit G“tt (Bereschit 5, 24).
  • Bei den Stammvätern: Awraham, Jizchak, Jakow, Lewi, Kehat, Amram, Mosche: UMoscheh ala elhaElokirn – und Mosche stieg zu G“tt hinauf (Schemot 19, 3).
  • Bei den Söhnen Jischais: Eliaw, Awinadaw, Schima, Netanel, Radaj, Osem und David (Diwrej Hajamim 1 2, 15).
  • Bei den Königen: Schaul, Isch-Boschet, David, Schlomoh, Rechawam, Awija und Asa: Vajikra Asa elHaSchem Elokav – da rief Asa zu G“tt, seinem G“tt. . . (Diwrej Hajamim, II 14, 10). Sein Gebet wurde erhört, schneller als das seiner Vorgänger.
  • Bei den Jahren: Vehaschewi‘it tischmetena… – und das siebte lässt du brach liegen und überlässt es sich selbst (Schemot 23, 11).
  • Bei den Tagen: Vajewarekh Elokim et Jom haSchewi‘i – und G“tt segnete den siebten Tag…“ (Bereschit 2, 3).
  • Bei den Monaten: UwaChodesch haschewi‘i beEchad laChodesch… – und im siebten Monat, am ersten des Monats… (Bamidbar 29, 1).

So hat G“tt Seinen Namen mit allen siebten verbunden, hat sie auserwählt und mit Seinem Namen geheiligt. (Jalkut Jitro 276).

Unsere Weisen erklären auch, dass das Wort Schewi‘i die gleichen Stammbuchstaben hat wie Sow’a – Sattheit. Kein anderer Monat im Jahr ist so gesättigt mit Mizvoth wie der siebte, der Tischri: Schofar, Kipur, Sukah und Arawah. Oder – kein anderer Monat ist so ertragreich und vorratsfüllend: Tennen, Kelter und Vorratskammern werden in diesem Monat gefüllt. Es gibt elf Festtage in diesem Monat: Zwei Tage Rosch haSchanah, (einer davon von unseren Weisen angeordnet), Jom Kipur, sieben Tage Sukot und Schemini Azereth. (In der Gola – Diaspora – sind es sogar 12).

In den Schriften der Propheten wird der Monat Tischri Jerach haEthanim – der Monat der Starken – genannt: Und alle Männer versammelten sich zum Fest vor König Schlomoh im Monat Ethanim, dies ist der siebte (Melakhim 18, 2). Unsere Weisen sagen, dass dieser Monat so heisst, weil unsere Stammväter, die Starken, Awraham, Jizhak und Ja’akow, im Tischri geboren wurden.

Das Sternbild Waage

Es gibt zwölf Sternzeichen. Es sind dies Sterngruppen, die uns als Sternbilder erscheinen. Diese Sternbilder sind im Himmelskreis fixiert und jeden Monat erscheint ein anderes Sternbild. Das Sternbild des Monats Tischri ist die Waage, zwei Waagschalen mit einem Waagebalken dazwischen, Symbol für Gerechtigkeit und Justiz. In diesem Monat wird über die ganze Welt Gericht gehalten, die Taten jedes einzelnen Menschen werden in die Waagschale gelegt, und G“tt entscheidet über das Schicksal eines jeden, je nach Verdienst oder Schuld.

König David sagte vor G“tt: „Ein Hauch nur sind die Menschensöhne, ein Trug die Menschenkinder. Die Waagschale steigt, sie sind nur ein Hauch“ (Tehillim 62, 10). Dazu sagt Rabi Chija im Namen von Rabi Levi: Alle Nichtigkeiten, mit denen sich Israel während des Jahres beschäftigt – baMosnajim la’aloth – lassen die Waagschale heraufsteigen – aber G“tt vergibt ihnen unter dem Sternzeichen der Waagschale, im Monat Tischri (Tanchuma).

Der 1. Tischri

Obwohl Tischri der siebte Monat ist, wird er in bezug auf das Kalenderjahr als erster Monat des jüdischen Jahres gerechnet. Der erste Tischri ist der Anfang des neuen Jahres – Rosch haSchanah. Dies gilt auch für Schmitta – das Schabbatjahr und Jowel – das Jubeljahr, sowie für Baumpflanzungen und für die Getreide- und Gemüseernte. (Mischna Rosch haSchanah 1,1).

