Die Eiferer sind sich nur in einer Sache einig: Gegen jede Vernunft!

Josefus Flavius im Gespräch mit dem Glasbläser Alexas aus Jerusalem

Lion Feuchtwanger, Der jüdische Krieg, Bd.1, pp. 191 ff.

In Cäsarea bei der großen Spätsommermesse sah Josef den Glasbläser Alexas aus Jerusalem, den Sohn des Nachum. Josef glaubte, er werde einen Bogen um ihn machen wie die meisten Juden. Aber siehe, Alexas kam auf ihn zu, er begrüßte ihn. Josefs Kette und der Große Bann hielten ihn nicht ab, mit ihm zu sprechen.

Alexas ging neben Josef her, stattlich und beleibt wie immer, aber seine Augen waren noch trüber und bekümmerter. Er hatte sich nur mit Gefahr aus Jerusalem fortstehlen können; denn die Makkabi-Leute verhinderten mit den Waffen, dass irgendwer die Stadt verlasse und sich in die Gewalt der Römer begebe. Ja, es herrschte jetzt Wahnsinn und krasse Gewalt in Jerusalem. Nachdem die „Rächer Israels“ (haKanaim) die Gemäßigten fast alle beseitigt hatten, zerfleischten sie sich untereinander. Simon Bar Giora bekämpfte den Eleasar, und Eleasar den Johann von Gischala, und Johann wieder den Simon, und zusammen hielten sie nur gegen eines: gegen die Vernunft.

Wenn man es nüchtern ansah, dann stand die Gefahr dieser Reise nach Cäsarea in keinem rechten Verhältnis zum Gewinn. Denn er, Alexas, hatte die feste Absicht, wieder nach Jerusalem zurückzukehren. Er nahm es auf sich, in dieser Stadt weiterzuleben, die im Unsinn und im blinden Haß der Makkabi-Leute erstickte. Das war eine Torheit von ihm. Aber er liebte seinen Vater und seine Brüder, er konnte nicht leben ohne sie, er wollte sie nicht im Stich lassen. Allein in den letzten Tagen hatte er die Tollheit der Stadt nicht mehr ertragen können. Einmal wieder musste er freiere Luft atmen, musste mit seinen eigenen Augen sehen, dass es noch eine vernünftigere Welt gab.

Es war ja eigentlich verboten, hier mit Josef zusammenzustehen und zu schwatzen, und wenn man es in Jerusalem hört, dann werden es die Makkabi-Leute ihn entgelten lassen. Josef trägt ja auch ein gerüttelt Maß Schuld daran, dass die Dinge so gekommen sind. Er hätte in Galiläa viel verhüten können. Aber Josef hat manches wiedergutgemacht. Er wenigstens, Alexas, sieht es als ein großes Verdienst an, als einen Sieg der Vernunft, dass Josef nicht mit den andern in Jotapat starb, sondern gebeugten Hauptes zu den Römern überging. Besser ein lebendiger Hund denn ein toter Löwe, zitierte er.

In Jerusalem freilich denken sie anders, fuhr er bitter fort, und er erzählte Josef, wie Jerusalem den Fall der Festung Jotapat aufgenommen hatte. Zuerst war dort gemeldet worden, Josef sei bei der Einnahme Jotapats mit umgekommen. Die ganze Stadt habe teilgenommen an der wilden und großartigen Trauerfeier für den Helden, der die Festung so unglaubhaft lange gehalten hatte. Ausführlich berichtete Alexas, wie im Haus des alten Matthias feierlich, in Gegenwart der Erzpriester und der Mitglieder des Großen Rats, das Bett umgestürzt wurde, in dem Josef geschlafen hatte. Sein eigener Vater dann, Nachum Ben Nachum, habe im Auftrag der Bürgerschaft mit zerrissenem Gewand und Asche auf dem Kopf dem alten Matthias in dem vorgeschriebenen weidengeflochtenen Korb das Linsengericht der Trauer überbracht. Und ganz Jerusalem war zugegen, als der alte Matthias zum erstenmal das Kaddisch sprach, das Totengebet, jene drei Worte hinzufügend, die nur gesagt werden durften, wenn ein Großer in Israel gestorben war.

„Und dann?“ fragte Josef.

