In Shalom Rosenbergs Buch „Von der Macht des Bösen“ habe ich ein Kapitel gefunden, welches sich mit dieser Welt und dem Kampf des Guten gegen das Böse beschäftigt. Ein Kampf, der gerade heute wieder in aller Munde ist.
Wenn wir uns die Ereignisse der letzten Monate – oder auch Jahre – Revue passieren lassen, so finden sich etliche gute Gründe pessimistisch in die Zukunft zu blicken. Es ist aber gerade der Pessimismus, verbunden mit einer Geringschätzung dieser Welt, der dazu führt, dass Gleichgültigkeit immer weiter um sich greift und die Geschichte immer mehr von Fanatikern geschrieben wird.
David Gall, haGalil
Simply the best:
Die beste aller möglichen Welten
Das Judentum musste sich im Laufe seiner Geschichte immer wieder gegen die Weltanschauung des Pessimismus behaupten. Für den Pessimismus ist das Dasein ein Übel und, was noch schlimmer ist, der Lebenswille selbst, jener tiefsitzende Instinkt, der in uns allen steckt, ist die eigentliche Quelle dieses Übels.
Rosenberg bietet in seinem Buch Einblick in eine ganze Reihe pessimistischer Welterklärungen. Zu den ältesten gehört der Buddhismus, der im Kreislauf des Daseins ein Übel erblickt, die Flucht aus dem Leben als sein Ziel betrachtet und das Freiwerden von den Gesetzmäßigkeiten der Welt predigt. Es ist dies eine Pessimismus-Version, die von einem Ende des Willens träumt, vom eigenen Tod oder von der Auflösung im Nichts, im Nirwana.
Moderne Ansätze, die stark vom Buddhismus beeinflusst sind und aus der Faszination durch das buddhistische Denken entstanden, sind etwa die Philosophie Schopenhauers oder die seines Schülers und Anhängers Eduard von Hartmann. Der Wille ist für diese beiden Denker, mit Kant gesprochen, das „Ding an sich“, die Realität, so wie sie ist, und sollte ihrem Postulat nach ausgelöscht werden. Von Hartmann entwarf die Vision einer dualistischen Schlacht — ein Gedanke, der interessanterweise ganz ähnlich in den Schriften von Nathan von Gaza auftaucht, dem ‚Propheten‘ des falschen Messias Schabbetai Zwi. Laut von Hartmann herrscht in dieser Welt ein erbitterter Krieg zwischen dem Willen, der böse ist, und der Weisheit, die gut ist. Der Wille ist darauf aus, dass wir sind, während die Weisheit, die gut ist, uns in die Auflösung zurückführen möchte, in die Nicht Existenz, einen Zustand, den man als ‚Nihilierung‘ beschreiben könnte und in dem sich Sein in Nichts verwandelt. Die Weisheit möchte das Böse im Universum dadurch korrigieren, dass sie die Welt vom Sein ins Nichtsein überführt. Das wäre dann der endgültige Triumph des Guten über das Böse, der unser aller Ziel sein sollte.
— Diese Welt kommt von G’tt
„Es werde gut!“
Rosenberg kommt hier einmal mehr auf die Philosophie von Maimonides zurück, die man im Gegensatz zu dem oben geschilderten Entwurf als grundlegend optimistisch bezeichnen könnte. Sein und Existenz sind nach dieser Auffassung per se als gut zu betrachten, ja angesichts der großen Kette des Seins wird der Anspruch erhoben, dass die Welt auf Gottes Geheiß geschaffen wurde: „Es werde gut“ bzw. „es werde alles“. Beide Formulierungen sind letztlich identisch. Dem liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass nicht der Mensch die Krone der Schöpfung oder ihr eigentlicher Zweck ist, vielmehr liegt der Zweck der Schöpfung in allem. Jedes einzelne Ding trägt seinen Sinn in sich selbst, besser gesagt, das Gesamt der Realität ist Zweck und Ziel in sich. Der Mensch ist nur ein Glied in dieser großen Kette.