Schmitta und Jowel: Mit Beginn des Monats Tischri des Schmitta – oder des Joweljahres ist von der Thorah Pflügen und Säen untersagt.

Baumpflanzungen: Nach dem Einsetzen oder Pflanzen eines Fruchtbaumes werden die Früchte in den ersten drei Jahren Orla genannt und sind weder zum Essen noch zur Nutzniessung erlaubt. Im 4. Jahr werden die Früchte Neta Rewai genannt, (wörtlich: die Pflanze des vierten) und werden, in natura oder der Erlös, in Jeruschalajim gegessen. Ist ein Fruchtbaum 45 Tage vor dem ersten Tischri gepflanzt worden, so beginnt das zweite Orla-Jahr am ersten Tischri.

Getreide- und Gemüseernte: Der erste Tischri wird als Neujahr für Terumot – die Heben – und Ma‘asroth – die Zehnten – des Getreides und der Bodenfrüchte betrachtet. Die Tora fordert, dass diese Abgaben für das laufende Jahr erhoben werden, es können also keine Terumot und Ma‘asrot von der vorjährigen Ernte, d.h. bis zum ersten Tischri für die neue Frucht, die nach Rosch haSchanah geerntet wird, abgesondert werden.

ROSCH HASCHANAH

Rosch haSchanah – der erste Tischri wird auch Jom Hakesse – der Tag der Verhüllung – genannt. Tiku Wachodesch Schofar bakesse Lejom Chagenu – am Neumond stosset ins Schofar, am Tag der Mondverhüllung, am Tag unseres Festes (Tehillim 81,4). Es erinnern die Weisen auch an den Vers „Am Tage der Verhüllung des Mondes wird er nach Hause kommen“ (Mischlej 7,20). Die Ähnlichkeit der Worte Kesse – Verhüllung – und Kisse – Thron – deuten auf den Richterthron G“ttes hin, auf dem Er an diesem Tag sitzt, Kesse – Verhüllung – ist auch eine Andeutung auf die Barmherzigkeit G“ttes, dass Er an diesem Tag unsere Schuld verhüllen und unsere Sünden gnädig verbergen möge.

Alles wird an diesem Tag mit Verhüllung in Zusammenhang gebracht. Während alle anderen Festtage im Jahr zur Vollmondszeit fallen, oder davor oder danach, fällt Rosch haSchanah auf den ersten des Monats, wenn der Mond noch verhüllt ist. Symbolisch wird auch das Volk Israel mit dem Mond verglichen, denn es strahlt an seinen Schabbat- und Festtagen in vollem Glanz. An Rosch haSchanah jedoch zieht es sich in Ehrfurcht vor dem grossen Tag des Gerichts zurück. Auch der Allmächtige breitet über Sein Volk eine Hülle, verbirgt damit seine Sünden und gewährt ihm dann Verzeihung und Vergebung. (Siehe Pesikta Rabbati, 40)

Auch in der Tora selbst ist das Wesen, der Charakter des Jom haDin, des Tags des Gerichtes, nicht ausdrücklich erwähnt. Er ist eher verhüllt angedeutet, damit die Teschuwah -die Rückkehr zu G“tt – nicht nur auf diesen einen Tag beschränkt bleibe, sondern, dass der Mensch auch während des Jahres die Möglichkeit zur Teschuwa ergreife. Auch soll dem Satan – dem Behinderer – der genaue Zeitpunkt verhüllt bleiben, damit er nicht als Ankläger erscheine. Aus diesem Grund pflegt man auch kein Birkath haChodesch – die Neumondsverkündung – am Schabbat vor Rosch haSchanah zu machen, wie sonst für alle anderen Monate Brauch ist.