Alexas lächelte sein fatales Lächeln. Dann freilich, erzählte er, als man erfuhr, Josef lebe und habe sich der Gnade der Römer übergeben, sei der Umschwung um so heftiger gewesen. Des Josef Jugendfreund, Doktor Amram, war es, der die Bannung beantragt hatte, und nur ganz wenige von den Herren des Großen Rats hatten gewagt, sich dagegen auszusprechen, unter ihnen allerdings der Großdoktor Jochanan Ben Sakkai. Die Hallen des Tempels, als von den Stufen zum Heiligen Raum Verfluchung und Bann gegen Josef verkündet wurde, waren so voll wie am Passahfest. „Lassen Sie es sich nicht anfechten“, sagte er zu Josef und grinste ihn herzlich an, wobei seine weißen Zähne groß und gesund aus seinem viereckigen schwarzen Bart herauskamen. „Wer sich zur Vernunft bekennt, muß leiden.“

Er trennte sich von Josef. Stattlich, beleibt, das frischfarbige Gesicht bekümmert, schritt er zwischen den Buden hin. Später sah Josef, wie er bei einem Händler pulverisierten Quarz erstand und wie er zärtlich mit der Hand über den feinen Staub strich; er hatte das kostbare Material seiner geliebten Kunst wohl lange entbehren müssen.

Josef dachte oft an diese Unterredung, mit geteilten Empfindungen. Schon in Jerusalem war er der Meinung gewesen, Alexas sei klarer von Urteil als sein Vater Nachum, aber sein, Josefs, Herz war mit dem törichten Nachum gewesen und gegen den klugen Alexas. Nun standen alle gegen ihn, und nur der kluge Alexas war für ihn. Seine Kette, an die er sich gewöhnt zu haben glaubte, drückte, scheuerte. Sicher hatte der Prediger recht, besser ein lebendiger Hund denn ein toter Löwe. Aber manchmal wünschte er, er wäre in Jotapat mit den andern umgekommen.

Marcus Licinius Crassus Mucianus, Generalgouverneur von Syrien, drängt Vespasian zum Angriff auf Jerusalem

Marcus Licinius Crassus Mucianus, Generalgouverneur von Syrien, lief nervös durch die weiten Räume seines Palais in Antiochia. Er war überzeugt gewesen, diesmal werde Vespasian keine Ausrede mehr finden, den Feldzug länger hinzuzögern.

Nachdem der Terror der „Rächer Israels“ die Gemäßigten in Jerusalem ausgemerzt hatte, wüteten die Meuterer unter sich. Bürgerkrieg war in Jerusalem, die Nachrichten waren klar und zuverlässig. Es war sinnlos, diese Chance ungenützt vorbeigehen zu lassen. Jetzt endlich musste Vespasian vor die Stadt rücken, sie nehmen, den Krieg beenden. Mit brennender Spannung hatte Mucian den Bericht über den Kriegsrat erwartet, der jetzt zu Winterende die Richtlinien für die Frühjahrskampagne festlegen sollte. Nun lag er vor ihm, der Bericht. Die weitaus meisten Herren des Kriegsrats, selbst der Sohn des Vespasian, der junge General Titus, waren der Meinung gewesen, man müsse unverzüglich gegen Jerusalem marschieren. Aber der Spediteur, der unverschämte, plumpe Pferdeäpfelbauer, hatte einen neuen Dreh gefunden. Der innere Zwist der Juden, hatte er ausgeführt, werde die Stadt in absehbarer Zeit reif machen, mit sehr viel weniger Opfern genommen zu werden als jetzt. Jetzt vor Jerusalem zu marschieren hieße das Blut guter römischer Legionäre verschwenden, das man sparen könne. Er sei dafür, zuzuwarten, vornächst den bisher nicht besetzten Süden zu okkupieren. Er war schlau, dieser Vespasian. So filzig er war, mit Ausreden war er nicht filzig. Der würde sein Kommando nicht so bald abgeben.

