Mischpatim: Und das Leben geht weiter – Das neue Zeitalter

Von Eli Erich Lasch
(„Let there be Freedom – The Bible Unveiled“, Logos Publication, 1989)

Das große Ereignis ist vorüber und ist Teil der Vergangenheit geworden, Teil des menschlichen Erbes … und es lebt für immer. „An jenem Tag“ … dem Tag, der für immer in der Gegenwart weiter existieren wird. Eine Botschaft, die immer neu ist, immer ihre Bedeutung behält. So blüht der Samen auf, der bei Abrahams Bund mit Gott gesät wurde. Das Tor zu dem Weg, der Abrahams Nachkommen zu ihrer Bestimmung und zu ihrem endgültigen Ziel führen wird.

„Ihr sollt ein Königreich von Priestern sein, ein heiliges Volk.“ (Exodus 19, 6) Sie sollen die Priester des Lebens sein, ein Volk, dessen Aufgabe es ist die Vision der Freiheit zu verbreiten, die Welt zu lehren.

Nicht ihnen allein wurden die Zehn Gebote gegeben; sie sind nur die Bewahrer der Botschaft. Ihre Aufgabe ist es den Völkern der Welt die Bedeutung der Freiheit und die Weisheit der Botschaft, die am Sinai gegeben wurde, vorzuleben: „Sehet, ich habe euch Gesetze und Rechte gegeben, wie es mir mein Gott ““ befohlen hat, auf dass ihr sie ausführet in dem Land, das ihr erben werdet. Darum haltet sie und hütet sie; denn das ist eure Weisheit und euer Verstand vor den Augen der Völker, die alle diese Gesetze hören werden und sprechen: Ja doch, ein weises und verstehendes Volk ist diese große Nation. Denn welches große Volk gäbe es, das einen Gott hätte, der ihm so nahe steht wie ““, unser Gott, allwann wir zu ihm rufen. Und welche große Nation ist es, die Gesetze und Rechte hätte wie die ganze Weisung, die ich heute vor euch lege“. (Deuteronomium 4, 5-8)

Die Kinder Israel sind so die Vorläufer und Vorboten eines anbrechenden neuen Zeitalters. Aber um ihre Aufgabe zu erfüllen, lag noch ein langer Weg vor ihnen. Sie mussten die Vision vom Sinai in eine Lebensweise umsetzen. Bevor sie als Führer fungieren konnten, mussten sie den Weg abstecken, der zu ihrer eigenen Transformation führte. Die Zehn Gebote mussten zur Torah erweitert werden, einem Lehrbuch, das den Weg zeigt; denn das Wort Torah bedeutet auf Hebräisch die Lehre oder die Weisung. [i]

Die Tatsache oder der Beweis, dass die Torah ein Buch ist, das sich mit Freiheit beschäftigt, geht aus dem Anfang dieser Paraschah hervor: Nach den Zehn Sprüchen, im Christentum „Gebote“ [ii] genannt, beschäftigt sich das erste Gebot der Torah ausgerechnet mit dem hebräischen Sklaven und seinen Rechten: „Wenn du einen hebräischen Sklaven kaufst, soll er dir sechs Jahre dienen. Im siebten Jahre gehe er in die Freiheit aus umsonst. Kam er ledig, gehe er auch ledig, und wenn er verheiratet ist, gehe seine Frau mit ihm.“ (Exodus 21, 2 und 3)

Von daher gibt es im Grunde keine hebräischen Sklaven, sie waren eher eine Art von Lohnarbeiter, deren Gehalt im Voraus bezahlt wurde. Wenn aber der Sklave nicht in die Freiheit gehen will, so fährt die Paraschah fort: „dann lasse ihn sein Herr vor das Gottesgericht treten und lasse ihn dann treten an die Tür oder an den Türpfosten, da durchbohre ihm sein Herr das Ohr mit dem Pfriem und nun diene er ihm auf immer.“ (Exodus 21, 6) Die Weisen sagen dazu: “ Bestraft wird das Ohr, das die Botschaft der Freiheit vernommen und sie nicht angenommen hat.“

In diesem Abschnitt legt die Torah auch die Grundlagen für einen Rechts- und Sozialstaat. So z.B. in dem Satz: „Du sollst keine Bestechung annehmen, weil die Bestechung die Sehenden blind macht und die Worte der Rechtschaffenen verfälscht.“ (Exodus 23, 7) Ebenso sagt die Paraschah: „Du sollst die Witwe und die Waise nicht unterdrücken. Wenn ihr sie unterdrückt und sie zu mir schreien werden, werde ich diesen Schrei hören und mein Zorn wird entbrennen und ich werde euch mit dem Schwert erschlagen und eure Frauen werden zu Witwen und eure Kinder zu Waisen werden.“ (ebd. 22, 21-23) Auch Arme haben Rechte, weil die Armut ihr Menschsein nicht auslöscht. Deswegen gibt es im Judentum auch keine Almosen. Auf Hebräisch spricht man stattdessen von Zdaka – ein Wort, das von „Gerechtigkeit“ abgeleitet ist.