Tag der Anfänge

Der erste Tischri ist, nach Rabbi Elieser, der Tag, an dem G“tt den Menschen geschaffen hat als Krönung der Schöpfung (Rosch haSchanah 10a). Ebenso sagt Rabbi Elieser, dass unsere Stammväter im Tischri geboren wurden, da sie Anfang für eine Welt waren, die bisher sündhaft war. Am Rosch haSchanah wurden Sara, Rachel und Chana bedacht. Sie waren vorher kinderlos, doch von diesem Tag an schenkte ihnen G“tt die Hoffnung auf Kindersegen.

Am Rosch haSchanah wurde Josef aus dem Gefängnis entlassen, in dem er zwölf Jahre lang unschuldig eingesperrt war. Von diesem Tag an begann sein Licht zu leuchten.

Am Rosch haSchanah wurde der Sklaverei unserer Väter in Agypten ein Ende gesetzt, und so wurde der Tag der Anfang der Erlösung.

Schon am ersten Rosch haSchanah der Welt, an dem Tag, an dem der Mensch erschaffen wurde, sind die Begriffe von Gericht und Vergebung gegenwärtig. Unsere Weisen sagen, dass an jenem Tag Adam G“ttes Gebot in bezug auf den Baum des Wissens übertreten hat und dafür gerichtet wurde. Aber auch Verzeihung wurde ihm zuteil. Dies sei ein Zeichen für deine Kinder, sagt G“tt zu ihm; genau wie du an diesem Tag verurteilt wurdest, aber dir auch vergeben wurde, so werden auch deine Kinder an diesem Tag gerichtet werden, aber auch Verzeihung erhalten (Psikta Deraw Kahana, Bachodesch Haschewi‘i).

Lo A‘D‘U Rosch…
Tage, an denen Rosch haSchanah nie beginnt: Der erste Tag Rosch haSchanah kann nur auf Montag, Dienstag, Donnerstag oder Schabbat fallen, niemals jedoch auf Sonntag, Mittwoch oder Freitag. Dies ist eine Ta kkanat Chachamim – eine Anordnung unserer Weisen.

Rosch haSchanah – zwei Tage

Rosch haSchanah wird zwei Tage lang gefeiert, am ersten und am zweiten Tischri, obwohl in der Tora nur von einem Tag die Rede ist: Im siebten Monat, am ersten Tag des Monats soll euch Ruhetag sein, Gedenken des Teru’a-Tones, Tag der heiligen Berufung (Wajikra 23, 24).

Die Bestimmung, Rosch haSchanah zwei Tage lang zu feiern, wurde schon von den Newi‘im Rischonim – den ersten Propheten festgelegt (Jeruschlami, Eruwin, Perek 3 Halacha 9). Der Grund dafür ist die Tatsache, dass der Monat durch Zeugenaussage vom Obersten Gerichtshof ausgerufen und geheiligt wurde. Diese Zeugen mussten das Erscheinen des Molad – des Neumondes sehen und bestätigen, und so musste der Beginn des Monats Tischri sofort beim Eintritt der Nacht, nach dem 29. Elul, dem vorangehenden Monat, festgelegt werden, da die mögliche Ankunft von Zeugen am Morgen des nächsten Tages eine Heiligung des Vortages verursachen könnte. Kamen solche Zeugen, dann war dieser selbe Tag Kodesch – heilig, und der nächste Tag wäre dann Chol, ein gewöhnlicher Wochentag. Wenn aber keine Zeugen kamen, so wäre der darauffolgende Tag automatisch als Kodesch erklärt worden, und der vorherige Tag wäre dann ein gewöhnlicher Wochentag gewesen. Damit nun die Heiligkeit des ersten Tages des Zweifels wegen nicht missachtet werde, ordneten die Propheten an, dass Rosch haSchanah immer zwei Tage lang gefeiert werden müsse. Werkverbot, Schofarblasen und Gebetsordnung, sowie alle anderen Einzelheiten der Festordnung sind für beide Tage bindend. Beide Tage zusammen werden Joma Arichta – langer Tag – genannt, das heisst, dass zweimal vierundzwanzig Stunden als ein geheiligter Tag gerechnet wird. Jedoch bei der Vorbereitung der Mahlzeiten werden sie als zwei Tage betrachtet, es ist also nicht erlaubt, von einem Tag auf den nächsten Tag zu kochen.