Die Welt als Akt göttlicher Güte
Dabei ist der hier vertretene Optimismus von Maimonides durchaus nüchterner Natur. Es ist ein eingeschränkter Optimismus, denn er enthält noch eine dritte Vorannahme, das Postulat nämlich, dass dies die beste aller möglichen Welten sei. Im ersten Teil dieser Prämisse steckt die Behauptung, dass das Sein und die Existenz an sich gut sind, auch wenn die Menschen dies oft nicht verstehen. Das impliziert die Überzeugung, dass das bloße Dasein der Welt ein Akt göttlicher Güte uns gegenüber ist. Dieser Gedanke wurde in den Schriften der jüdischen Philosophen des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts noch breiter entfaltet und entwickelte sich zu einem fundamentalen Dogma ihrer Systeme. Einer der letzten großen jüdischen Philosophen Spaniens, Rabbi Chasdai Crescas, sagte zum Beispiel, dass die Welt als Akt der Gnade und Liebe geschaffen wurde. Die biblischen Worte „und es war sehr gut“ sind damit Ausdruck einer Bewertung des gesamten Universums, nicht der Schöpfertätigkeit Gottes, sondern des Aktes der Gnade und Liebe, der seinen Ausdruck in der Welt findet.
Die Welt ist nicht nur gut, sondern auch schön!
Ein anderer Denker, Rabbi Isaac Arama, der Verfasser des berühmten philosophischen Bibelkommentars Akedat Jizchak, malt uns eine Welt vor Augen, die nicht nur gut ist, sondern auch schön, eine Welt, die nicht nur geschaffen wurde, um unser ethisches Empfinden anzusprechen, sondern auch unser ästhetisches Gefühl. „Denn der Heilige, er sei gepriesen, hätte“, so schreibt Rabbi Isaac Arama, „den Menschen auch ohne den Himmel und die Sterne schaffen können, ohne all die Pflanzen und Tiere. Doch das wäre kein so schönes und herrliches Dasein gewesen, wie es nun geschaffen ist, und Er, gepriesen sei er, beschloss, das vollkommenste und herrlichste Dasein daraus zu machen.“
Laut Rabbi Isaac Arama wurden in die Schöpfung ganz bewusst auch scheinbar überflüssige Dinge einbezogen. So haben Farben und Farbschattierungen vielleicht keine unmittelbar produktive Funktion, doch sie tragen einen ästhetischen Zweck in sich selbst. In Aramas Augen ist die Welt ein Orchester. Er schreibt: „Dem Vergleich und Gleichnis nach, das wir gebrauchten, wollte er, dass die Musik der Welt einen vollkommenen Wohlklang in seiner Schöpfung bildete.“ Es ist, als ob die ganze Welt eine Melodie spiele, und jeder Teil der Welt ist ein Instrument in dem großen Orchester, das da spielt. Würde auch nur ein einziges Instrument fehlen, dann würde die ganze Welt, der Wohlklang des Ganzen, leiden.
Das alles sind Aussagen, aus denen ein Grundgefühl des Optimismus im Blick auf die Güte und Schönheit der Welt spricht. Wir müssen uns jedoch nochmals bewusst machen, dass es ein eingeschränkter Optimismus ist, beschränkt schon durch die bloße Tatsache, dass die Welt aus Materie erschaffen wurde. Unter der Einschränkung, die in der Tatsache steckt, dass die Welt aus Materie geschaffen wurde, ist dies also die beste aller möglichen Welten. Natürlich ist es möglich, dass auch andere Welten existiert haben könnten, doch diese Welten waren rein imaginär und fanden keinen Niederschlag in der Materie.