In früheren Absätzen habe ich gezeigt, dass die Zehn Gebote für den modernen Menschen eben so bedeutsam sind wie sie es vor 3300 Jahren waren, als sie formuliert wurden. Aber was ist mit der Torah? Ist sie nur ein geschichtliches Relikt ist, eine Sammlung altertümlicher Sagen, Mythen und Gesetze, nur tauglich für ein Volk der Antike, wie es viele Bibelforscher der letzten 200 Jahre behaupten? Die Torah ist die Basis der jüdischen Religion, ihre Erläuterung findet sich in Tausenden von talmudischen Diskussionen. Viele dieser Auslegungen sollen einen Zaun um die Torah bauen – aber ein Zaun kann manchmal auch hinderlich sein.

Die christliche Religion ist noch viel weiter gegangen und hat die Torah durch eine Sammlung von Büchern ersetzt, welches sie das Neue Testament nannte. Die Torah wurde so zu einem Alten Testament degradiert, das, ähnlich wie die Queen Mum von England, ihre Autorität vollkommen verloren hat. Und das trotz der klaren Anweisung von Jesus: „Denkt nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch, bis der Himmel und die Erde vergehen, wird nicht ein einziger Buchstabe oder Tütelchen vom Gesetz vergehen, bis alles erfüllt ist.“ (Matthäus 5, 17-18). Nach einer anderen Version des Neuen Testaments sagt Jesus, dass das Gesetz weiter existieren wird, bis seine Aufgabe erfüllt ist.

Lassen Sie uns an dieser Stelle anhalten und uns fragen: Was war das Ziel der Torah? Darauf folgt die zweite Frage: Wurde dieses Ziel erreicht? Wenn wir zu den Zehn Geboten zurückkehren, sehen wir, dass das Ziel der Torah war, den Menschen den Weg zur Freiheit und zur Wiedergewinnung ihrer Göttlichkeit zu weisen. Wenn wir den gegenwärtigen Zustand der Menschheit betrachten, müssen wir leider zugeben, dass die Antwort darauf ein klares „Nein“ ist. Der moderne Mensch ist nicht näher an diesem Ziel als diejenigen, die Ägypten verlassen haben. Nur die Sprache und die Symbole haben sich verändert, ebenso wie unser Verständnis der uns umgebenden Welt. Lassen wir uns deshalb nicht in die Irre führen durch die Worte und Ausdrucksweise der Torah, die sehr oft die Symbole und die Verständnisebene der Menschen wiederspiegelt, die sie als erste empfangen haben.

Konfrontiert mit – für sie – revolutionären Vorstellungen, mussten sie erst einmal verstehen, worum es eigentlich ging, und mussten in der Lage sein damit fertig zu werden. Es scheint allerdings, dass sich die Menschheit in den 3500 Jahren, die seit dieser Zeit vergangen sind, nicht so sehr geändert hat, und die Prinzipien, auf denen die Gesetze und Verordnungen fußen, sind so relevant geblieben, wie sie es damals waren. Sie werden nur auf eine Art und Weise ausgedrückt, die für uns fremdartig klingt.

Die Aufgabe unserer Zeit ist es daher, die Verkrustungen, die sich im Laufe der Jahrtausende angesammelt haben, abzuschälen, um die zugrunde liegenden Bedeutungen aufzudecken und sie in eine Form zu bringen, die unserer Zeit entspricht. Diese Verkrustungen entstanden zum großen Teil, seitdem der Tempel zerstört und das jüdische Volk zerstreut wurde. Um das Sefer haChinuch[iii] aus dem 13. Jahrhundert zu zitieren: „Der größte Teil der 613 Gebote, die Israel gegeben wurden, können nur erfüllt werden, wenn es einen König gibt, der die Gebote des Königs erfüllt; und wenn es einen Tempel gibt, in dem die Gebote, die mit dem Tempel verbunden sind, ausgeführt werden können“. Der heute unbekannte Verfasser hat ausgerechnet, dass man heutzutage nur 270 der Gebote erfüllen kann. Die Zahl 270 schreibt sich auf Hebräisch ra, was „böse“ bedeutet.[iv] Er bezieht sich dabei auf den Satz: „… ,dass das Herz des Menschen die ganze Zeit nur böse war.“ (Genesis 6,5) Die fehlenden Gebote wurden von den Rabbinern durch andere Gebote ersetzt, aber damit haben sie nicht das Böse aus der Welt geschafft.

Um die oben erwähnte Aufgabe zu erfüllen, kommen uns oft die Worte der Bibel zur Hilfe; sie enthalten Hinweise, die erst von einer Generation verstanden werden können, die einerseits unseren Grad des Wissens erreicht hat und andererseits wieder in Israel lebt und die hebräische Sprache wieder lebendig gemacht hat. Um die Bibel wirklich zu verstehen, muss man das Land und die Sprache kennen und viele seiner Vorurteile aufgeben.