Der Rambam – Maimonides – schreibt: Die Mehrzahl der Bewohner des Landes Israel pflegten den Jom Tow – Feiertag von Rosch haSchanah des Zweifels wegen zwei Tage lang zu begehen, denn sie wussten nicht, auf welchen Tag der Gerichtshof den Monatsanfang festgesetzt hatte, da ja die Boten am Feiertag selbst nicht herausgingen. Fernerhin, sogar in Jeruschalajim, Sitz des Gerichtshofes, wurde Rosch haSchanah zwei Tage lang gefeiert. Wenn nämlich die Zeugen während des 30. noch nicht erschienen waren, wurde der Tag in Erwartung der Zeugen als heilig erklärt, und auch der nächste Tag war geheiligt. Da man zwei Tage lang feierte, auch wenn Augenzeugen vorhanden waren, setzte man fest, dass Rosch haSchanah sogar in Erez Jisrael zwei Tage lang gehalten werden müsse, selbst heute, obwohl der Monatsbeginn durch Berechnung festgelegt wird. Daraus lernt man, dass der zweite Tag Rosch haSchanah heutzutage Midiwrej Sofrim – eine Anordnung der Sofrim ist (Hilchot Kiddusch Hachodesch, Kap. 5,7).

Es besteht nun ein Unterschied zwischen jener Zeit, da man die Monate durch Augenzeugen festgelegt hat, und der heutigen Zeit. Als der Monat noch durch Augenzeugen geheiligt wurde, und die Zeugen, die den Neumond gesehen hatten, nicht zur rechten Zeit erschienen waren, war der erste Tag von Rosch haSchanah mideRabanan – als Anordnung der Weisen bestimmt, der zweite Tag jedoch, der erste Tischri, Min haTorah – als Toragesetz festgesetzt. Heute jedoch, da die Monate und Feiertage durch Berechnungen festgelegt werden, und der erste Tag von Rosch haSchanah immer auf den ersten Tischri fällt, gilt der erste Tag min haThorah und der zweite miDiwrej Sofrim.

Der Tag des Gerichts

Rosch haSchanah ist der Tag des Gerichtes für alle Sterblichen dieser Welt. An diesem Tag wird der Mensch gerichtet, und alles was ihm im kommenden Jahr geschieht, wird an diesem Tag bestimmt. Denn so heisst es: „Die Augen G“ttes, Deines G“ttes, sind stets auf es (gemeint ist das Land) gerichtet – vom Anfang des Jahres bis zu seinem Ende“ (Dewarim 11, 12). „Am Beginn des Jahres wird geurteilt, was am Ende sein soll!“ (Rosch haSchanah 8a).

Auch von der Art und Weise, wie G“tt Sein Volk beurteilt, sprechen unsere Weisen. Zur gleichen Zeit werden alle Menschen zusammen gerichtet, doch werden die Taten eines jeden einzelnen genau geprüft. „Alle Bewohner der Welt ziehen an Ihm vorüber wie Schafe – kiWnej Maron“ (Rosch haSchanah 16a). So steht auch in den Psalmen: „Er, der ihr Herz gemeinsam bildet, der alle ihre Taten versteht“ (Tehillim 33,15). G“tt, der Schöpfer, sieht in die Herzen eines jeden zu gleicher Zeit und versteht alle ihre Taten.

Rabbi Kruspedai sagte im Namen von Rabbi Jochanan: „Drei Bücher werden am Rosch haSchanah geöffnet: Das eine für Bösewichte, – Rescha‘im Gemurim – eines für die Gerechten – Zadikim Gemurim, und eines für die Mittelmässigen – Bejnonim. Die Zadikim Gemurim werden sofort ins Buch des Lebens eingeschrieben und besiegelt. Die Rescha‘im Gemurim werden sofort eingeschrieben und zum Tode verurteilt. Die Bejnonim aber erhalten eine Frist bis Jom Kippur, dem 10. Tischri. Wenn sie es verdient haben, d.h. wenn sie sich zur Rückkehr besonnen haben, werden auch sie in das Buch des Lebens eingeschrieben. Wenn aber nicht, sind auch sie zum Tode verurteilt (Rosch haSchanah 16b).

