Der Kampf gegen den RaMBaM

Rationalisten, Antirationalisten und die Lehre von der „doppelten Wahrheit“

Von Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden, 4. Kapitel, Martyrium und Mystik

Die jüdische Welt spaltete sich im Laufe des 13. Jahrhunderts in Rationalisten und Antirationalisten. Doch blieb auch Raum für eine seltsame Mittelstufe, für eine Denkform, die sich zum unbedingten Glauben wie zur unbedingten Vernunft nebeneinander bekennt und so, da ihr die Synthese nicht gelingen will, zum Dualismus ihre Zuflucht nimmt.

Es ist die Lehre von der »doppelten Wahrheit«, wie ein Isaak Albalag sie formuliert hat: »Denn auf Grund meiner wissenschaftlichen Einsicht bin ich oft davon überzeugt, dass sich etwas mit Naturnotwendigkeit auf eine bestimmte Weise verhalte, und doch glaube ich auf Grund der Worte der Propheten, dass «ich auf unnatürliche Weise das Gegenteil zugetragen habe.« Es ist bemerkenswert, dass diese Kampfstellung zwischen zwei Extremen samt der Zwischenstufe von der »doppelten Wahrheit« sich zu gleicher Zeit auch im Christentum einstellte. Die Scholastik unternahm den gleichen Versuch, den Maimonides schon vorher unternommen hatte: die Lehre der Religion mit der Lehre eines Aristoteles zu versöhnen.

Während Thomas von Aquino sich dahin entschied, die Philosophie habe die »Dienstmagd der Theologie« zu sein, entschlossen andere sich für den Dualismus der doppelten Wahrheit, eine Einstellung, die dem Bannfluch verfiel. Solche Gleichzeitigkeiten, wie sie uns auch späterhin bei der Kabbala begegnen werden, beweisen, dass es — bei aller Verschiedenheit der Ebene — doch ein Fluidum geistiger Gemeinsamkeit gibt. Darin liegt eine der stärksten Hoffnungen für die zukünftige Gestaltung des Menschengeschlechts, auch wenn tausend Kräfte bemüht sind, sie zu zerstören.

Der orthodoxe Kampf gegen den RaMBaM

Für den Kampf, den die Orthodoxie jetzt eröffnet, stehen ihr nicht nur in Deutschland und in Frankreich, sondern auch in Spanien und in den Provence Kräfte zur Verfügung. Kein Aufschwung des philosophischen Denkens hatte verhindern können, dass der Einfluss des Talmud und die seit langem geübte Art dieses Studiums ständig auch in Spanien wuchsen. Es ist, als habe der Instinkt der Juden dieser frühen Blüte einer geistigen Freiheit nicht getraut und habe auf die Kraft der überkommenen und so vielfach bewährten Sicherungen nicht verzichten wollen.
Spanien besaß in dem schon erwähnten RaMBaN eine Autorität der rabbinischen Wissenschaften, in Salomo ben Adret (Raschba) in Barcelona einen großen tossafistischen Dialektiker und gegen Ende des 13. Jahrhunderts in dem von Deutschland zugewanderten Ascher ben Jechiel (Rosch) einen Vertreter des engsten deutschen Rabbinismus.

Der Kampf beginnt mit einem Bann, den R. Salomo ben Abraham vom Berge aus Montpellier in der Provence zusammen mit dem Rabbiner von Gerona, Jona Gerondi, über alle verhängt, die sich mit profanen Wissenschaften und Philosophie befassen, insbesondere mit den Werken des Rabbi Moses Ben Maimon (RaMBaM). Andere provenzalische Gemeinden antworten, indem sie Salomo in den Bann erklären. Saragossa und einige andere Gemeinden verhängen den Bann über Montpellier. In dem Hin und Her spitzen sich die Gegensätze so zu, dass R. Salomo ben Abraham die Werke Maimons beim Inquisitionsgericht denunziert.

Es versteht sich, dass das Gericht sowohl das »Buch der Erkenntnis« wie den »Führer der Irrenden« zum Scheiterhaufen verurteilt (1232).

