Das IV. Buch der Torah: beMidbar / Numeri

Einführung in das Buch Numeri

Von Rabbiner W.G. Plaut (Band IV. der „Tora in jüdischer Auslegung“)

Inhalt und Aufbau

Das vierte Buch der Torah, das „BeMidbar“ oder „Numeri“ genannt wird, ist geprägt von Geschichten, von Gesetzes- und Urkundentexten.

Die Geschichten setzen an der Stelle ein, an der das zweite Buch der Tora, Schmoth / Exodus, geendet hat. Das dritte Buch der Tora, vajikra / Levitikus, hatte den Erzählfluss unterbrochen und bestand — mit Ausnahme von Lev 16 – fast ausschließlich aus Gesetzestexten, ohne, dass ein Rahmen aus Geschichten erzählt wurde.

Das Buch Exodus endete mit dem Bericht über die Errichtung des Heiligtums am ersten Tag des Monats Nisan. Das Buch Numeri beginnt nun mit einer Musterung, die einen Monat später durchgeführt wird, fast genau ein Jahr nachdem die Israeliten aus Ägypten herausgeführt worden waren. Das Buch erzählt von den Jahren der Wüstenwanderung des Volkes. Allerdings werden nur Anfangs- und Endphase dieser Wanderung näher beschrieben. Die 38 Jahre dazwischen, in denen eine neue Generation herangewachsen ist, finden keinerlei Beachtung. Die biblische Erinnerung gewährt denjenigen keinen Platz mehr, die aus Ägypten gerettet wurden, sich aber der geschenkten Freiheit nicht würdig erwiesen und deshalb zum Tod in der Wüste verurteilt wurden.1

Das Gesetz wird im Allgemeinen anhand von Fallbeispielen mitgeteilt, die sich aus Einzelheiten der Erzählung ergeben, d.h. in der Form „kasuistischer“ Gesetze. Zum Beispiel bietet der Bericht über die Einweihung des Heiligtums Gelegenheit, die Pflichten und Rechte von Priestern generell festzuhalten. Von der Gesetzgebung für den Einzelfall, wie er an dieser Stelle geschildert wird, geht die Tora dann dazu über, das allgemein gültige Gesetz aufzustellen, das für alle Zeiten gilt.
Neben dem kasuistischen Recht kennt die Bibel auch das sogenannte „apodiktische“ Recht, das eine allgemein gültige, unbedingte Regel formuliert, zum Beispiel: „Ehre Vater und Mutter!“

Das Buch Numeri lässt sich in vier große Teile untergliedern.

1. Zahlen und Gesetze

Der erste Teil (Num 1,10-10,10) enthält Bestimmungen, die am Sinai verkündet wurden, sowie bevölkerungsstatistisches und rechtliches Material verschiedenster Art: von der Durchführung einer Volkszählung wird ebenso berichtet wie von einem Gottesurteil mit Bitterwasser; von Vorschriften für Opfergaben bis zum Einsatz silberner Trompeten. Außerdem wird von der Einweihung des Heiligtums nach seiner Errichtung erzählt.

2. Das wandernde Volk

Der zweite Teil (Num 10,11-20,1) schildert bedeutende Ereignisse der ersten Tage der Wüstenwanderung. Hervorgehoben sind die unterschiedlichen Rebellionen, vor allem der Aufstand von Korach, Datan und Awiram. Sodann wird vom Ende der alten Führungsriege berichtet: vom Tod Mirjams und Aharons, von der Verurteilung Mosches und der Erwählung Eleasars und Jehoschuas als den neuen priesterlichen und politischen Führern, die das Volk ins Land Kenaan bringen werden.

3. Die Bil’am-Erzählung

Der dritte Teil (Num 22,2-24,25) ist das „Buch über Bil’am“, das einigen Wissenschaftlern zufolge einmal ein eigenständiges Werk mit eben jenem Titel war.

4. An der Grenze zum versprochenen Land

Der letzte Teil (Num 25,1-36,13) beginnt mit Ereignissen kurz vor dem Einzug ins Land Kenaan: die Auszeichnung von Pinchas, eine erneute Volkszählung und die erste Landverteilung. Die Grenzen des verheißenen Landes werden gezogen und letzte Anweisungen vor der Überschreitung des Jarden erteilt.

