Nach Gaalyahu Cornfelds „haMikra baOlam“
1. Einordnung des Buches
Das Buch Esther ist die fünfte der Fünf Megiloth (Schriftrollen), die in der hebräischen Bibel in der Reihenfolge angeordnet sind, in der sie an bestimmten Festen des religiösen Festkalenders gelesen werden. In der Übersetzung der Septuaginta und der Vulgata steht Esther als letztes der Historischen Bücher. Das Buch enthält eine teils historische, teils legendäre Geschichte über die Entstehung des jüdischen Purim- (=Lose-) Festes. Das Buch kann nicht allzulange nach der persischen Epoche geschrieben worden sein.
Als Beweis für seine frühe Entstehungszeit führen einige Wissenschaftler die Tatsache an, dass es keinerlei Spuren eines griechischen Einflusses aufweist; freilich ist dies kein unbedingt zwingender Beweis. Es wurde gelegentlich darauf hingewiesen, dass der Autor viele persische Worte in seine Erzählung eingestreut hat. Er war mit persischen Bräuchen vertraut und gab der ganzen Geschichte ein deutlich persisches Kolorit. Das veranlasste viele Bibelwissenschaftler zu der Annahme, der Verfasser des Buches Esther habe tatsächlich in Persien gelebt (s. unten 3).
2. Inhalt des Buches
Kap. 1 u. 2: Ahasveros, der König von Persien und Medien, hielt in Susa (der alten Hauptstadt von Elam, das zu seinem Reich gehörte) ein großes Gastmahl. Als der König in bester Weinlaune war, befahl er, Vasthi, die Königin, herzubringen, um sie den Gästen vorzustellen. Die Königin weigerte sich jedoch, zu erscheinen. Daraufhin wurde ihr eine harte Strafe auferlegt. Sie wurde abgesetzt, und ihr königlicher Rang sollte »einer anderen, die besser ist als sie« gegeben werden. Um eine Nachfolgerin für Vasthi zu finden, brachte man »Jungfrauen von jugendlich schöner Gestalt« aus allen Teilen des Reiches nach Susa. Esther war eine dieser Jungfrauen. Der Jude Mordechaj (Mardochai) hatte sie nach dem Tod ihrer Eltern, mit denen er verwandt war, adoptiert. Nachdem sie sich im Frauenhaus der Pflege ihrer Schönheit gewidmet hatte, gefiel sie dem König, und er machte sie an Stelle Vasthis zur Königin.
Damals deckte Mardochai eine Verschwörung gegen den König auf, und seine Tat wurde für den König im Buch der Zeitgeschichte aufgezeichnet.
Kap. 3: Bald gelangte ein Mann namens Haman zu höherer Stellung und Würde. Der König setzte ihn über alle seine Minister, und alle Untergebenen hatten ihm zu gehorchen. Allein Mardochai widersetzte sich dem königlichen Befehl und weigerte sich, vor Haman die Knie zu beugen. Voller Zorn suchte Haman, Mardochais Landsleute, die Juden, auszurotten. Der König gab seine Zustimmung.
Kap. 4 u. 5: Mardochai bat Esther um Fürsprache beim König für ihre Landsleute. Esther sagte ihm, er solle ein dreitägiges Fasten anordnen. Danach werde sie vor dem König erscheinen, obwohl sie nicht gerufen sei und damit ihr Leben in Gefahr bringe. Denn niemand durfte ungebeten vor den König hin treten. Tat er es dennoch, so wurde er dem Gesetz und Brauch am Hofe gemäß getötet, – es sei denn, der Herrscher streckte ihm das goldene Zepter entgegen.
Als sie drei Tage lang gefastet hatte, erschien Esther vor dem König. Als er nach ihrem Begehr fragte, lud sie ihn ein, zusammen mit Haman zu einem Gastmahl zu kommen, das sie am gleichen Abend geben wollte.
Auch am folgenden Abend sollte ein Gastmahl gehalten werden. Als Haman das hörte, fühlte er sich geehrt und ging hocherfreut vom Hofe nach Hause. Er hatte einen fünfzig Ellen hohen Pfahl errichten lassen, an dem er Mardochai aufhängen wollte, sobald er des Königs Zustimmung hierzu erhalten hätte.