Aus zwei Gründen wird Rosch haSchanah als Tag des Gerichts betrachtet. Erstens, weil an diesem Tag die Schöpfung vollendet wurde, und weil es G“ttes Plan war, die Welt mit „Midath haDin“ – mit Recht und Gerechtigkeit zu regieren. Zweitens, und dies wurde schon vorher erwähnt, weil an diesem Tag der erste Mensch gerichtet wurde, seine Schuld einsah, Teschuwah tat und G“tt ihm verzieh.

Diese beiden Gründe werden auch im Musafgebet von Rosch haSchanah erwähnt: „Denn ein Gesetz des Gedächtnisses bringst Du, da Du jeden Geist und jede Seele aufzählst. So bedenkst Du eine Fülle von Taten und unzählige Geschöpfe bringst Du in Erinnerung, ohne Ende. Von jeher schon hast Du dieses wissen lassen, und von Anfang an hast Du dies enthüllt. Dies ist der Tag des Beginns Deiner Werke, es ist Erinnerung an den ersten Tag.“ Somit ist dieser Tag Erinnerung an die Vollendung der Schöpfung und gleichzeitig Erinnerung an den ersten Tag des Gerichts. Unsere Weisen fügen hinzu: Komme und schau: G“ttes Wege sind nicht die Wege von Fleisch und Blut. Der Mensch aus Fleisch und Blut richtet seinen Freund in einer günstigen Zeit, wenn er ihm wohlgesinnt ist. Den Feind hingegen richtet er, wenn er noch zornig auf ihn ist, um ihn mit Strenge zu verurteilen. Nicht so G“tt: Er richtet die ganze Welt auf einmal, und es sind auch diejenigen mit inbegriffen, die Seinen Willen nicht beachten, also alle zusammen in einer günstigen Zeit, nämlich im Monat Tischri. In diesem Monat gibt es so viele Feste und so viele Mizwot zu erfüllen. Sie bieten somit Gelegenheit, die innige Verbindung zwischen Ihm und Seinen Geschöpfen wiederherzustellen. So kann sich der Mensch im Gebet und durch Rückkehr wieder zu Ihm wenden. G“tt wird Sich auch ihnen wieder in Liebe zuneigen.

Schuld und Verdienste des Menschen auf der Waage der Gerechtigkeit und des Erbarmens

Jeder Mensch hat Verdienste aber auch Schuld. Sind die Verdienste grösser als die Schuld, so spricht man von einem Zaddik – einem Gerechten. Ist die Schuld grösser als die Verdienste, so nennt man ihn Rascha – einen Bösen. Ist beides im Gleichgewicht, so spricht man von einem Bejnoni – einem Mittelmässigen.

Das gleiche gilt auch für Länder. Sind die gemeinsamen Verdienste der Bewohner grösser als ihre Schuld, ist es ein gerechtes Land. Ist die Schuld grösser als die Verdienste, ist es ein schändliches Land. All dies bezieht sich auch auf die ganze Welt.

Ist die Schuld eines Menschen grösser als seine Verdienste, muss er sofort, wegen seiner Sünden sterben, denn es steht geschrieben: „Al Row Awonkha – wegen der Überzahl deiner Schuld…“ (Hoschea 9). Ist die Schuld eines Landes grösser als seine Verdienste, so ist es dem Untergang geweiht, denn es steht geschrieben: „S‘akat Sedom vaAmora ki rabah – das Wehgeschrei von Sedom und Amora ist gross“ (Bereschit 18, 20).

Dies gilt auch für die ganze Welt, denn es steht geschrieben: „Vajar HaSchem ki rabah Ra‘at haAdam – und G“tt sah, dass das Böse der Menschen gross war“ (Bereschit 6, 5).