Die wilde Entrüstung darüber in Spanien und der Provence bringt wohl den Denunzianten zu tiefer Reue, aber die Gegensätze sind dennoch für die Dauer aufgezeigt und verlangen ihren Austrag. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts (1303) eröffnet wieder Montpellier unter Führung des Don Astruc de Lunel den Feldzug. Sein Verbündeter wird Raschba in Barcelona. Dort wird (1305) als der Abschluss erbitterter Auseinandersetzungen folgender Bannfluch verkündet: »Wir haben angeordnet und es uns und unserer Nachkommenschaft zur Pflicht gemacht, unter Aufbietung des Cherem darauf zu bestehen, dass kein Gemeindemitglied unter 25 Jahren, heute und fürder fünfzig Jahre lang, sich mit dem Studium von griechischen Büchern über Naturkunde und Theologie… befassen soll… Von dieser Verordnung ist nur das Studium der Medizin ausgenommen… weil die Thora die Ausübung der ärztlichen Kunst ausdrücklich gestattet.«

Der Philosoph und Astronom Jakob ben Machir, Dekan der philosophischen Fakultät von Montpellier, in der mittelalterlichen Wissenschaft bekannt als Profiat oder Profatius, ist Führer der Opposition. Sie erlässt einen Bann gegen jeden, der es wagt, Maimonides zu verketzern oder Menschen am philosophischen Studium zu hindern. Zur Verteidigung der Wissenschaft und des Rechts auf Wissen erheben sich überall Gelehrte. Aber der Kampf kann nicht ausgetragen werden. In seinen Höhepunkt fällt die Ausweisung der Juden aus Frankreich. Wieder unterbrechen fremde Gewalten die organische Entwicklung im jüdischen Bezirk und zwingen die Juden, mit der Last unausgelebter Probleme weiterzuexistieren.

Die Flucht in die Mystik

Doch in einem anderen Bezirk, in dem nicht gekämpft, sondern heimlich und stetig aufgebaut wird, stellt das Problem: Philosophie oder Religion, Vernunft oder Glaube, sich erneut zur Beantwortung. Hier wird Antwort gegeben nicht aus der Helle und nicht aus der Dunkelheit, sondern aus dem Zwielicht, aus dem geheimnisvollen Leuchten: aus der Mystik.

Da ist die Vernunft ein schwacher Begriff und der Glaube in seiner traditionellen Form unzureichend. Denn es gibt etwas, was der Vernunft nicht zugänglich ist und was auch der schlichte Glaube nicht erfasst: das Geheimnis, in dem das Wesen Gottes und Aufbau und Sinn von Himmel und Welt beschlossen liegen. Die Welt, in der solches erkannt werden kann, ist die der Kabbala.

Die Kabbala teilt mit dem Talmud das Geschick, als abgegriffenes Wort in aller Mund zu sein und ihre Beurteilung zu erfahren nach dem Wissen aus zehnter Hand. In der marktgängigen Bewertung liegt der Ton auf Auswüchsen, die man als sinnlos und verspielt bezeichnet. Dabei bleibt unbeachtet, dass die Kabbala in ihrer Entstehung ein Bedürfnis war.
Vom Menschlichen aus gesehen: weder der Rationalismus noch der Talmudismus konnten das Bedürfnis nach fortdauernder religiöser Gestaltung und religiösem Erleben befriedigen. Es darf nicht einen Augenblick außer acht gelassen werden, dass im Judentum durch die Jahrhunderte und ohne Unterbrechung das wirkliche Bedürfnis nach solchem religiösen Erleben bestand. Ein Jude ohne religiöse Triebkraft — gleich, in welcher Form sie sich äußert, ob als Treue gegen das jüdische Gesetz oder als Treue gegen die jüdische Idee — ist eine Sinnwidrigkeit und ein Zerfallprodukt. In der Kabbala hat sich, mit dem 13. Jahrhundert sichtbar werdend, das Judentum einen Bezirk geschaffen, in dem das religiöse Erleben sich sogar ungestört von der Kontrolle der Vernunft und der nichts als verpflichtenden Härte der talmudischen Welt entladen konnte.