Kap. 6: In dieser Nacht konnte der König keinen Schlaf finden. Er ließ sich daher von seinen Höflingen einen Abschnitt aus der Chronik vorlesen, in dem beschrieben war, wie ihm Mardochai einmal das Leben gerettet hatte. Da entdeckte der König, dass Mardochai für diese Tat noch keine Belohnung erhalten hatte. Als nun Haman am folgenden Morgen kam, um die Bestätigung für die Vollstreckung des Todesurteils an Mardochai zu erhalten, fragte ihn der König, was wohl mit einem Mann zu geschehen habe, den der König zu ehren wünsche. Haman, der glaubte, ihm selber sei diese Ehre zugedacht, antwortete, einem solchen Mann seien königliche Gewänder anzulegen und er sei auf dem Pferd des Königs durch die Straßen der Stadt zu geleiten. So befahl denn der König, nach diesem Vorschlag mit Mardochai zu verfahren.
Haman führte den königlichen Befehl aus, kehrte dann aber »traurig und verhüllten Hauptes« nach Hause zurück.
Kap. 7 u. 8: Beim zweiten Gastmahl, das Esther dem König und Haman gab, eröffnete sie dem König Hamans heimtückische Pläne. Dieser befahl daraufhin, Haman sei an den Galgen zu hängen, den er für Mardochai errichten ließ. Noch am gleichen Tag wurde Mardochai an Stelle Hamans in dessen hohes Amt eingesetzt. Der König ordnete zudem an, die Verfügung Hamans gegen die Juden sei zurückzunehmen; die Juden dürften sich auch verteidigen.
Kap. 9: Am 13. Tag des Monats Adar schlugen die Juden ihre Feinde in den Provinzen und am 13. und 14. Adar ihre Gegner in der Burg Susa und den Städten und töteten die zehn Söhne Hamans. Daraufhin begingen sie am 14. und 15. Adar ein Festgelage zum Gedächtnis ihrer eigenen Befreiung und der künftiger Geschlechter. Die beiden Festtage heißen »purim«, weil Haman zur Vernichtung der Juden das »Los« ( = pur) geworfen hatte.
Kap. 10: Dieses Kapitel ist ein Epilog und scheint dem Gesamtwerk als Anhang beigefügt worden zu sein. Man kann es dahin gehend interpretieren, dass damit dem Buch Esther historische Glaubwürdigkeit verliehen werden sollte, zumal es darin heißt, sein Inhalt sei »in der Chronik der Könige von Medien und Persien« aufgezeichnet.
3. Entstehungszeit und Verfasser
Das Buch ist durchweg in einfachem und ansprechendem Erzählerstil geschrieben und wird gewöhnlich als ein homogenes Werk betrachtet, obgleich einige Wissenschaftler einige Verse am Ende des Buches für einen Anhang halten. Wenn das Buch auch wahrend der sog. persischen Periode entstanden zu sein scheint, so wird es weder selbst noch seine Hauptgestalten bei Jesus ben Sirach erwähnt; auch im 1. Buch der Makkabäer, das vom Nikanor-Tag berichtet, an dem das Gedächtnis an die Niederlage des syrischen Generals am 13. Adar des Jahres 161 v. Chr. begangen wird, findet sich keinerlei Hinweis auf das Buch Esther. Einige Bibelwissenschaftler glauben, aus dieser Tatsache eine Verbindung zwischen der Esthergeschichte und den Makkabäerkrie-gen folgern zu können. »Der Tag des Mardochai-Festes« wird jedoch im 2. Makkabäerbuch (15,36) erwähnt, das, nach V. Tscherikower, um 120 v. Chr. zusammengestellt wurde; damit ist allerdings nur bewiesen, dass bis dahin das Buch Esther noch nicht unter die kanonischen Schriften aufgenommen worden war.
Bemerkenswerterweise ist Esther das einzige Buch des AT, das sich nicht unter den Qumranschriften fand. Selbst noch zu Beginn der amoraischen (talmudischen – 5.Jhdt. n.Chr.) Periode gab es Widerstände gegen dessen Kanonisierung (Talmud Babyl., Megilla 7a). Erst als das Purimfest immer mehr religiösen Charakter erhielt, betrachtete man das Buch Esther nicht mehr als eine profane Schrift und nahm es in den Kanon auf. Die Rabanim schrieben damals vor, das Buch sei am Vorabend und am Morgen des Purimfestes zu lesen.