Das Ausschlaggebende ist hierbei nicht das Zahlenmässige, sondern das Ausmass des Guten und des Bösen. Es gibt Verdienste, die schwerer wiegen als eine grosse Anzahl von Sünden, so wie es heisst: „Ja‘an nimzah bo Dewar tow – an ihm, von dem Haus Jerowams, Gutes wurde gegenüber G“tt“ (Melachim 1, 14, 13). Aber auch umgekehrt kann eine Schuld schwerwiegender sein als viele Verdienste, denn es steht geschrieben: „Wechote Echad jeabejd Towah harbe – und ein Sünder lässt viel Gutes verlorengehen“ (Kohelet 9, 18).

Nur G“tt, dessen Wissen allumfassend ist, kann entscheiden, welche Wertmassstäbe anzulegen sind, wenn es darum geht, Schuld und Vergehen abzuwägen. Darum sollte sich jeder Mensch während des ganzen Jahres so betrachten, als sei er halb schuldig und halb verdienstreich. Auch die Welt sollte er so betrachten.

Wenn er sich dann durch irgend eine Tat schuldig macht, so hat er nicht nur die Waagschale seines eigenen Schicksals belastet, sondern die der ganzen Welt, und könnte so deren Zerstörung verursacht haben, genau wie den Verlust seines eigenen Lebens.

Hat er hingegen eine Mizvah erfüllt, so ist es möglich, dass er das Zünglein der Waage für sich selbst und für die ganze Welt entscheidend bewegt hat, und zu seiner Errettung, so wie auch zur Rettung der ganzen Welt beigetragen hat. So steht geschrieben: „VeZadik Jesod Olam – und der Gerechte ist der Grundpfeiler der Welt“ (Mischlej 10, 25). Wer das Rechte tut, hat für die ganze Welt Verdienst errungen und sie gerettet (Rambam Hilchot Teschuwa Kap. 3, 1-5).

Was bedeutet „Tag des Gerichts“?

Unsere Weisen sagen, dass den Menschen am Rosch haSchanah nicht der Gerichtsspruch erteilt wird, ob sie des Gan Eden würdig werden oder Olam haBa – die zukünftige Welt – verdient haben oder nicht. Das Urteil, das am Rosch haSchanah gefällt wird, bezieht sich nur auf die Dinge dieser Welt, ob der Mensch es verdient, in Frieden zu leben, oder ob er leiden oder gar sterben muss.

Im Traktat Rosch haSchanah sagen unsere Weisen: Dies ist der Tag, an dem Dein (G“ttes) Werk begann, Erinnerung an den ersten Tag. „Ki Chok leJisrael hu – denn es ist Gesetz für Israel, Rechtspruch für den G“tt J’akows.“

Für die Staaten wird ebenfalls beschlossen, welches Land Krieg führen muss und welches in Frieden leben kann; welches Hungersnot erleiden muss und welchem Überfluss beschieden ist. An ihm werden die Geschöpfe bedacht, um sie an Leben und Tod zu erinnern. Und so wird berechnet: Am Rosch haSchanah werden die Handlungen des Menschen gewogen, es wird dann eingeschrieben und besiegelt, ob er in dieser Welt Verdienste hat oder ob er Schuld auf sich geladen hat. Nach seinen Taten in dieser Welt erhält er den Anteil, der ihm gebührt. Erst wenn der Mensch stirbt und in seine ewige Heimat gerufen wird, werden seine Taten gewogen und die Entscheidung gefällt, ob er sich für die „Welt der Seelen“ würdig erwiesen hat (haRaMBaN, zitiert hier Awudraham).

Sogar wenn ein Mensch das ganze Jahr hindurch gesündigt hat, soll er nicht verzweifeln, denn er hat die Möglichkeit zur Teschuwa – zur Rückkehr -, er kann immer den rechten Weg einschlagen, bevor er zum Gericht kommt. Er muss nur im innersten Herzen daran glauben, dass er imstande ist, das Zünglein an der Waage zu seinen Gunsten und zugunsten der Welt zu bewegen. Aus diesem Grund ist es auch Sitte, dass man zwischen Rosch haSchanah und Jom Kippur mehr Wohltätigkeit übt und sich bemüht, Mizvoth und gute Taten zu tun, mehr als an allen anderen Tagen des Jahres.