Kabbala bedeutet: Überlieferung für den Eingeweihten, Geheimlehre für den, der hinter Wort und Ausdruck der Bibel die verborgene Schicht sieht. Noch aus der Zeit der Erzväter und Mosches ist auf geheimen Wegen solch tieferer Sinn übermittelt. Er enthüllt, dass im Anfang alles Seins Gott steht, Ejn Sof, der Endlose, der Grenzenlose, der Unendliche. Er hat keine Eigenschaften und keine Attribute. Er ist Urkraft, die Ausstrahlungen, Emanationen aus sich entlässt, schöpferische Energien, in der Sprache der Kabbala Sefiroth genannt. Sefira heißt an sich Zählung; aber hier soll das Wort mit Klang und Sinn sich dem Begriff »Sphäre« des Aristoteles annähern. Die erste Sefira, aus Gott selbst entlassen, hat wieder die zweite aus sich entlassen, die wieder die dritte und so fort bis zur zehnten. Diese Sefiroth haben die Welt erschaffen und halten sie in Ordnung. Jede von ihnen hat eine besondere Funktion, die einen für die höchste geistige Weltordnung, andere für die sittliche Weltordnung und wieder andere für die Welt der Sinne. Diese Sefiroth sind theosophische Welten, und die Mystik, die in das Geheimnis der Schöpfung eindringen will, begreift sie als Stufen des Schöpfungswerkes, als die Kategorien, in die die Welt des sinnlich Wahrnehmbaren geordnet ist, als Wege auch des Menschen zu Gott, denn er kann durch sein Gebet auf die Sefiroth einwirken und sich auf diese Weise in unmittelbare Beziehung zu Gott setzen. Die Sefiroth sind, auf ihre Urkraft Gott bezogen, ihm wesensähnlich, aber nicht wesensgleich.

— Da stehen wir plötzlich vor Begriffen der christlichen Gnosis. Das haben die Gegner der Kabbala schon sehr früh erkannt und ihren Anhängern den Vorwurf gemacht, dass sie die christliche Dreieinigkeit durch eine Zehneinigkeit ersetzen; dass sie an Stelle der klaren Gliederung Gott — Weltschöpfung — Weltexistenz eine gnostische Geschichtsphilosophie stellten, die mit dem Judentum nichts zu tun habe. Hier entsteht in aller Deutlichkeit ein ungemein wichtiges Problem der jüdischen Theologie; denn wenn auch die frühen Kabbalisten den Begriff der Einheit Gottes sehr konsequent wahrten, konnten die Spätem nicht verhindern, was das Schicksal aller gnostischen Ideen ist: dass die Kräfte, die als Auswirkungen gedacht sind, eine immer wachsende Selbständigkeit bekommen. Eines Tages überwuchern die Mysterienwelten, eigenlebig geworden, sogar ihren Ursprung: Gott. Das ist ein erregender Prozess. Wie der Versuch, aus Ratio und Offenbarung eine Synthese zu schmieden, bei der unauflösbaren Antithese von beiden landete, so endete der Versuch, aus der mystischen Versenkung Gott zu finden, bei der Notwendigkeit, ihn von neuem suchen zu müssen. So ist das religiöse Leben des Juden aus seiner eigenen Bewegtheit heraus immer von neuem vor einen Anfang gestellt.

Wir können im Rahmen dieses Überblicks den Einzelheiten in der Entwicklung der kabbalistischen Welt und Lehre nicht nachgehen. Wir müssen uns vorerst damit begnügen, aufgezeigt zu haben, dass das Judentum imstande war, noch in der Überbelastung seiner äußeren Existenz die innere Existenz zu retten.

Die mystische Welt der Kabbala empfing ihr ersten Ausprägungen und literarischen Gestaltungen in der Provence und in Spanien, in diesen beiden Gebieten, von denen man als den letzten sagen konnte, dass sie dem Juden noch einen tragbaren Lebensraum gewährten. Wir werden uns bald mit Spanien als dem Lande zu beschäftigen haben, in dem für den Juden der apokalyptische Begriff der Hölle seine Verwirklichung fand.

Das christliche Abendland, mit Italien als der einzigen Ausnahme, hat gegenüber dem jüdischen Problem, das sich ihm darstellte, keine andere Lösung gefunden als die, die Träger, die Objekte des Problems zu vertreiben.
Am Ende des 13. Jahrhunderts vertreibt England seine Juden, am Ende des 14. Jahrhunderts Frankreich, am Ende des 15. Jahrhunderts Spanien und Portugal, und in der ganzen Zwischenzeit ist Deutschland der Schauplatz freiwilliger und erzwungener Auswanderung.