Der Weg

Rabbiner Jonathan Magonet, Seder haTfiloth

Wir haben die Sicherheit von Sklaven verloren, aber die endgültige Freiheit noch nicht erlangt.

Es ist wichtig, die Rahmenbedingungen vor Augen zu haben: Wir sind auf einer Reise aus einem Land der Versklavung in ein Land der Verheißung. Was immer wir auch unter der Versklavung verstehen, in jedem Fall ist sie ein Ort oder ein Zeitraum, in dem unser Leben von anderen fremdbestimmt wird, vielleicht auch von unbekannten Mächten oder Kräften.

Unsere Versklavung ist so, dass wir sie nicht als solche erkennen. Wir leiden unter ihr und fürchten uns vor ihr, aber wir haben noch größere Angst vor Veränderungen. Widerwillig, unmutig und ängstlich lassen wir uns in die Wüste ziehen.

Da gibt es ein Land der Verheißung – ein Traum, eine Vision, eine Phantasie. In manchen Zeiten ist es unsere Kraftquelle, in anderen haben wir den Eindruck, es sei ein schlechter Scherz. Die Wüste ist unsere Wirklichkeit. Es ist wichtig, die Rahmenbedingungen vor Augen zu haben.

Wir sind nicht allein in der Wüste. Wir können einander dort helfen oder uns gegenseitig behindern. Wir sind vernünftige und lernfähige Menschen. Wir schlagen unser Lager auf. Wir lassen unsere Familien, unsere Stämme, unsere Völker Aufstellung nehmen. Wir legen eine Marschroute fest.
Wir bestimmen und benennen die Stationen – da gibt es einen Ort, der ,,Bitterkeit“ genannt ist, da gibt es die ,,Wasser der Zwietracht“ und da ist der ,,Berg G’ttes“.

Im Zentrum des Lagers ruht unser Geheimnis. Es ist jene Kraft, die uns aus der Sklaverei gezogen hat, die uns unerbittlich vorantreibt. Weil sie uns befreit hat, bereitet sie uns Angst: Wir haben Angst vor ihrer Dringlichkeit und vor dem Preis, den sie fordert. Wir haben die Sicherheit von Sklaven verloren, aber die endgültige Freiheit noch nicht erlangt.

Wir hüten unser Geheimnis mit Sorgfalt. Es ist die Quelle unserer Kraft. Wenn wir es in unserer Kontrolle haben, kann es uns in unser Land führen. Wenn es uns misslingt, es unter Kontrolle zu halten, kann es uns vernichten. Wir feiern und wir besänftigen. Wir freuen uns und warten beobachtend ab.

Wir bauen ein Heiligtum. Sorgfältig, genau und mit Geschick tragen wir unseren Teil zu dieser Arbeit bei. Unser Verstand, unsere schöpferischen Kräfte, unsere finanziellen Mittel, unsere Hände – jedes Handwerk, das wir beherrschen, leistet seinen Beitrag zu dieser Arbeit. Denn die Reise ist wahrhaftig weit, und das Land der Verheißung liegt fern. Wir verschenken unser Herz, um einen Ort für G’tt, den Strom der Liebe, zu gründen. Welch ein überfließender Eifer ist da am Werk, wie viele Gaben kommen da zusammen – mehr, als für die Arbeit nötig gewesen wäre!

Und der Bau wächst, Stück für Stück, jedes Teil wird fein und freudig geschmiedet. Und wir sind nicht so töricht, die Teile für mehr zu halten, als sie sind. Wir feiern unser schöpferisches Können, aber wir verehren G’tt, unseren Schöpfer. Und wir benennen die Teile und tragen Stück für Stück unsere hervorragenden Arbeiten zusammen. Wir bauen unsere Stiftshütte für G’tt mit Genauigkeit, denn sie ist so greifbar, so begrenzt. Sie ist die Struktur, die Form, die Klarheit. Sie ist Ritual, Gewohnheit, Verantwortung. Sie ist Neigung, Erziehung und Selbstaufopferung. Sie ist Symbol, Beispiel und Ausdrucksform. Sie ist das, was uns formt und prägt und unsere Identität in der Wüste ausmacht. Sie erinnert uns an das, was wir waren, und daran, wohin wir gehen. Doch ist sie manchmal auch Gefängnis, Unterdrückung oder Tod.

,,Wann immer die Wolke sich von der Stiftshütte erhob, brachen die Kinder Israels auf, solange ihre Reise andauerte“. (Ex 40,36)

Jedesmal bauen wir unsere Stiftshütte wieder auseinander, ordnen die Teile, reparieren und erneuern und setzen unsere Reise fort. Wir bewahren und wir verändern. Wenn die Wolke sich bewegt, müssen wir folgen, oder wir werden in der Wüste sterben.

Denn wir sind ein Haufen ehemaliger Sklaven, aneinander gebunden, gegen unseren Willen unterwegs auf dem Weg in ein Land der Verheißung. Wir murren und streiten, und dennoch haben wir gemeinsam ein Heiligtum gebaut. Und gemeinsam halten wir Ausschau, ängstlich, staunend, ungeduldig, und warten darauf, dass die Wolke sich bewegt.