In diesem Sinn erklärten die jüdischen Philosophen des Mittelalters, angefangen mit Maimonides, eine bekannte Legende im Midrasch Bereschit (Genesis) Rabba: „Und es ward Abend und es ward Morgen“. Nach Rabbi Abbahu ist daraus zu schließen, dass Gott Welten erschuf und wieder zerstörte, bis er endlich diese erschuf. Der Satz „und es ward Abend und es ward Morgen“ deutet an, dass es offenbar noch andere Welten vor der jetzigen gab, doch diese Welten wurden von Gott vernichtet, weil sie nicht seinen Vorstellungen entsprachen. „Gott sprach nämlich: ‚diese gefällt mir, jene gefällt mir nicht‘.“
Noch nicht vollkommen, aber schon jetzt
die beste aller möglichen Welten…
Man kann diese Aggada ganz konkret verstehen. Manche modernen Denker sehen in ihr tatsächlich einen Hinweis auf neuere Hypothesen zum geologischen Entstehungsprozess der Erde, soweit er sich naturwissenschaftlich erklären lässt. Das hat jedoch nichts mit dem Verständnis unserer mittelalterlichen Philosophen und ganz besonders der Auffassung von Maimonides zu tun. Maimonides und seine Anhänger lasen diese Legende nicht als Bericht über etwas, das in der äußeren Welt geschieht, der Welt vor unseren Augen, sondern als Zeugnis eines inneren Prozesses, der sich gleichsam in Gottes Denken abspielte. Es standen sozusagen verschiedene Projekte zur Wahl. Die Worte „dass Gott Welten erschuf und wieder zerstörte“ beziehen sich auf die verschiedenen Möglichkeiten, die sich dem göttlichen Architeken eröffneten. Es gab zahlreiche mögliche Welten, doch Gott „zerstörte“ sie alle bis auf eine und blieb bei dieser einen Welt. All die Welten, die zerstört wurden — all die Pläne, die, um im religiösen Sprachgebrauch zu bleiben, wieder verworfen wurden —, sind alternative Entwürfe, doch sie sind schlechtere Alternativen als die existierende Welt. Damit haben wir es mit einer klaren Entscheidung Gottes zu tun. Ebenjener Rabbi Isaac Arama, Verfasser der Akedat Jizchak, bringt es auf den Punkt: „Denn seine Kenntnis aller Seiten bedeutet – Aufbau, seine Entscheidung zu Gunsten der Seite, die ihm als die beste erscheint, bedeutet die Zerstörung der anderen Seite.“
In seiner mittelalterlichen Sprache macht uns Rabbi Isaac Arama plastisch deutlich, dass wir es mit einer unüberschaubaren Zahl von Möglichkeiten zu tun haben, zahlreichen Welten, die zerstört, das heißt verworfen wurden, und nun mit unserer ureigenen Welt dasitzen, einer Welt, die in den Augen dieses eingeschränkten Optimismus zwar nicht vollkommen ist, aber immer noch die beste der möglichen Welten.
— Die Rechtfertigung G’ttes
und die vollkommene Gesellschaft
Wenn wir es dabei bewenden ließen, dann wären wir in derselben Position wie der König, der auf die Bitte des kleinen Prinzen (Le petit prince von Antoine de Saint-Exupéry) antwortet, er könne ihm nicht jetzt gleich einen Sonnenuntergang verschaffen. Er musste zuerst seine astronomischen Tabellen konsultieren, um dann in Übereinstimmung mit ihnen diesem speziellen Stern Anweisung geben zu können unterzugehen.
Bis dahin, so scheint es, haben wir es mit der klassischen aristotelischen Auffassung von der Begrenztheit der göttlichen Macht zu tun. Sie ist wie (in vorherigen Kapiteln des Buches) bereits gesagt nicht die Auffassung von Maimonides, und an dieser Stelle müssen wir unserer bisherigen Darstellung seines Ansatzes ein weiteres Mosaiksteinchen hinzufügen. Dieses Detail führt uns in Neuland.
Wir haben erfahren, wie uns die Auseinandersetzung mit dem Problem von Gut und Böse in Bereiche verschlagen hat, die scheinbar weit vom Wege lagen, etwa in einen Streit um den Daseinszweck der Welt überhaupt, in die Diskussion über ethische Fragen und die Frage nach der göttlichen Vorsehung, die wir an den Anfang dieses Buches gestellt haben, und schließlich stießen wir auf Fragen, die man als Vertrauensfragen an Gott bezeichnen könnte: Wie soll ich leben und was darf ich vom Leben erwarten? Der Aspekt oder Seitenweg, mit dem wir uns nun befassen wollen, wird in der philosophischen Terminologie als Theodizee bezeichnet. Der Begriff steht dem jüdisch-halachischen Terminus Zidduk Ha-Din (die Rechtfertigung von Gottes Ratschluss) nahe, nur steht hier nicht die Rechtfertigung von Gottes Ratschluss zur Debatte, sondern die Rechtfertigung Gottes selbst. Und genau hier liegt der Unterschied zwischen dem philosophischen und dem halachischen Sprachgebrauch.
