Channa – über einen vergessenen Midrasch zu Chanukka

Von Marianne Wallach-Faller

Wenn wir Chanukka feiern, erinnern wir uns vor allem an das Lichtwunder bei der Tempelweihe, von dem der Talmud erzählt (Babylonischer Talmud, Schabbat 21b). Der Befreiungskampf der Makkabäer, der die Neuweihe des Tempels erst ermöglichte, wird in seiner Bedeutung eher heruntergespielt. Die Makkabäerbücher, die davon berichten, sind nicht Teil des Tenach geworden.

So gibt es auch nur wenige Midraschim über diesen Befreiungskampf. Auf den ältesten dieser Midraschim, dessen Thematik – Missbrauch von Macht in der Form von sexueller Gewalt gegen Frauen – leider von bleibender Aktualität ist (auch wenn sie heute nicht in erster Linie jüdische Frauen betrifft), soll hier hingewiesen werden.

Der Midrasch erzählt, wie die „Griechen“, das heisst die hellenisierten Syrer unter König Antiochos IV. Epiphanes (174–164 v.), die Juden nacheinander durch vier Gesetzeserlasse bedrückten. Den drei ersten – ihre Wohnungen durften keine Türen haben, ihr Vieh musste den Göttern geweiht und konnte deswegen nicht geschächtet werden, und die Frauen durften nicht in die Mikwe gehen – diesen drei ersten Gesetzeserlassen wurde durch göttliche Fügung ihre schädigende Wirkung genommen. Beim vierten Gesetzeserlass aber, der jüdische Bräute dem „ius primae noctis“ unterstellte (das heisst sie mussten die erste Nacht nach der Hochzeit mit dem Statthalter des Königs verbringen), kam Gottes Hilfe erst, als sich Frauen und Männer selbst dagegen zu wehren begannen. Zuerst sah es jedoch so aus, als hätten die Unterdrücker Erfolg: Es gab kaum noch Verlobungen in Israel, und die Syrer vergewaltigten die Jungfrauen Israels.

Die Situation änderte sich erst am Hochzeitstag von Channa, der Tochter des Hohepriesters Mattitjahu, mit dem Hasmonäersohn Elieser. Als alle beim Hochzeitsmahl sassen, erhob sich Channa, die Braut, klatschte in die Hände und zerriss ihr Purpurkleid. Sie stand vor allen nackt da. Ihre Brüder schämten sich deswegen und wollten sie töten. Sie aber sprach: „Hört mich, meine Brüder und Freunde! Wie, weil ich vor Gerechten nackt dastand, ohne eine Sünde, geratet ihr in Eifer; und ihr geratet nicht in Eifer, mich in die Hand eines Unbeschnittenen zu liefern, um mich zu vergewaltigen?“ Channa erinnert ihre Brüder daran, wie sich die Söhne Jakobs Schimon und Levi für ihre vergewaltigte Schwester Dina einsetzten (1. Mose 34), und sie ruft Gottes Hilfe an.

Erst jetzt beginnen sich ihre Brüder für sie zu wehren. Sie fassen den Plan, ihre Schwester Channa zum König zu führen und diesem zu sagen: «Unsere Schwester ist die Tochter des Hohepriesters-, keiner in Israel ist grösser als unser Vater, und so ziemt es sich nicht für seine Tochter, dass ein Statthalter ihr beiwohne, sondern der König selber müsste es sein. Alsdann wollen wir ihn überfallen und töten; nach ihm sollen seine Diener und Fürsten an die Reihe kommen; Gott wird uns helfen und uns schützen.» Und Gott half ihnen, und sie hörten eine Bat Kol aus dem Allerheiligsten, die ihnen den Sieg verkündete.

Soweit der Midrasch. Vergewaltigung von Frauen, auch der eigenen Ehefrau, wird durch das jüdische Recht bestraft. Und ein Ehemann darf nach jüdischem Recht seine in Gefangenschaft (wo mit Vergewaltigung gerechnet werden muss) geratene Frau nicht verstossen, damit ihr zu allem erlittenen Leid nicht auch noch dies droht. Dennoch wird auch heute noch, auch in Israel, sexuelle Gewalt nicht mit derselben Selbstverständlichkeit bestraft wie andere Verbrechen. Noch immer wird zumindest ein Teil der Schuld beim Opfer, bei der Frau gesucht. Und so sind es denn auch heute, wie im Midrasch, die Frauen, die gegen sexuelle Gewalt von Männern gegenüber Frauen aufrufen.

So rufen sie in diesen Tagen, als Reaktion auf dlie Massenvergewaltigungen in Exjugoslawien, dazu auf, dass die in Kriegen erfolgte Vergewaltigung von Frauen als Kriegsverbrechen angesehen wird. Sie arbeiten aber auch in weniger spektakulärer Weise darauf hin, dass unsere Städte für Frauen wieder sicherer werden. Schliesslich setzen sie sich auch dafür ein, dass sexuelle Belästigung und die damit zusammenhängende Demütigung von Frauen durch Vorgesetzte am Arbeitsplatz, durch Psychotherapeuten oder durch Rabbiner gegenüber Frauen in Abhängigkeitssituationen, welche für die betroffenen Frauen einschneidende finanzielle, psychische und/oder gesellschaftliche Folgen haben können, nicht mehr als ein (von den Opfern gar noch provoziertes!) „Kavaliersdelikt“ behandelt wird.

Solange sexuelle Gewalt gegen Frauen und sexuelle Belästigung von Frauen nicht mit derselben Selbstverständlichkeit geahndet und verurteilt werden wie andere Verbrechen und Verfehlungen, solange bleibt auch unser Midrasch zu Chanukka leider aktuell.

Quelle: Die Frau im Tallit. Judentum feministisch gelesen, herausgegeben von Doris Brodbeck und Yvonne Domhardt, mit einem Vorwort von Eveline Goodman-Thau und Marie-Theres Wacker, Chronos-Verlag Zürich 2000.