In den vorhergehenden Kapiteln wurde wiederholt gezeigt, dass die Bibel kein historisches Textbuch ist. Wenn wir nun zu ihr zurückkehren, sehen wir ebenfalls, dass sie auch kein Gesetzescode im anerkannten Sinne ist. Sie gibt Gesetze nur in den Fällen, wo die bestehenden ihrem Geist widersprechen. Dem modernen Menschen fällt es schwer die Prämisse anzunehmen, dass die Bibel uns einen Weg in die Freiheit zeigen will. „Wie kann ein Buch, das Freiheit propagiert, so voller Regeln und Anweisungen sein, voller „ihr sollt …“ und „ihr dürft nicht …“? Diese Kritiker verwechseln Freiheit mit Anarchie und „frei von …“ mit „frei zu …“ . Sie vergessen, dass viele der Freiheiten, die für uns selbstverständlich sind, aus der Bibel stammen. Was die Bibel befürwortet, ist nicht Anarchie, sondern eine innere Freiheit, verbunden mit einer inneren Disziplin und Verantwortung, die nur von einem völlig freien Volk erreicht werden kann. Der erste Beweis, dass dieses das Ziel der Bibel ist, zeigt uns die Art und Weise, wie die Zehn Gebote offenbart wurden. Bis zu der Zeit hatten alle Religionen in ihrem Mittelpunkt einen Mysterienkult, der nur Eingeweihten offen stand. Nebenbei gesagt, ist das nicht ähnlich im Katholizismus? Wurde nicht die Messe auf Lateinisch zelebriert, in einer Sprache, die das Volk nicht verstand? Bis zu Luthers Zeiten war auch die Bibel nur auf Lateinisch und Griechisch zugänglich.

Die Torah hat das alles verändert und die neue Lehre so öffentlich wie möglich gemacht. Eingeführt wurde sie in einem Massenspektakel, das uns mehr als alles an die Massenveranstaltungen erinnert, die in unserem Zeitalter so verbreitet sind. Der Eindruck, der vermittelt wird, erinnert an heutige Popkonzerten mit ihren elektronisch erzeugten Effekten. Als das Spektakel vorüber ist, werden die Teilnehmer aufgefordert, das, was verkündigt wurde, sich einzuprägen, es fortwährend zu studieren und es ihre Kinder zu lehren. Dies sind sicherlich keine idealen Bedingungen für das Entstehen eines Mysterienkults. Auch die Riten des Tempels waren nicht das Eigentum der Priester, sondern dem ganzen Volk zugänglich. Erst unsere Generation hat die Wichtigkeit einer freien und weit verbreiteten Information für die Wahrung der Freiheit verstanden. Es ist nicht zufällig, dass totalitäre Regimes als Erstes Bücher verbrennen und eine Zensur einführen, um diesen Fluss zu unterbinden. Denn es ist das Wissen, das uns frei macht. Es gibt Theorien, dass es das Internet war, der freie Fluss von Informationen, der das kommunistische Regime zu Fall brachte.

Bevor wir diese Parascha verlassen, wollen wir uns mit einem Satz beschäftigen, der für viele ein Stein des Anstoßes geworden ist. „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Kritiker ziehen daraus den Schluss, dass das sogenannte „Alte Testament“ grausam wäre. Der Talmud erklärt diese Vorschrift dahin gehend, dass es sich hier um eine finanzielle Schadensersatzregelung handelt. Aber, kann eine Entschädigung ein Auge zurückgeben? Wenn ich die Torah ganz wörtlich nehme, dann bin ich davon überzeugt, dass sie die Menschen zur Gewaltlosigkeit und zur Übernahme von Verantwortung erziehen wollte. Die Menschen sollten dazu gebracht werden am eigenen Körper zu spüren, was sie ihrem Nachbarn angetan haben. Dann werden sie es sich zweimal überlegen, bevor sie Gewalt anwenden. Dann gibt es weder Sieger noch Besiegte. Bis zu diesem Zeitpunkt dient dieses Gebot als Abschreckung. Ist das nicht genau der Grund dafür, dass es keinen Dritten Weltkrieg gegeben hat? Haben die Großmächte nicht endlich eingesehen, dass es in einem atomaren Zeitalter weder Sieger, noch Besiegte gibt? Hat die Bibel so weit vorausgeschaut? In der vorigen Parascha habe ich gezeigt, dass das Gebot „Du sollst nicht morden“ auch als „Du wirst nicht morden“ gelesen werden kann. Gibt es hier etwa eine Verbindung?

[i] Interessant ist die Ähnlichkeit des Wortes mit dem chinesischen Tao, das dieselbe Bedeutung hat.
[ii] Auf Hebräisch heißen die „Zehn Gebote“ die „Zehn Sprüche“ (die zehn Dibrot). Alles, was danach kommt, wird mitzwot genannt, was im Deutschen auch mit „Geboten“ übersetzt wird.
[iii] Ein noch heute sehr verbreitetes Buch, das sich mit den Zehn Geboten beschäftigt.
[iv] Jeder hebräische Buchstabe hat zugleich auch einen Zahlenwert. Eine Zahl kann so ein Wort ergeben.

Übersetzung: der Verfasser und Cornelia Fuchs (Jesaja, 5.2). Alle Bibelzitate sind der Übersetzung von Buber/Rosenzweig entnommen.