Derech Erez geht der Torah voraus

Von Rabbiner Ezriel Tauber

Das Wort „Himmel“ im Eröffnungsvers der Thora heißt nicht einfach „Himmel“. Es beinhaltet auch alle geistigen Geschöpfe: Die Seele, die Engel etc. Im Gegensatz dazu beinhaltet das Wort „Erde“ alles Materielle, Temporäre und Endliche.

Obwohl die himmlischen Geschöpfe offensichtliche Vorteile gegenüber den Menschen haben, erzählt uns der erste Vers, dass beide, „Himmel und Erde“, die Geschöpfe von G“tt sind. Als solche sind sie beide so perfekt wie es nur sein kann. Trotz dieser Perfektion befand sich die Erde in einem latenten, ungeordneten Zustand: Und die Erde war chaotisch und leer, mit Dunkelheit über dem Angesicht der Tiefe… (Genesis 1:2).

Die Erde ist ein potenzieller Himmel. Sie ist eine wahre geistige Schatztruhe, voll mit himmlischen Möglichkeiten. Ihr Potenzial ist abgeschlossen und außer Reichweite, weil der Anfang chaotisch, dunkel und leer war. Der große Plan hinter diesem Entwurf war, der Menschheit die Gelegenheit zu geben, am Prozess teilzunehmen, bei dem das irdische, geistige Potenzial aufgedeckt wird, und es zu voller Fruchtbarkeit zu bringen. Es soll der menschliche Zweck sein, die dunkle irdische Leere mit himmlischer Substanz zu füllen, Ordnung ins Chaos zu bringen und die irdische Existenz zu einem Spiegelbild der himmlischen Existenz zu machen.

Wie wir erklären werden, hat Adam dies nicht nur nicht erreicht, sondern seine Sünde hat die Welt in ein noch größeres Chaos versetzt. Die Erde wurde eine wachsende Leere, eine Höhle. Es ist unsere Aufgabe, diese Leere auszufüllen und die Ordnung wieder herzustellen; die Erde gleich dem Himmel zu machen.

Um dies zu illustrieren, wollen wir uns zwei gleiche Bilder vorstellen. Eines ist ein Bild und das andere ist ein zerschnittenes Puzzle dieses Bildes. Das Bild (das nicht zerschnittene Puzzle) ist schön anzuschauen, der Betrachter hatte aber nichts zu seiner Existenz beigetragen; es ist ein fertiges Produkt. Er kauft das Bild und hängt es an einer Wand auf. Das zerschnittene Puzzle ist aber nicht nur zum Anschauen da, es kann demontiert und wieder zusammengesetzt werden. Derjenige, der es zusammensetzt, hat eine persönliche Befriedigung, vor allem wenn es ein schwieriges Puzzle war, bei dem der Zeitaufwand des Zusammensetzens sehr groß war. Er wird ein stolzes Gefühl wegen des Puzzles haben, das er nicht hätte, wenn er nur die Zeichnung besäße. Er hat selber Zeit und Ausdauer in das Puzzle investiert und dies macht den Unterschied.

So ist auch das Leben. Die Schöpfung von G“tt beinhaltet Himmel und Erde. Der Himmel ist das Bild; er ist da; Kunstwerk von G“tt und ein Mensch kann sich nur zurück lehnen und es bewundern. Die Erde ist ein „zerschnittenes Puzzle“, sie ist genau das gleiche Bild, aber durcheinander gemischt. Die Sünde von Adam machte alles noch chaotischer. Es war, als hätte er alle Puzzleteile aus der Schachtel in die Luft geworfen und sie in alle Ecken der Zimmers verteilt. Er verwandelte die Erde in einen Platz von tiefer Leere, in einen Platz, an dem G“tt (und manchmal seine Gerechtigkeit) verborgen zu sein scheint. Die menschliche Aufgabe ist es, diese Teile an ihren ursprünglichen Platz zurückzustellen und das irdische Bild zu einer perfekten Reflexion des himmlischen Bildes zu machen.
So wie im Himmel, so auf der Erde.

Weshalb den Anfang lernen?

Die Frage ist, wie wissen wir, welche Teile wohin gehören? Wie können wir unser Leben auf der Erde in Übereinstimmung zu den himmlischen Werten bringen? Die Antwort ist die Thora.

Thora heisst „lehren“, der Zweck der Thora ist uns zu „lehren“, wie man in Harmonie mit dem g“ttlichen Willen lebt. Es gibt deshalb 613 Gesetze; sie erzählen uns mindestens oberflächlich, wie wir aus dem zerschnittenen Puzzle unserer physischen Existenz eine einheitliche Reflexion des himmlischen Kunstwerks machen können.

Es stellt sich dabei eine Frage. Wenn es das Wichtigste ist, das Thoraleben mit den 613 Gesetzen zu leben, warum beginnt die Thora mit der Schöpfung, dem Garten Eden, den Geschichten von Adam, Noah, Abraham etc.? So interessant diese Passagen auch sind – aber ist denn die Thora ein Geschichtsbuch? Macht es wirklich etwas aus, ob wir wissen was in früheren Zeiten geschah? Wenn die 613 Gesetze so wichtig sind, warum zählt die Thora sie nicht einfach nacheinander auf (so etwa wie die zehn Gebote)? Mit anderen Worten, was ist der Zweck des Buchs Bereschit (Genesis) und dessen Geschichten als ein Teil der Thora?

