Von Rabbiner S.Ph. De Vries
Die Herrlichkeit des Sabbats überwiegt stets die Trübsal von Schmerz und Reue. Zwar steht der Sabbat während der drei Wochen im Zeichen der allgemeinen nationalen Trauer. Aber nicht völlig. Gewisse kleine und größere Verzichte, die dieser Zeit des Jahres ihre trübsinnige Stimmung verleihen, gelten nur für die Wochentage, nicht für den Sabbat. Aber selbst die Sabbatfeier ist etwas bedrückt.
Im Gottesdienst sind mehrere Melodien auf die Trauerzeit abgestimmt. Schon die bekannte Hymne, mit der der Sabbat begrüßt wird: »Komm, mein Freund, der Braut entgegen, den Sabbat laßt uns empfangen!«, singt der Kantor in Moll. In die Liturgie werden einige Pijutim, Gedichte, eingeschoben, die das traurige Schicksal Israels beklagen und beweinen und die auch als Trauergesänge vorgetragen werden.
Aus der Thorarolle wird der fällige Wochenabschnitt vorgelesen. Aber die Abschnitte aus den Propheten, die Haftarot, beziehen sich in den drei Wochen auf die Trauerzeit und nicht wie sonst auf den Inhalt der Lesung. An den ersten beiden Sabbattagen wird aus dem Propheten Jeremia gelesen. Am ersten Sabbat Kapitel 1 und die ersten drei Verse von Kapitel 2. Am zweiten Sabbat wird dieses Kapitel dann bis Vers 28 gelesen. Man schließt mit dem etwas weniger schwermütigen Vers 4 aus dem nächsten Kapitel: »Lieber Vater, du Vertrauter meiner Jugend!«
Der dritte Sabbat ist der letzte vor dem 9. Aw. An ihm wird das erste Kapitel aus Jesaja bis Vers 28 gelesen. Dieser Sabbat heißt nach dem ersten hebräischen Wort des prophetischen Abschnitts Schabbat Chason; im Volksmund wird er jedoch als der schwarze Sabbat bezeichnet. Diese Haftara wird zur gleichen Melodie wie die Klagelieder gesungen. In den Gottesdienst wurden auch mehrere liturgische Passagen mit einem traurigen Inhalt und einem dumpfen Klang eingeschoben. Der schwarze Sabbat kann sich nicht von den Wolken befreien, die in diesen Tagen das Leben des jüdischen Volkes überschatten.
An den ersten beiden Sabbattagen gelten die Bräuche der drei Wochen nicht. Für den dritten Sabbat gibt es jedoch eine Reihe von Enthaltungen. Man spürt förmlich, wie sich der neunte Aw finster im Hintergrund abzeichnet und die Stimmung bedrückt. Trotzdem ist sein Einfluss nicht so groß, dass er auch die Sabbatmahlzeiten beherrscht. Wein gibt es für die Einweihung. Auch der Genuss von Fleisch und Fleischgerichten ist an diesem Sabbat erlaubt.
Aber die Stimmung wird schon vom herannahenden Fastentag beeinflusst. Man ist auf ihn vorbereitet. Er ist völlig glanzlos und finster. Alle Enthaltungen des großen Versöhnungstags gelten auch für den 9. Aw. Allerdings, wie schon weiter oben erwähnt, mit einer ganz anderen Absicht. An diesem Tag soll vor allem der nationale Schmerz und die Volkstrauer in aller Schärfe und Klarheit zum Ausdruck kommen und tief ins Bewusstsein eindringen. Dieser Fastentag soll uns dazu zwingen, uns auf unser Verhalten als Juden angesichts der Vergangenheit und unsere Pflichten für die Zukunft zu besinnen.
Unsere Gedanken müssen von Trauer erfüllt sein. Nichts darf sie davon ablenken. Auch nicht Beschäftigungen intellektueller Art. Deshalb wird an diesem Tag sogar das Thorastudium unterlassen. Was das bedeutet, wird nur jener verstehen, der weiß, wie hoch der Unterricht der Lehre in Israel geschätzt wird. Gemäß Peah 1,1 (Mischna und Jerusalemer Talmud) »wiegt sie alles auf«. Aber an diesem Tag wird sie vernachlässigt. Zwar darf die Bibel gelesen werden. Auch die Schriften des Talmuds und auch spätere und sogar moderne Werke. Aber eben nur gelesen, nicht studiert. Und dann auch nur das, was zu diesem Tag paßt: das Buch Hiob, die Klagelieder, Auszüge aus Jeremia, passende halachische Abhandlungen und aggadische Exkurse des Talmuds. Und ähnliche Literatur. Aber nur lesen, nicht studieren. Sie soll das Gemüt rühren, darf aber keinen intellektuellen oder geistigen Genuss verschaffen und dadurch eine unerwünschte Ablenkung werden.