Der Stellenwert des Bösen und des Guten
Es geht um die Frage, welchen Stellenwert das Böse und das Gute vom kosmischen oder theologischen Standpunkt aus einnehmen und wie beide ihren Ursprung in Gott haben können. Damit berühren wir ein weiteres Problem, das eng mit dem von Gut und Böse verquickt ist: das Problem der Erlösung. Man könnte die beiden Aspekte allerdings auch an einander entgegengesetzten Polen lokalisieren — auf der einen Seite Gut und Böse und auf der anderen, am diametral entgegengesetzten Ende, die Erlösung. Was aber ist eigentlich die Bedeutung von Gut und Böse? Wir befinden uns hier möglicherweise in einer ähnlichen Situation wie Adam und Eva und essen vom Baum der Erkenntnis.
Exegetische Fragen sollen zunächst einmal außen vor bleiben; wir werden uns an späterer Stelle genauer mit der Geschichte vom Garten Eden befassen. Fürs Erste halten wir uns einfach an eine der möglichen Bedeutungen dieser Geschichte. Wir essen Früchte, in denen sich Gut und Böse mischen. Wir empfinden Freude und Schmerz. Der Durchschnittsleser wird wohl kaum ein so radikaler Pessimist sein wie Schopenhauer noch ein solch naiver Optimist, wie ihn Voltaire in „Gandide“ vorführt. Er weiß, dass wir alle unser Päckchen zu tragen haben, und ist sich im Klaren darüber, dass man seine Last nicht mit einem anderen tauschen muss oder tauschen möchte. Unser Leben ist im Allgemeinen von einer Mischung aus Gut und Böse geprägt.
Im Gegensatz zu dieser mehr oder weniger ausgewogenen Mischung gibt es aber auch noch eine andere Vorstellung, die in einer ganzen Reihe von Quellen vorkommt, besonders in Birkat ha-Mason: „ein Tag, der ganz gut ist“. Die Rede ist von einer Welt, die ganz und gar gut ist, von einer Vision, die den Triumph über das Böse und sein endgültiges Verschwinden erschaut. Das ist, auf das Wesentliche reduziert, das Konzept der Erlösung oder des Heils.
Unser Verständnis von Gut und Böse in der Welt ist also letztlich mit zwei Begriffen verknüpft: a) dem Begriff der göttlichen Vorsehung, dessen tiefste Bedeutung ist, dass Gott Macht über das Böse im täglichen Leben hat; b) und noch stärker mit dem Gedanken der Erlösung, des Sieges über das Böse am Ende der Zeit. Wenn wir von der besten aller möglichen Welten sprechen, dürfen wir darüber nicht vergessen, dass selbst die beste aller möglichen Welten keine vollkommene Welt ist. Und wir können den Gedanken und den Traum von der Vollkommenheit fortspinnen, von einer Wirklichkeit, in der, um die Worte des Propheten (Jes 25, 8) in leicht abgewandelter Form zu gebrauchen, er (Gott) das Böse im Sieg verschlingen wird — einer Realität, in der das Böse nicht mehr existiert.
Wenn wir versuchen wollten, einen Katalog der verschiedenen Vorstellungen von Erlösung zu erstellen, müssten wir, wie ich einmal in einem Artikel ausgeführt habe, mit einem Katalog der möglichen Anfechtungen anfangen. Wer sich mit dem Gedanken der Erlösung intensiver auseinandersetzt, wird schnell merken, dass er es hier nicht mit einem einzigen, gut bündelbaren Problem, nicht mit dem Material für ein Seminar zu tun hat, sondern mit einer ganzen Bibliothek, einem Lebenswerk. Der Gedanke der Erlösung ist so komplex und vielgestaltig, dass man sich auf einen bestimmten Blickwinkel beschränken muss. In einem der früheren Kapitel habe ich eine Einteilung in drei Ebenen vorgeschlagen, in denen das Böse wirkt und Macht hat: die kosmische Region, die Region der Geschichte und die Region des persönlichen oder individuellen Lebens. Im Folgenden möchte ich versuchen, den Gedanken der Erlösung im Hinblick auf ebendiese drei Bereiche zu erörtern.