Derech Erez kommt vor Torah

Mein Mentor, Rabbi Michoel Ber Weissmandl, s.a., stellte dazu folgenden Gedanken dar. Unsere Weisen lehren „Derech Erez kommt vor Thora“. Rabbi Weissmandl erklärte dies so: Wenn man keinen Derech Erez hat (wir übersetzen dies normalerweise mit „respektvollem Benehmen“), kann man keine Thora haben, unabhängig davon wie viel Kenntnisse von Büchern jemand hat. Wenn jemand in der Tat keinen Derech Erez hat, dann wird er wahrscheinlich die Thora für negative, destruktive Zwecke brauchen.

Rabbi Weissmandl fragte darauf: „Wenn Derech Erez eine Voraussetzung für Thora ist, woher erhalten wir diesen dann? Wer lehrte uns, damit anzufangen?“ Seine Antwort war, „Unsere Erzväter lehrten uns die Bedeutung von Derech Erez.“

Deshalb ist Genesis das erste Buch der Thora, auch bekannt als die Thora unserer Erzväter, der Originaltrakt Derech Erez (es gibt einen ganzen Trakt im Talmud, der die Bedeutung von Derech Erez erläutert). Das Buch Genesis hat relativ wenig Gesetze, denn das primäre Ziel ist es, uns zu helfen unsere grundlegende Thorapersönlichkeit zu erlangen. Im zweiten Buch der Thora (Exodus) fangen wir erst an, die Mehrheit der Gesetze zu lernen. Die Thora der Väter (die Thora, die uns Derech Erez lehrt) kommt daher vor der Thora von Moses (die Thora mit den 613 Gesetzen), denn Derech Erez ist eine Voraussetzung für Thora.

Sich selber kennen

Was genau ist Derech Erez? Derech Erez (wörtlich „der Weg des Landes“) wird am besten mit „Respekt“ übersetzt, denn es bezieht sich auf mehr als nur Höflichkeit, Anstand, Manieren oder Techniken, um Freunde zu gewinnen oder Leute zu beeinflussen. Derech Erez bedeutet Würde, andere mit Würde behandeln und, sogar noch wichtiger, sich selbst mit Würde zu behandeln. Die Suche nach Respekt beginnt zu Hause und deshalb ist Selbstrespekt der Kern von Derech Erez.

Selbstrespekt ist das Wissen, wer wir sind. Wir sind eine Schöpfung von G“tt, er schuf uns in seinem Ebenbild. Wenn wir wirklich verstehen, dass wir im g“ttlichen Ebenbild erschaffen wurden, können wir uns dann versagen, uns selbst mit Würde zu behandeln? Können wir es versäumen, andere mit Würde zu behandeln?

Stellen Sie sich einen unbezahlbaren Schatz vor, der in einem großen Safe eingeschlossen ist und einen Code bestehend aus einer Million Zahlen für die Öffnung benötigt. Stellen Sie sich vor, dass Sie 999.999 Zahlen korrekt wissen und nur eine einzige Zahl falsch haben. Diese eine falsche Zahl verhindert, dass Sie diesen Safe öffnen können. Jede einzelne Person ist ebenfalls eine kritische Zahl im g“ttlichen Schema. Jeder Mensch wurde für einen speziellen spezifischen Zweck erschaffen; jeder hat eine spezielle und einzigartige Funktion zu erfüllen, um diesen großen Schatz erschließen und die Welt erlösen zu können. Wenn eine Person in ihrer Aufgabe versagt, bleibt der ganze Schatz verschlossen. So lehrte uns auch Hillel: „Wenn ich nicht mache, was ich machen sollte, wer wird mich ersetzen?“

Wenn Sie dies wissen, wie können Sie Ihren Nächsten nicht gerne haben? Um so mehr, wie können Sie sich selbst nicht gerne haben? Rabbi Akiva sagte: „Liebe deinen Nächsten so wie dich, dies ist eine große Regel in der Thora.“ Sie können Ihren Nächsten nicht wirklich gerne haben, wenn Sie nicht wissen, was es bedeutet, sich selbst zu lieben.

Das Erste, das man sich merken soll, ist, sich selbst zu respektieren. Wer wirklichen Respekt vor sich selbst hat, wird niemals einen anderen Menschen klein machen. Andere klein machen bedeutet, dass man seinen eigenen Selbstwert noch nicht entdeckt hat. Man hat noch nicht verstanden, dass man im göttlichen Ebenbild erschaffen wurde.