Dieser Fastentag dauert von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang. Er beginnt schon früh am Tag vorher, noch vor Einbruch der Dämmerung. Natürlich bereitet man sich auf ihn so vor, daß man das lange Fasten ertragen kann. Aber auch gut vorbereitet kann der Tag, vor allem in einem heißen Sommer, immer noch lang werden und vom Magen seinen Beitrag fordern. Vor allem auch deshalb, weil sich der Geist nicht frei erheben darf.
Das Fasten ist nicht als Hungersport beabsichtigt. Deshalb versucht man, sich etwas dagegen zu wappnen. Deshalb isst und trinkt man noch etwas, kurz bevor er beginnt. Aber nur als gekochte Speise, als ein Gericht. Diese Mahlzeit ist die sogenannte Se’uda Mafseket, das Abschiedsmahl. Im allgemeinen isst man ein Ei. Das ist einfach und bequem. Auch gilt das Ei als Trauerspeise. Es ist jedoch nicht völlig geklärt, ob es ein Trauersymbol wurde, weil man es bei traurigen Anlässen aß, oder umgekehrt, ob es als Trauerspeise galt und deshalb vor dem Fasten gegessen wurde. Im zweiten Fall müsste auch geklärt werden, warum gerade das Ei zum Sinnbild der Trauer geworden ist. Was bisher darüber gesagt wurde, ist nicht einleuchtend genug.
Schon für diese Abschiedsmahlzeit vor dem Fasten zieht man die Lederschuhe aus. Genau wie am Versöhnungstag trägt man auch am 9. Aw keine Schuhe aus Leder, was bereits weiter oben erklärt wurde. Es ist so, als setze man sich in »Sack und Asche«, als »wälze man sich im Staube« (Micha 1, 10). Allerdings nicht wortwörtlich. Man setzt sich auf den Fußboden oder einen niedrigen Hocker. Auch sitzen die Familienmitglieder nicht zusammen, sondern jeder für sich, zerstreut im ganzen Raum. Sogar das Tischgebet nach der Mahlzeit wird nicht gemeinsam gesagt. Das ist ein sehr bedeutsames und starkes Symbol der Trauer, weil ja das gemeinschaftliche Zeremoniell im jüdischen Leben im allgemeinen stark betont wird.
Ohne Segenswünsche, außer einem »guten Fasten«, und sogar ohne jeden Gruß geht man in die Synagoge. Heute ist sie nicht hell erleuchtet. Nur das notwendige Licht brennt. Keiner legt den Tallith um die Schultern. Weder die Gemeindemitglieder noch der Kantor. Vor dem Thoraschrank hängt kein Vorhang, und auf Podest und Pult fehlen die sonst üblichen Decken. Mit gedämpfter Stimme betet der Kantor das gewöhnliche Abendgebet. Nach dem Gebet setzt er sich auf den Treppenabsatz vor dem Thoraschrank und trägt die fünf Kapitel der Klagelieder vor. Er singt die Melodie, die durch die gewöhnlichen Tonzeichen gekennzeichnet ist, traurig und wehklagend. Nach der gleichen Melodie wurde auch am vergangenen, dem schwarzen Sabbat eine Haftara vorgetragen. Auf die biblischen Klagelieder folgen weitere Trauergesänge, die Kinoth, die verschiedene Dichter im Mittelalter verfasst haben. Die Gemeinde hört diesen Vorträgen stumm zu; viele setzen sich auf den Fußboden oder niedrige Fußbänke. Der Gottesdienst endet mit einigen tröstlichen Versen aus den Propheten (Sach. 1, 16-17). Dann steht man auf und verlässt grußlos das Gotteshaus.
Gelegentlich fällt der 9. Aw auf einen Sonntag, so daß der Tag vorher, der Tag der Vorbereitung, ein Sabbat ist. Er unterscheidet sich kaum von einem Schabbat Chason, dem letzten Sabbat vor dem Fastentag. Es gibt keine Abschiedsmahlzeit, man sitzt nicht auf dem Fußboden, und auch das Ei wird ausgelassen. Die Lederschuhe werden ausgezogen, wenn es Nacht geworden ist und das Abendgebet beginnt. Nur der Vorbeter zieht sie schon früher aus. An diesem Sabbatnachmittag gibt es kein Studium der Lehre, der Thora mehr.