Im Bereich der Geschichte stoßen wir auf nationaler und internationaler Ebene auf das Böse, auf das Leiden des Volkes Israel wie auf die Leiden der ganzen Menschheit. Daneben steht die kosmische Region, in der das Böse in Gestalt von Krankheit und Tod die ganze Welt des Lebendigen im Würgegriff hält. Und schließlich ist da der Bereich des Individuellen, das Leiden jedes einzelnen Menschen. Interessanterweise geht Maimonides nicht von der Möglichkeit einer kosmischen Erlösung aus. Er glaubt oder erwartet nicht, dass es zu Änderungen in der Ordnung der Natur kommen wird, wie Gott sie geschaffen hat. Er denkt nicht an eine Welt, in der die Menschen nicht mehr sterben müssen, aber er träumt mit der Gewissheit des Gläubigen von dem Tag, an dem die Menschheit zur Fülle ihrer geschichtlichen Entwicklung gelangen wird. Das ist das Herzstück von Maimonides‘ Vorstellung vom Ende der Zeit.
Natürlich gibt es auch den persönlichen eschatologischen Gedanken vom Weiterleben der Seele des einzelnen Menschen und vom künftigen Leben. Neben diese individuelle Vision setzte Maimonides jedoch wiederum eine historische:
Die Menschheitsgeschichte als Ganze muss sich erfüllen. In gewissem Sinne sah Maimonides in der Erlösung das Ende des Schöpfungsprozesses. In dem Augenblick, in dem die ideale Gesellschaft entstanden ist, wird der Schöpfungsprozess abgeschlossen sein. Wir sind lediglich ein Produkt der Anfangsstadien seines gestalterischen Wirkens. In der menschlichen Gesellschaft unserer Zeit haben wir es immer noch, wie wir bereits feststellten, mit der Herrschaft des Irrationalen, des Verbrechens, der Korruption und der menschlichen Dummheit zu tun. Doch der Tag wird kommen, an dem wir die letzte Stufe unserer Entwicklung erreichen und eine gerechte und vollkommene Gesellschaft bilden, in der kein Mangel mehr herrschen wird, und zwar nicht nur im einfachen Sinn dieses Wortes, sondern in seiner sublimsten Wortbedeutung. Es wird kein Mangel an Brot sein, aber auch kein Mangel an Wissen. Dann wir der Mensch zur Entfaltung all seiner Möglichkeiten gelangt sein. Er wird im Stande sein, sich selbst vollständig zu verwirklichen, und das Ideal des Menschseins erreicht haben. Das ist Maimonides‘ Vorstellung von der Erlösung in der Geschichte.
— Der uneingeschränkte Optimismus:
Es gibt Vollkommenheit und es gibt die Fähigkeit zur Vervollkommnung
Von diesem Ansatz der klassischen jüdischen Philosophie aus möchte ich noch einmal ein paar Jahrhunderte über springen und meine Leserinnen und Leser einmal mehr mit nehmen zu Raw Abraham Isaac Kook. Wie ging Raw Kook, der von der Kabbala und vom Chassidismus geprägt war, dabei aber anderen zeitgenössischen Ansätzen jeder Spielart durchaus offen gegenüberstand, mit dieser klassischen Position um?
Wir haben gesehen (in früheren Kapiteln des Buches), dass Maimonides das Böse und Satan als Null ansetzt, eine Privation, ein Problem, mit dem uns unsere materiegebundene Existenz konfrontiert. Das ist der optimistische Standpunkt, dem wir die pessimistische Auffassung gegenübergestellt haben.
Raw Kooks Aussage zu diesem Punkt mag im ersten Moment befremdlich erscheinen, enthält jedoch eine tiefe Wahrheit. In Orot Ha-Kodesch, Teil zwei, schreibt er: „Wir werden in der Existenz des Bösen im Universum, sei es nun ein überindividuelles oder ein individuelles Böses, sei es ethischer oder praktischer Natur, ganz gleich in welchem Gewand es uns auch begegnen mag, wenn wir es im Ganzen und im Detail betrachten, immer eine Ordnung finden, ein organisches Ganzes, einen Aufbau, sodass es nicht als zufällig bezeichnet werden kann.“
Auch wenn es vielleicht ein wenig Mühe kostet, so lohnt es sich doch, Raw Kooks Worten wirklich nachzudenken.