4. Historische Bedeutung
Über die historische Bedeutung des Buches Esther gibt es zwei Auslegungen. Einige Wissenschaftler halten das Buch für eine historische Erzählung, die mit einer Reihe literarischer Ausschmückungen versehen ist. Andere halten die Geschichte für frei erfunden; ihr historischer Kern sei im romantischen und literarischen Beiwerk untergegangen. Dies sei durch die märchenähnlichen Bestandteile der Erzählung bezeugt (das arme Mädchen, das wie Aschenbrödel groß und berühmt wird; der Bösewicht, der in die Grube fällt, die er für einen Gerechten gegraben hatte) und durch die Tatsache, dass in anderen Quellen nirgendwo auf die im Buch berichteten Begebenheiten Bezug genommen wird.
Selbst jene, die einen historischen Kern des Buches annehmen, können keine exakten Daten der geschilderten Ereignisse nennen, da man über jene ganze Epoche viel zu wenig weiß. Zumindest sind aber die allgemeinen Verhältnisse der Erzählung authentisch, denn das Buch zeugt von der Kenntnis der persischen Sitten und Bräuche; z. B. der Kronrat (1,14), die Art wie Helden oder königliche Günstlinge geehrt werden (6, 8), Einzelheiten über das Boten-System des Reiches (3, 15; 8, 14), die Schilderung des luxuriösen Hoflebens und der Gastmähler (1, 3-7) sowie der Austausch von Geschenken am persischen Neujahrsfest.
5. Archäologische Zeugnisse
Die Überreste von Persepolis – und noch mehr die von Susa – bezeugen die im Buch erwähnten Ereignisse. Man hat Inschriften gefunden, die zwischen Susa, der Königsburg, und Susa, der Stadt, unterscheiden. So lässt das Buch denn auch ganz richtig das Mahl für das Volk in der »Burg Susa« (1, 2), »auf dem Vorplatz des Gartens beim königlichen Schloß« (1, 5), stattfinden. Ausgrabungen in Susa und Persepolis haben zahlreiche Säulen zutage gefördert, zwischen denen farbige feine Baumwolltücher gespannt wurden, so wie es in 1, 6 beschrieben ist.
In Susa wurde der Stadtplatz, »der vor dem Königstor lag« (4,6), freigelegt; ebenso der Harem, der einen Ausgang zum Palasttor hatte. Dadurch wird die Genauigkeit der Beschreibung Esthers in allen Einzelheiten bestätigt, wie sie im »inneren Hof des Königspalastes, dem Palast gegenüber« stand, »während der König im Königspalast, dem Palasttor gegenüber, auf seinem königlichen Throne saß« (5,1). Vom Harem führte ein Korridor zur inneren Vorhalle des Palastes.
In dieser inneren Vorhalle, dem Korridor gegenüber, der vom Harem herführte, befand sich der Thronsaal (die »Königshalle«, die in 5,2 erwähnt wird).
Das Relief aus der »Halle der hundert Säulen«, das in der zweiten Residenz der Perserkönige in Persepolis freigelegt wurde, mag einen Eindruck von diesem Thronsaal vermitteln.
In der Mitte der Wand, gegenüber dem Eingangstor, stand der Hochthron, von dem aus der König alle sehen konnte, die sich ihm näherten, indem er über den Vorhang hinwegblickte, der ihn von den um Audienz Bittenden trennte.
Auch die Beschreibung der Halle des Festmahls, die sich zum Schlossgarten hin öffnete, erweist sich als in allen Einzelheiten korrekt (7,7). Eine der Hallen im Königspalast zu Susa hatte Ähnlichkeit mit dem Audienzsaal oder apadana des Darius zu Persepolis.
Eine große Treppe führte zum Audienzsaal, der mit Reliefdarstellungen von Soldaten und Tieren geschmückt war.
Trotz der Fülle archäologischer Zeugnisse ist es dennoch unmöglich, irgendeinen historischen Beleg für die im Buch angeführten Ereignisse zu finden.