Fällt der 9. Aw auf einen Sabbat, was sogar verhältnismäßig oft vorkommt, wird der Fastentag auf den Sonntag, den 10. Aw verschoben. Die Sabbatfeier wird dadurch nicht beeinträchtigt. Es ist Schabbat Chason mit der ihm entsprechenden Atmosphäre.
Die Morgenandacht gleicht dem Abendgottesdienst. Man trägt keinen Tallith, und auch die Tefillin, die Gebetsriemen, werden nicht angelegt. Denn auch dieses Symbol ist ja eine Zierde. Der Kantor trägt die Gebete wiederum im gedämpften Trauerton vor. Das gilt auch für die Vorlesung aus der Thora, für die ein besonderer Abschnitt vorgesehen ist (5. Mose 4,25-40). Auch die drei Personen, die aufgerufen werden, sagen sie im gleichen Tonfall. Sie verlassen das Podest, ohne einen Segensspruch entgegenzunehmen, noch ohne eine solche Bitte für einen Dritten sagen zu lassen. Der Abschnitt aus den Propheten, die Haftara, unterscheidet sich auch von dem, der zu den übrigen allgemeinen Fastentagen gelesen wird. Er stammt aus Jeremia (8, 13-19,23).
Sobald die Thorarolle zurück in den Schrank gegeben wurde, setzen sich Kantor und viele Gemeindemitglieder wieder auf den Fußboden. Jetzt werden mehrere Klagelieder angestimmt, bei denen neben dem Kantor und den Lehrern auch andere Besucher ohne ein Ehrenamt abwechselnd die Führung übernehmen. Nicht alle Kinoth kennzeichnet eine besonders schöne Lyrik. Aber die größten Dichter aus der spanischen Blütezeit kommen heute zu Wort: Juda Halevi und Ibn Gabirol (Avicebron). Unter den bekannten Elegien ist Halevis Lied von Zion eine der schönsten. Die Klagelieder enden mit den gleichen tröstlichen Worten wie am Abend vorher.
Damit ist der Vormittag fast schon vorbei. Nach dem Gottesdienst nimmt man seine laufende Tätigkeit wieder auf. Und nachmittags versammelt man sich wieder im Bethaus. Dann scheint es, als sei der dunkle Schatten verflogen. Der Vorhang hängt wieder vor dem Thoraschrank. Podest und Pult schmücken wieder Decken. Kantor und Gemeindemitglieder legen den Tallith und die Gebetsriemen, die Tefillin, wieder an, und die Gebete werden wieder im üblichen Tonfall vorgetragen. In das Hauptgebet wird eine Bitte um Trost für Zion und um den Wiederaufbau Jerusalems eingefügt. Zur Thoralesung – es sind die gleichen Auszüge und Haftarot wie an den anderen allgemeinen Fastentagen – werden die zum Morgendienst Aufgerufenen nochmals zum Podest gebeten. Jetzt begleiten sie jedoch Segenswünsche, und sie können sie auch für andere Personen erbitten.
Der Nebel verzieht sich. Es wird Nacht, der Fastentag ist beendet. Das Leben geht weiter und erhält wieder Farbe.
Jetzt folgen die sieben Wochen des Trostes. An den kommenden sieben Sabbattagen stammen alle Haftarot aus dem Propheten des Trostes, Jesaja, beginnend mit Kapitel 40. Der erste Sabbat nach dem 9. Aw ist der Schabbat Nachamu, der Sabbat des Trostes, nach den ersten Worten seiner Haftara: »Tröstet, tröstet mein Volk!« (Jes. 40, 1). Am Ende dieser sieben Wochen begrüßt uns das jüdische Neujahr.
Quelle: Jüdische Riten und Symbole, von S. Ph. De Vries, Marixverlag, Neuauflage 2005, Neu übersetzt und bearbeitet von Miriam Magall
Dieses Buch gilt sowohl für Juden als auch für Nichtjuden noch immer als das Standardwerk über die jüdische Religion, über die Bräuche und Vorschriften innerhalb des jüdischen Alltags.
Aus den Wurzeln der Tradition erklärt Rabbi S. Philip de Vries, der 1944 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet wurde, Riten, Symbole, Feiertags- und Alltagsbräuche, Übungen und Gebete, um das Judentum, seine historischen und moralischen Hintergründe sowie seine Glaubensformen Juden und Nichtjuden verständlich zu machen.