Literarische Aspekte

Im Wesentlichen berichtet das Buch Numeri über das Ende jener Wanderung, die in Mizrajim oder – in einem weiteren Sinne – schon zur Zeit der Schöpfung begann. Alles zielt auf den Augenblick, in dem Israel endlich bereit ist, sein Erbe in Besitz zu nehmen. Wegen dieser und anderer Erwägungen wurde in der älteren Bibelwissenschaft die Ansicht vertreten, die ersten vier Bücher der Tora (Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri) hätten ursprünglich eine Texteinheit gebildet, einen „Tetrateuch“ („Vierbuch“), während die Bücher Deuteronomium, Josua, Richter, Samuel und Könige einen anderen in sich geschlossenen Komplex darstellten, das „deuteronomistische Geschichtswerk“. Dieser Kommentar übernimmt diesen grundsätzlichen Zugang, der im ersten Band in der allgemeinen Einführung in die Tora ausführlicher beschrieben wird. Hier findet man auch Erwägungen über die göttlichen Aspekte, die diesem Text zugeschrieben wurden, einen allgemeinen Überblick über die Bibelkritik und die wahrscheinlichen Epochen, in denen die verschiedenen Bücher entstanden.

Es wird im folgenden zwar immer wieder die kritische Analyse als eine wesentlichen Verstehenshilfe der Tora angewandt werden, dennoch wird der Text im gesamten Kommentar als literarische Einheit behandelt, nicht weil er immer aus einem Guss gewesen wäre (er war es nicht), sondern weil er bei der Endredaktion so behandelt wurde und weil seitdem die Menschen sich immer in dieser Weise dem Text der Tora näherten.

Welche historische Genauigkeit – im modernen Sinn – kann Numeri zugeschrieben werden? Die Frage sicher zu beantworten, ist nicht möglich, da die ganze Tora im Wesentlichen ein Dokument des Glaubens ist, genauer gesagt, Wirklichkeit als einen Aspekt göttlicher und menschlicher Interaktion begreift. Erinnerungen und Überlieferung von Ereignissen (was heute als historische Vergangenheit verstanden wird) verschmelzen in der Tora mit kultischen und symbolischen Aspekten. Hieraus bildete sich eine Sicht der Vergangenheit, wie sie hätte sein sollen und wie später von ihr geglaubt wurde, dass sie tatsächlich gewesen sei. Mythos und Legende haben auf diese Art und Weise beide ihren Teil dazu beigetragen, „Geschichte“ zu schaffen und zu formen.

Die Notwendigkeit, biblische Erzählung nicht in unserer, sondern in ihrer eigenen Begrifflichkeit zu verstehen, wurde überzeugend von George E. Mendenhall festgestellt:

„Die biblischen Erzählungen geben selten, wenn überhaupt jemals, eine Beschreibung des tatsächlichen Ereignisses, das da mit Worten geschildert wird…. Infolgedessen muss jede kleinste Information einer antiken Erzählung im Rahmen des gesamten Beweismaterials, das wir besitzen, daraufhin untersucht werden, ob sich nicht das Umfeld der Ideen und Assoziationen finden lässt, das dieses Bruchstück ereigneter Geschichte im antiken Leben selbst besaß. Deshalb ist die Methode der vergleichenden Textuntersuchung nicht nur erlaubt, sondern zwingend erforderlich. Schließlich beruht jede Bibelübersetzung in heutige Sprache auf der unbewussten Vor-Annahme, dass das Bedeutungsfeld eines antiken Wortes oder einer Handlung stark genug mit dem Bedeutungsfeld heutiger Worte übereinstimme, um eine Übersetzung zu ermöglichen.
Das Ausmaß unserer Selbsttäuschung bei dieser Vor-Annahme entdecken wir erst dann, wenn wir uns bis dahin unbemerkter Bedeutungs-unterschiede in beiden Vokabularen bewusst werden.
Biblischer Fundamentalismus, ob jüdisch oder christlich, kann von der Vergangenheit nicht lernen, weil er in vieler Hinsicht eine Verteidigung aktuell gültiger religiöser Vorstellungen als einzigen Zweck der biblischen Erzählung zuweist. Diese muss somit Ideen vergleichsweise jungen Ursprungs stützen, Ideen, die im Allgemeinen nichts mit der ursprünglichen Aussagebedeutung und -absicht zu tun haben, weil der Kontext – hier wie dort – vollkommen verschieden ist.“2

Die literarischen Aspekte von Numeri werden eingehend in einer Abhandlung von William W. Hallo behandelt.