„Ein Mensch wird nur in bezug auf seine augenblicklichen Taten beurteilt“ (Rosch haSchanah 16b). Auch wenn er während des ganzen Jahres in Sünde versunken war, wird G“tt Zeugnis aussagen, dass Israel Seinen Willen ausführen will. Wenn es am Tag des Gerichts Reue zeigt und zurückkehrt, um G“ttes Willen zu erfüllen, dann wird es beurteilt für das, was es augenblicklich ist.

Ein Feiertag, an dem kein Hallel gesagt wird

Da Rosch haSchanah Tag des Gerichts ist, soll jeder Mensch g“ttesfürchtig sein, da er sich ja vor Seinem Gericht zu verantworten hat. Er sei nicht leichtsinnig und lasse sich von nichts ablenken, damit er sich ehrfurchtsvoll und bangend vor das Gericht stellt.

In diesen Tagen ist das Volk Israel so sehr vor Furcht vor dem g“ttlichen Urteil erfüllt, dass es am Rosch haSchanah kein Halel sagt, obwohl Rosch haSchanah ein Feiertag ist. Israel sagt nur Halel, wenn sein Herz von Freude erfüllt ist, aber an den Tagen des Gerichts ist das Zittern grösser als die Freude. Darum sagt man kein Hallel.

„Die diensthabenden Engel sagten vor G“tt: Herr der Welt, warum sagt Israel kein Hallel am Rosch haSchanah und am Jom Kipur? Da antwortete Er ihnen: Wenn der König zu Gericht sitzt, und die Bücher des Lebens und des Todes vor Ihm geöffnet sind, kann Israel dann ein Loblied singen?“ (Rosch haSchanah 32b)

Freue dich – schäme dich nicht deiner Tränen

Trotz alldem sollte der Mensch nicht traurig sein, wenn er vor Gericht steht, er soll sich die Haare ordnen, sich waschen zu Ehren des Festes und Feiertagskleider anziehen, um damit zu zeigen, dass G“tt uns ein gerechtes Urteil sprechen wird. Darum weinen wir auch nicht am Rosch haSchanah. (Während des Gebetes jedoch ist es erlaubt zu weinen. Es gibt Fromme, die während des Gebetes an den Hohen Feiertagen Tränen vergiessen. Sie weinen wie kleine Kinder, um die Barmherzigkeit des Himmels zu erwecken. Auch wenn wir glauben, weise und einsichtig zu sein, so sind wir doch vor dem Heiligen, gelobt sei Er, wie kleine Kinder, die sich nicht schämen, vor ihrem Vater zu weinen, wenn sie etwas von ihm erbitten wollen).

Esra, der Schriftgelehrte, pflegte immer am ersten Tischri eine Toravorlesung vor der Gemeinde zu veranstalten. Das Volk, beeindruckt von den eindringlichen Worten der Tora, begann zu weinen. Esra und Nechemja sprachen zu ihnen: „Al titablu ve’al tiwku… – seid nicht traurig und weinet nicht! … Gehet und esset das Fette und trinket das Süsse und sendet auch denen davon, die nichts vorbereitet haben, denn dieser Tag ist heilig unserem Herrn. Seid nicht traurig, denn die Freude G“ttes ist eure Stärke“ (Nechemja 8, 9-10).

Die Freude G“ttes ist eure Stärke

„Umi Goj gadol. . . Und welches ist ein grosses Volk? Das gerechte Gesetze und Rechtsordnungen hat, wie diese ganze Lehre, die Ich euch heute vorlege“ (Dewarim 4, 8). „Wer gleicht einer solchen Nation? In der ganzen Welt ist es Sitte, dass man am Tag des Gerichts dunkle Kleider anlegt und sein Haupt in Schwarz hüllt, denn man weiss ja nicht, wie das Urteil ausfällt. Bei Israel ist dies aber nicht so, sie legen weisse Gewänder an, hüllen ihr Haupt in Weiss, essen, trinken und sind fröhlich. Sie wissen, dass der Heilige, gelobt sei Er, ihnen Wunder tut“ (Jeruschalmi, Rosch haSchanah Kap. 1, Halacha 3).