Der schmächtige Mucian, den Stock hinterm Rücken, den hagern Kopf schräg vorgestreckt, lief wütend hin und her. Er war nicht mehr jung, er hatte die Fünfzig hinter sich, ein Leben voll von herrlichen, nie bereuten Lastern, voll von Studien über die nie erschöpfte Fülle der Merkwürdigkeiten der Natur, ein Leben voll von Macht und Absturz, von Reichtum und Niederbruch. Nun, gerade noch im Besitz seiner ganzen Kraft, war er Herr in diesem tief erregenden, uralten Asien geworden, und er kochte vor Wut, daß der abgefeimte junge Kaiser ihn den großartigen Bissen gerade mit diesem widerwärtigen Bauern teilen hieß. Fast ein ganzes Jahr hatte er den verschmitzten Spediteur als Gleichgestellten neben sich dulden müssen. Aber jetzt war es genug. Er durchschaute natürlich die Absichten des Marschalls ebensogut wie die des Kaisers. Der Bursche durfte ihm nicht länger im Weg stehen. Er mußte fort aus seinem Asien, er musste, musste! mit diesem läppischen Judenkrieg endlich Schluß machen.

In Eile und großem Zorn diktierte Mucian ein ganzes Bündel von Briefen, an den Kaiser, an die Minister, an befreundete Senatoren. Es sei unverständlich, warum der Feldherr auch zu Beginn dieses Sommers nach soviel Vorbereitungen und nachdem der Gegner durch innere Zwistigkeiten geschwächt sei, die Stadt Jerusalem noch immer nicht für sturmreif halte. Er wolle nicht bittere Meditationen darüber anstellen, wie sehr diese wenig energische Kriegführung die Pläne des Alexanderzugs gefährdet habe. Aber so viel sei gewiss, dass, wenn die Strategie des Zögerns fortgesetzt werde, das Prestige des Kaisers, des Senats und der Armee im ganzen Osten auf dem Spiel stehe.

Der Zeitpunkt, zu dem diese Briefe in Rom eintrafen, war für die Absichten des Mucian recht ungünstig. Die Westprovinzen hatten nämlich soeben viel wichtigere und unangenehmere Dinge gemeldet. Der Gouverneur von Lyon, ein gewisser Vindex, meuterte, er schien die Sympathien ganz Galliens und Spaniens zu haben. Die Depeschen klangen bedenklich. Wirkliche, volle Anteilnahme fand unter diesen Umständen der Bericht des Mucian nur an einer einzigen Stelle, bei dem Minister Talaß. Der alte Herr hielt es für einen ihm persönlich angetanen Tort des Generals Vespasian, dass der die Zerstörung Jerusalems so lange hinauszögerte. Er antwortete dem Mucian verständnisvoll, von ganzem Herzen zustimmend.

Der Generalgouverneur, diese Antwort in Händen, beschloß, den Spediteur selber zu stellen, fuhr ins Hauptquartier Vespasians nach Cäsarea.

Der Marschall empfing ihn schmunzelnd, sichtlich erfreut. Man lag bei Tische, zu dreien, Vespasian, Titus, Mucian, unter herzlichen Gesprächen. Langsam, beim Nachtisch, glitt man ins Politische. Mucian betonte, wie fern es ihm liege, sich in die Dinge des andern zu mengen; es sei Rom, es seien die römischen Minister, die auf Beendigung des Feldzugs drängten. Er für sein Teil begreife durchaus die Motive des Marschalls, aber anderseits erscheine ihm der Wunsch Roms so wichtig, dass er bereit sei, aus seinen eigenen syrischen Legionen Truppen abzugeben, falls nur Vespasian vor Jerusalem rücke. Der junge General Titus, begierig, seine soldatischen Qualitäten endlich zu zeigen, pflichtete stürmisch bei: „Tu es, Vater, tu es! Meine Offiziere brennen darauf, die ganze Armee brennt darauf, Jerusalem niederzuschlagen.“

Vespasian sah mit Vergnügen, wie in dem gescheiten, von Lüsten, Geldgier und Ehrgeiz verwüsteten Gesicht des Mucian ein großes Gefallen an seinem Sohn Titus aufstieg…

Aus „Der jüdische Krieg“ von Lion Feuchtwanger
In der Josefus Trilogie sind beim Aufbau Verlag drei Romane Lion Feuchtwangers: „Der jüdische Krieg“, „Die Söhne“ und „Der Tag wird kommen“ verlegt worden.

[BESTELLEN]
Hinweis: Bei allen Leseproben handelt es sich um urheberrechtlich geschützte Werkteile, deren Vervielfältigung, Verbreitung, Zugänglichmachung über das Internet oder Bearbeitung ohne Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers unzulässig ist.