Religiöse Vorstellungen

Der Schauplatz des Buches ist im Wesentlichen die Wüste, d.h. die Sinaihalbinsel und besonders deren östlicher Teil, der Negev. Die Gegend ist karg, aber für Gott ein notwendiger Ort für Israels spirituelle Entwicklung. Die Wüste ist der Ort, wo die Verfehlungen des Volkes bestraft werden, wo seine „Unheilsgeschichte“ es auf seine „Heilsgeschichte“ vorbereiten wird. Dies ist das „Wüstenmotiv“, das dem Buch Numeri zugrunde liegt.3

Israel ist Gottes Volk und deshalb unterliegt es speziellen Verpflichtungen und Gesetzen, die seine Heiligkeit schützen sollen. Das Buch Numeri berichtet uns, wie Israel seinen göttlich gesetzten Zielen noch nicht gerecht zu werden vermag, wie Gott seines Murrens wegen, seiner Rebellionen und unterschiedlicher Übertretungen wegen immer wieder von seinem Volk enttäuscht wurde. Doch obwohl Einzelne bestraft und eine ganze Generation zum Tod in der Wüste verurteilt wurde, wird der Bund nicht gekündigt. Das Heiligtum, der Ort der Erscheinung Gottes, blieb in der Mitte des Lagers und Gott hörte niemals auf, seine Erwählten zu leiten und zu beschützen. Die Zeit der Wanderungen mag als Probezeit des Vertrauens angesehen werden. Am Ende des Buches scheint die Vision eines neuen Volkes auf, welches das Heilige Land in Besitz nehmen wird als ein heiliges Volk.

Name

Das lateinische Wort „Numeri“ (Zahlen) ist die Übersetzung des griechischen Buchtitels „Arithmoi“, die im Hinblick auf das ausgedehnte statistische Material zu Beginn des Buches gewählt wurde.

Möglicherweise ist dieser Name mit einer älteren hebräischen Bezeichung „Chumasch haPikudim“ verwandt.4 Gelegentlich wurde das Buch auch mit seinem ersten hebräischen Wort „Sefer vajedaber“5 bezeichnet. Sein gängiger hebräischer Name ist „Sefer beMidbar“, nach dem fünften und sechsten Wort im ersten Kapitel „beMidbar Sinaj“ (in der Wüste Sinai) – ein passender Titel für ein Buch, welches die wichtigsten Ereignisse auf dem Weg vom Sinai bis zur Ebene Moaw schildert. Wann das Buch seinen eigenständigen Charakter erhielt, darüber streiten sich die Gelehrten bis heute.

1) Es sei darauf hingewiesen, dass die Zahl 38 Teil des biblisches Systems ist, das die symbolische Zahl 40 als Zahl der Jahre der Wüstenerfahrung annimmt. H.H. Rowley zeigte, dass die Gesamtdauer der Wanderung kaum mehr als zwei Jahre betragen haben kann, siehe „From Joseph to Joshua“, London 1950, S. 133-164.
2) G.E. Mendenhall, The Tenth Generation, Baltimore/ London 1973, S. 105-106.
3) Siehe Shemaryahu Talmon, Art.: „The Desert Motif“ in: Alexander Altmann (Hg.), Biblical Motifs, Cambridge Mass. 1966, S. 31-63. Talmon nennt das Buch Numeri (mit Ausnahme der Kapitel 26-30) das „Buch von Israels Versagen“ (46).
4) Siehe Mischna Menachot 4,3. Nur ein anderes Buch des Pentateuchs hat einen bestimmten Name unabhängig von seinen Anfangsworten: Torath Kohanim (Levitikus).

5 )Siehe Raschi zu Exodus 38,26.

Bestellen? Die Tora, Hebräisch-Deutsch, 5 Bde.: Bd.1, Genesis / Bd.2, Exodus / Bd.3, Leviticus / Bd.4, Numeri / Bd.5, Deuteronomium