Begräbnis, Boxkampf und die Suche nach Derech Erez

Das Prinzip vom Respekt vor dem Menschen geht soweit, dass man einen toten Körper begraben muss, unabhängig davon, ob dies ein Jude oder ein Nichtjude, ein Armer oder ein Reicher, der Präsident oder ein Kleinbauer, ein Heiliger oder ein Mörder war. Man darf keinen Körper unbegraben lassen. Wer dies tut, bringt Schande über „das Ebenbild G“ttes“. Das jüdische Gesetz verlangt deshalb auch von jüdischen Soldaten, mit den Körpern der Feinde so respektvoll wie möglich umzugehen. Ein anderes menschliches Wesen mag ein Feind sein; aber die Tatsache, dass es im Ebenbild von G“tt geschaffen wurde, bleibt bestehen. Wenn ein Mensch tot ist. gehört der Körper G“tt und muss deshalb mit Würde behandelt und in die Erde zurückgebracht werden, von wo G“tt ihn ursprünglich genommen hat.“

Wir müssen uns im Klaren sein, dass mangelndes Bewusstsein der angeborenen Göttlichkeit und Würde des menschlichen Wesens, das Gegenteil von Derech Erez. sehr lief in der heutigen Gesellschaft verankert ist. Stellen Sie sich einen Boxkampf vor, ein Ereignis, das normalerweise die Aufmerksamkeit von Millionen von Zuschauern auf sich zieht. Zwei Männer schlagen sich gegenseitig ins Gesicht, bis einer von ihnen bewusstlos umfallt. Je fester der Schlag ist, desto mehr applaudiert die Menge.

Könnten Sie sich eine heilige Person, zum Beispiel den Chafez Chajim, an einem Boxkampf vorstellen? Er würde beim Gedanken daran in Ohnmacht fallen. Gemäß dem Talmud wird jemand, der dem anderen einen Schlag gibt und ihm dadurch Beschämung verursacht, mit einer großen Geldsumme gebüßt. Die menschliche Würde und das göttliche Ebenbild wurden verletzt. Heutzutage schlagen sich Menschen während fünfzehn Runden ins Gesicht und es ist ein Medienspektakel mit internationaler Beachtung.

Sogar „nicht-gewalttätige“ Sportarten tendieren zu Hässlichkeit. Die Sehnsucht nach Sieg, nach absoluter Dominanz ist die Grundlage jeder Wettkampfart. Oft ist es nicht einmal der Sieg, der gesucht wird, sondern die Tatsache, dass der Verlierer beschämt wurde. Es gibt meistens bei den Fans ein sadistisches Vergnügen. Mit großem Jubel wird gefeiert, dass die Gegnermannschaft gedemütigt und besiegt wurde. Warum sind sie so aufgeregt? Weil der Ball im Netz gelandet ist; weil eine Mannschaft zwei Punkte mehr hat? Was ist das große Vergnügen dabei?

Dies ist nicht nur beim Sport so, sondern auch in der Politik. Die Schlammschlachten haben neue Dimensionen erreicht. Eine „gute“ Kampagne ist heute nicht gewonnen, wenn ein Kandidat seine Ansichten gut darstellt, sondern wenn er möglichst viele Beschuldigungen, ob wahr oder nicht, gegen seinen Opponenten bringen kann.

Die Ursache von all dem ist sehr einfach; die Menschen haben die Bedeutung von menschlicher Würde verloren. Sie haben die wahre Bedeutung von Derech Erez verloren. Im schlechtesten Fall versuchen sie aktiv, das g“ttliche Ebenbild zu erniedrigen. Wer in der modernen Welt lebt, sogar religiöse und sonst isolierte Juden, wird durch diesen generellen Trend beeinflusst. Wir müssen deshalb mehr denn je Derech Erez betonen.

Keine Thora ohne Derech Erez

Derech Erez kommt vor der Thora. Wenn man würdig für die Thora sein möchte und von den 613 Gesetzen der Thora profitieren will, muss man zuerst ein Leben von Derech Erez leben. Wird dies nicht erreicht, welche Religion praktiziert man in Wirklichkeit? Die wichtigste Lehre des Eröffnungsbuchs der Thora, der Thora unserer Erzväter, ist die Lehre, dass jeder Mensch, also auch Sie und ich, im Ebenbild von G“tt geschaffen wurde. Nur wenn man diese erste Lehre von Derech Erez – menschliche Würde und Selbstrespekt – lernt, ist man wirklich für die Fortsetzung bereit, nämlich die Thora von Moses.

Jedes Detail von jeder Geschichte im Buch Genesis ist für alle Juden äußerst bedeutsam, speziell heute. Die Beschreibung, wer der Schöpfer ist, wie die Welt entstanden ist, wie der Schöpfer den Menschen in seinem Ebenbild schuf, wie sich die menschliche Zivilisation entwickelte (wie die Menschen G“tt entdeckten und ebenso, wie ihm nicht gehorchten oder gegen G“tt rebellierten) etc. lehrt uns, wie wir wirklich den wahren Derech Erez entwickeln sollten. Ein sorgfältiges Studium des Buchs Genesis ist deshalb eines der besten Dinge, die man für sich selbst das ganze Jahr hindurch machen kann.

Aus dem Buch „So wie im Himmel, so auf der Erde“ von Rabbiner Ezriel Tauber. Das Buch ist im Jüfo-Zentrum Zürich erhältlich.