Wenn wir das Böse anschauen, sei es nun das Böse im Allgemeinen oder das Böse im Einzelschicksal, das moralische Böse — das Böse, das der Mensch tut, oder das praktische Böse — das Böse, das der Mensch erleidet —, in jedem Fall tritt uns eine Ordnung, ein organisches Gefüge und etwas Strukturiertes entgegen. Es geht Raw Kook darum, deutlich zu machen, dass „die andere Seite“ oder das Böse kein bloßer Zufall ist. Es tritt uns als etwas Wirkliches vor Augen, das praktisch gleich aufgebaut ist wie das Gute. Wir haben festgestellt, dass die optimistische philosophische Sichtweise in der Welt einen Aufbau wahrnahm, der gut ist. Neben diesem geordneten Bereich wuchert der Zufall, und in solch zufälliger Weise erscheint auch das Böse in der Welt. Ganz anders hier. Nach Raw Kook müssen wir erkennen lernen, dass wir mit dem Bösen in seiner vollen Strukturiertheit und Effektivität konfrontiert sind.
Steht es so, so steht es offenbar schlimm. Doch an dieser Stelle spüren wir gleich auch etwas von der paradoxen Seite Raw Kooks. Er macht im Folgenden klar, dass das Böse im Sinne von Maimonides ein Übel ist, das wir letztlich nie ganz werden abstreifen können. Es ist eine Privation, die nicht einmal am Ende der Tage völlig verschwinden wird. Raw Kook dagegen träumte, wie viele Philosophen und Kabbalisten, die sich mit Maimonides‘ eingeschränktem Optimismus nicht zufrieden geben wollten, von einer Welt, in der wirklich alles gut sein wird, einer Welt, in der wir sogar das kosmische Böse überwinden werden, das gleichsam in unsere Welt integriert ist. Sie träumten von einer Welt, in der der Satz „der Wolf wird neben dem Lamm liegen“ keine bloße Allegorie im Blick auf die politischen Beziehungen zwischen verfeindeten Staaten ist, sondern in der die Natur wirklich verwandelt wird.
Die Aufgabe zur Vervollkommnung der Welt:
Tikun Olam
Nach Ansicht von Raw Kook machen wir aus dem Bösen, solange wir es uns nur als eine Privation, als einen Zufall denken, etwas, mit dem wir immer werden leben müssen. Für ihn selbst ist das Böse dagegen eine Realität, allerdings eine Realität, die verschwinden kann und ausgelöscht wird, wenn die Welt ihrer Vervollkommnung entgegengeht. Raw Kooks Hauptthese spiegelt das kabbalistische und das chassidische Denken, mit dem wir uns später noch intensiver auseinander setzen werden. Sie läuft darauf hinaus, dass es zwei Dinge in der Welt gibt: Es gibt Vollkommenheit — das ist Gott —, und es gibt die Fähigkeit zur Vervollkommnung, etwas, das darauf abzielt, vollkommen zu werden, und vollkommen werden möchte. Lassen Sie uns an dieser Stelle noch einmal zu unserer Legende von Rabbi Abbahu zurückkehren. Für Maimonides besagte die Legende, dass Gott sich für die beste aller möglichen Welten entschieden hat. Der Denkansatz, dem wir uns hier anzunähern versuchten, sieht das anders. Gott hat nicht die beste aller möglichen Welten gewählt. Er hat vielmehr ganz bewusst eine Welt gewählt, die nicht vollkommen gut ist, die noch nicht zur Vollkommenheit gelangt ist, damit die Menschen die Möglichkeit haben, sie in eine vollkommenere Welt zu verwandeln. Der Kosmos enthält ein gewisses Maß an Unvollkommenheit, ohne das die Wirklichkeit nicht vollkommen ist. Es ist eine Welt, die erst „vollkommen wird“. Die Möglichkeit, vollkommen zu werden, ist ihr inhärent, und unsere Aufgabe ist es, dazu beizutragen, denn wir allein sind im Stande, sie besser zu machen.
Die Verbesserung dieser Welt wird so zur Aufgabe des Menschen, einer Aufgabe, vor die wir noch immer gestellt sind. Diese Welt ist zugegebenermaßen nicht die beste aller möglichen Welten, aber sie ist eine gute Welt, weil es eine letzte Stufe gibt, einen Zielpunkt, auf den wir zustreben und dem wir immer näher kommen können, und an diesem Punkt wird der Tod für immer ausgelöscht sein.
(Aus dem V. Kapitel des Buches „Von der Macht des Bösen„, von Shalom Rosenberg – Zwischenüberschriften und Hervorhebungen haGalil onLine)
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Midrasch Bereschit Rabba. Ins Deutsche übertr. v. Lic. Dr. Aug. Wünsche. S. 53.