Die Geschichte kennt nicht einmal die Namen der Hauptgestalten. Zudem stimmen gewisse Einzelheiten, wie etwa die Darstellung des Verhältnisses zwischen Juden und Nichtjuden, nicht mit den historischen Tatsachen überein. Ebenso kann der erwähnte König Ahasveros unmöglich mit einem der persischen Könige identisch sein.
Der Verfasser konnte allerdings Khschayärschä, der unter dem Namen Xerxes (486-465 v. Chr.) besser bekannt ist, gemeint haben. Jedenfalls entsprach die allgemeine Lage in Persien zur Zeit dieses Herrschers in etwa dem Bild, das im Buch gezeichnet ist. Die Beschreibung des Königs als eines grobsinnlichen Charakters paßt sehr wohl auf Xerxes, wie ihn Herodot und Aischylos dargestellt haben. Allerdings würde diese Beschreibung auf andere persische Herrscher ebenso passen; sie hilft daher sehr wenig zu einer Identifizierung des Ahasveros im Buch Esther.
Ebenso fällt es schwer, ein persisches Wort zu finden, das mit dem Wort Pur (mit der Bedeutung »Los«) identisch ist; denn davon ist der hebr. Plural »purim« (3,7; 9,26) abgeleitet, nach dem das Fest benannt ist. Anscheinend ist das Wort akkadischen Ursprungs.
Man muss den Versuch aufgeben, das Buch in die ihm gemäße historische Umwelt einzufügen. Immerhin sind gewisse historische Elemente darin enthalten.
6. Religiöse und moralische Bedeutung
Es ist erstaunlich, dass im Buch Esther weder der Name Gottes noch irgendeines der göttlichen Attribute vorkommt. Es hat den Anschein, als ob sich alle Geschehnisse ohne jegliches göttliche Zutun ereignet hätten; was bleibt, ist rein profane Volkssage.
Viele Bibelwissenschaftler vertreten die Ansicht, es sei eines der spezifischen Anliegen des Buches, das jüdische Volk zu preisen und die Heiden lächerlich zu machen. Dies sei den vielen Textpassagen zu entnehmen, deren Humor einen gewissen satirischen Zug gegen die Perser verrät. Man hat auch darauf hingewiesen, dass der Geist des ganzen Buches von einer Zeit geprägt zu sein scheint, in der Juden und Heiden sich gründlich gehasst haben müssen. Die Moral, die der ganzen Geschichte zugrunde zu liegen scheint, dürfte wohl heißen: »Liebe die Deinen und hasse deine Feinde.« Manche schließen daraus auf recht kämpferische Religiosität und Nationalismus. Es kann jedoch auch auf eine sehr konsequente Moral hingewiesen werden, wonach jegliches Übel gemäß seiner eigenen Bosheit bestraft wird: Haman erhielt die Strafe, die er einem anderen zugedacht hatte.
Das Buch Esther ist durchweg im jüdischen Geist gehalten. Mardochai weigert sich, vor Haman niederzuknien (3,2); die Juden behalten ihre ihnen eigentümlichen Bräuche bei (3,8); und der Bösewicht geht in die Falle, die er dem Gerechten gestellt hatte.
Die moralischen Qualitäten der Erzählung wurden oft in Zweifel gezogen, weil die darin vorkommenden Juden blutdürstig und rachgierig erscheinen. Aber auch im Kampf der Juden zu ihrer eigenen Verteidigung gilt keine Ausnahmemoral, im Gegenteil: es wird eigens darauf hingewiesen, dass sie nur kämpften, um ihr Leben zu retten, »ohne jedoch Hab und Gut anzutasten« (9,16). Das entspricht der Tradition des Gesetzes über den »Heiligen Krieg«. Das Fest wurde mit Frohsinn, Trinken und unter lärmendem Jubel gefeiert.
Es gibt verschiedene Theorien, die das Fest auf einen heidnischen Ursprung zurückführen wollen; einmal soll es von einem persischen Frühlingsfest hergeleitet sein, dann wiederum habe es sich aus einem zoroastrischen Totenfest entwickelt – oder aber es liege ihm ein babylonisches Neujahrsfest zugrunde. Diese Theorien sind allerdings reine Vermutungen.
Quelle: Die Bibel und ihre Welt. Eine Enzyklopädie zur Heiligen Schrift in drei Bänden. Herausgegeben von Gaalyahu Cornfeld