Jochanan Ben Sakkai im Gespräch mit Josefus Flavius: Über den messianischen Komplex

Von Lion Feuchtwanger
Der jüdische Krieg, Bd. I, pp. 222

Es gab Sünden, für die der Großdoktor bei aller Milde Nachsicht nicht kannte, und dem Josef schlug das Herz, als er zu ihm entboten wurde. Aber Jochanan Ben-Sakaj hielt nicht die sieben Schritte Abstand*. Josef beugte sich herab, die Hand an der Stirn, und der Alte segnete seinen Lieblingsschüler.

Josef sagte: „Ich habe das Wort des Propheten zweideutig gebraucht, ich bin schuldig der schlechten Zunge. Daraus ist viel Unheil entstanden.“ Der Alte sagte: „Jerusalem und der Tempel waren fallreif vor Ihrer Tat. Die Tore des Tempels springen auf, wenn einer nur hinbläst. Sie sind überheblich selbst in Ihrer Schuld. Ich will mit Ihnen reden, Doktor Josef, mein Schüler“, fuhr er fort. „In Jerusalem glaubt man, Sie hätten ein schaukelndes Herz, und man hat Sie in den Bann getan. Ich aber glaube an Sie und will zu Ihnen reden“ Diese Worte erquickten den Josef wie Tau das Feld in der rechten Jahreszeit, und er machte sein Herz weit auf.

„Das Reich ist verloren“, wiederholte Jochanan. „Aber es ist nicht das Reich, was uns zusammenhält. Reiche haben auch andere gegründet, sie sind zerfallen, es werden neue Reiche kommen, auch sie werden zerfallen. Das Reich ist nicht das Wichtigste.“
„Was ist das Wichtigste, mein Vater?“

„Nicht Volk und Staat schaffen die Gemeinschaft. Unserer Gemeinschaft Sinn ist nicht das Reich, unserer Gemeinschaft Sinn ist das Gesetz. Solange Lehre und Gesetz dauert, haben wir Zusammenhalt, festeren als durch den Staat. Das Gesetz dauert, solange eine Stimme da ist, es zu verkünden. Solange die Stimme Jakobs ertönt, bleiben die Arme Esaus kraftlos.“

Josef fragte zaghaft: „Habe ich die Stimme, mein Vater?“
— „Die andern glauben“, erwiderte Jochanan, „daß Sie Ihr Judentum eingebüßt haben, Josef Ben Matthias. Aber wenn auch das Salz im Wasser sich löst, es ist doch immer da, und wenn das Wasser verdunstet, bleibt das Salz zurück“.

Dieses Wort des Alten erhob den Josef und demütigte ihn, dass er eine lange Zeit nicht sprechen konnte. Dann, leise, schüchtern erinnerte er seinen Lehrer: „Wollen Sie mir sagen, was Ihre Pläne sind, mein Vater?“
„Ja“, erwiderte Jochanan, „jetzt will ich es dir sagen. Wir geben den Tempel preis. Wir wollen setzen an Stelle des sichtbaren Gotteshauses ein unsichtbares, wir wollen umgeben den wehenden Atem Gottes mit Mauern aus Worten an Stelle der Mauern aus Granit. Was ist der wehende Atem Gottes? Lehre und Gesetz. Man kann uns nicht auseinanderreißen, solange wir Zungen haben oder Papier für das Gesetz. Darum habe ich den Römer um die Stadt Jabne gebeten, daß ich dort eine Universität einrichten kann. Ich glaube, er wird sie mir geben.“

„Ihr Plan, mein Vater, braucht die Arbeit von vielen Geschlechtern.“
„Wir haben Zeit“, erwiderte der Alte.
„Aber werden uns die Römer nicht hindern?“ fragte Josef.
„Gewiß wird man versuchen, uns zu hindern; die Macht hat immer Mißtrauen gegen den Geist. Aber der Geist ist elastisch. So dicht kann man nichts verschließen, daß er nicht doch durchdringen könnte. Sie zerschlagen uns Staat und Tempel: wir bauen an seine Stelle Lehre und Gesetz. Sie verbieten uns das Wort: wir verständigen uns durch Zeichen. Sie verbieten uns die Schrift: wir denken uns Chiffren aus. Sie versperren uns die grade Straße: Gott wird nicht kleiner, auch wenn seine Bekenner auf listigen Umwegen zu ihm gehen müssen.“ Der Alte schloß die Augen, öffnete sie, sagte: „Es ist uns nicht gegeben, das Werk zu vollenden, aber es ist uns auferlegt, nicht davon abzulassen. Das ist es, wozu wir auserwählt sind.“

„Und der Messias?“ fragte Josef mit einer letzten Hoffnung. Das Sprechen begann dem Großdoktor schwerzufallen, aber er riß sich zusammen, es war wichtig, daß er seinem Lieblingsschüler Josef das Wissen wettergab. Er winkte Josef, sich niederzubeugen, mit dem welken Mund flüsterte er in sein junges Ohr: „Es ist fraglich“, flüsterte er, „ob der Messias jemals kommen wird. Aber glauben muß man es. Man darf nie damit rechnen, daß der Messias kommt, aber man muß immer glauben, daß er kommen wird.“
Josef auf dem Rückweg war beklommen. Der Glaube dieses großen Alten war also nichts Strahlendes, was ihm half, sondern etwas Mühevolles, Listiges, immer verbunden mit Ketzerei, immer sich wehrend gegen Ketzerei, eine Last. So verschieden die beiden aussahen, es war kein sehr weiter Weg von Jochanan Ben Sakkai zu Justus von Tiberias. Josef fühlte sich bedrückt.

* Anm. (haGalil Red.) Über Josefus war der Bann gesprochen, was einen Abstand von sieben Schritten zu halten gebot

Aus „Der jüdische Krieg“ von Lion Feuchtwanger
In der Josefus Trilogie sind beim Aufbau Verlag drei Romane Lion Feuchtwangers: „Der jüdische Krieg“, „Die Söhne“ und „Der Tag wird kommen“ verlegt worden.

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