Be’cha’aloteicha: „Und es geschah, wenn die Lade aufbrach …“

Und es geschah, wenn die Lade aufbrach, da sprach Moscheh:
Erhebe dich, Ewiger, dass sich zerstreuen deine Feinde und deine Hasser fliehen vor deinem Antlitz.
Und wenn sie sich niederliess, sprach er:
Kehre ein, Ewiger, bei den Myriaden der Haufen Israels.
(10, 35 – 36)

In der Torarolle und im gedruckten Pentateuch werden diese beiden Verse durch ein spezielles Symbol in Form eines umgedrehten grossen „Nun“ eingeschlossen. Der Talmud schenkt dieser Kennzeichnung Aufmerksamkeit:

Unsere Rabbinen lehrten: „Und es geschah, wenn die Lade aufbrach, da sprach Moscheh“ – der Ewige, gepriesen sei Er, markierte diese Passage am Anfang und am Ende.
(Schabbat 115b)

Was ist die Erklärung für diese Kennzeichnung und was bedeutet das umgedrehte „Nun“?
Der Sifrei stellt fest:

Es wurde ober- und unterhalb mit Punkten markiert.

Daraus kann geschlossen werden, dass die gesamte Passage ober- und unterhalb mit Punkten markiert war, d. h. von Anfang bis Ende, so wie einzelne Wörter in der Tora mit Punkten geschmückt sind. Diese Passage wurde mit Symbolen markiert, um auszudrücken, das auf sie hingewiesen wird. Um das „Nun“ (der erste Buchstabe und die Abkürzung des hebräischen Wortes „hinweisen“) nicht irrtümlich für einen Buchstaben zu halten, wurde es umgedreht. Aber warum wird gerade diese Passage markiert? Wir zitieren hier die Erklärung von Rabbi Judah Hanasi, dem Herausgeber der Mischna:

Weil es ein eigenes Buch darstellte.
Denn R. Shemuel bar Nachmani sagte im Namen von Rabbi Jochanan: „Die Weisheit hat ihr Haus erbaut, hat ihre sieben Säulen ausgehauen“ (Sprüche 9, 1) – dies sind die sieben Bücher des Pentateuch; gemäss wem? Gemäss Rabbi Judah Hanasi.
(Schabbat 116a)

Mit anderen Worten: diese Passage stellt ein eigenes Buch dar und teilt Bamidbar in drei Bücher. Das macht zusammen mit den anderen vier Büchern der Tora sieben. Aber es bleibt uns noch immer zu entdecken, warum ausgerechnet diese Stelle so besonders bekennzeichnet wurde. Sehen wir uns zuerst die beiden Verse an: Moses‘ Anrufung des Ewigen, sich zu erheben, wenn die Lade aufbricht und einzukehren, wenn sie sich niederlässt, erweckt den Eindruck, Moses habe das Aufbrechen und Niederlassen der Lade bestimmt. Dem widerspricht jedoch das vorher Erwähnte, dass sie nur auf das Gebot des Ewigen vor ihnen herzog.
Die Sifrei weisen auf diesen Punkt hin:

„Da sprach Moses: erhebe dich Herr“, und an anderer Stelle heisst es: „auf Befehl des Ewigen liessen sie sich nieder, auf Befehl des Ewigen brachen sie auf.“ Wie können diese beiden Verse mit einander in Einklang gebracht werden? Womit kann dies verglichen werden? Mit einem König, der in Begleitung seines besten Freundes auf Reisen ging. Wenn er seine Reise aufnimmt, sagt er: ich breche nicht auf, bis es mein Freund befiehlt, wenn er anhält, sagt er: ich werde nicht halten, bis mein Freund herbeikommt. Dies bringt diese Verse in Einklang: „Da sprach Moses: erhebe dich Herr“ und „Auf Befehl des Ewigen …“

Dieser Midrasch illustriert anschaulich den höchsten Grad an Gemeinschaft und Nähe zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer und die vollständige Gleichheit des Zieles. Hirsch bemerkt, Moses Anruf „Erhebe dich“ folge unmittelbar der vollendeten Tat, in Übereinstimmung mit dem von Rabban Gamaliel in Pirkei Awot ausgedrückten Prinzip:

Mache Seinen Willen deinen Willen

Wer sind die „Feinde“ und die „Hasser“, die als Resultat des göttlichen Sich Erbens zerstreut werden? Hier die Antwort von Sifrei:

Hat derjenige, der sprach und die Welt erschuf, Feinde? Aber die Verse sagen uns, wer Israel hasst, hasst den Ewigen. Ähnlich heisst es (Exodus 15): „Und in der Grösse deiner Hoheit hast du niedergerissen deine Gegner.“ Hat der Allmächtige Gegner? Ähnlich heisst es in Psalm 74, 23: „Vergiss nicht das Geschrei deiner Feinde, deiner Widersacher Empörunfg brandet ständig empor.“ Warum? Ähnlich heisst es in Psalm 83, 3: „Denn siehe, wie toben doch deine Feinde; und die dich hassen, sie erheben das Haupt.“ Warum? „Sie planen Böses wider dein Volk.“ Und so heisst es auch in Secharja 2: „denn wer euch anrührt, rührt meinen Augapfel an.“ Es heisst nicht „den Augapfel“, sondern „meinen Augapfel“, der Augapfel des Ewigen.

Die Feinde Israels sind mit den Feinden des Ewigen identisch. Ob wir diesen Titel wert sind oder nicht: die es auf unsere Zerstörung abgesehen haben, betrachten uns als die Standartenträger der Wahrheit und Gerechtigkeit und als Repräsentanten des göttlichen Rechts. Und daher verfolgen und hassen sie uns.

In seinem Kommentar zu unserer Passage bemerkt Hirsch, dass Moses wusste, Feinde würden sich gegen die Tora erheben, sobald sie uns gegeben wurde. Ihre Forderungen nach Gerechtigkeit und Selbstlosigkeit erweckten die Gegnerschaft von Aggressoren und Tyrannen und standen ihren Wünschen im Weg. Der Ruf der Tora nach Heiligkeit würde nicht nur Hass erwecken, sondern auch aktive Verfolgung.
Der abschliessende Vers „Kehre ein, Ewiger, bei den Myriaden der Haufen Israels“ präsentiert eine syntaktische Schwierigkeit. Das hebräische Zeitwort „shuv“ ist normalerweise intranisitiv und bedeutet „zurückkehren“. Hier folgt die Formulierung „bei den Myriaden Israels“ als ein direktes Objekt. Die deutsche Übersetzung geht über diese Schwierigkeit hinweg, indem sie die Präposition „bei“ einschiebt, die im hebräischen Original nicht vorkommt. Andere Kommentatoren geben „shuv“ die transitive Bedeutung von „zurückbringen“. Der Kommentar „Da’at Zekenim“ paraphrasiert den Vers so:

Möge es den Myriaden Israels gewährt sein, an ihren Ort zurück zu kehren und möge keiner fehlen. „Zurückkehren“ steht hier im Sinn von „zurückführen“ wie im Vers „So wird der Ewige, dein Gott, zurückführen deine Gefangenen“ (Deut. 30, 3).

Andere interpretieren das Verbum „shuv“ im Sinn von „rasten lassen“:

Lasse die Myriaden Israels rasten, damit sie nicht mehr gestört werden.
(Ibn Ezra)

Auch Sforno verwendet es in diesem Sinn, aber intransitiv:

Raste, Ewiger, unter den Myriaden Israels –
lasse deine Schechina rasten in unserer Mitte.

Sforno erklärt auch die Zahlen, wörtlich: „tausende“ beziehe sich auf die tatsächliche Zahl der jüdischen Männer, Frauen und Kinder der damaligen Zeit. Hirsch jedoch zieht die Aufmerksamkeit auf die unübliche Ordnung der hebräischen numerischen Beschreibung, in der die grössere „zehntausende“ der kleineren Einheit „tausend“ vorangeht, statt „ein tausend zehntausend“ zu lauten (siehe Genesis 24: „Du werde zu tausend Myriaden …“). Er interpretiert daher, dies beziehe sich auf die Myriaden, die in Zukunft die Nation bilden werden. Mit anderen Worten, die Myriaden, die zu den bereits existierenden tausenden dazukommen. Daher ist der Vers zeitlos und nicht auf die Zeit der Wüstenwanderung begrenzt. Der, der sich erhob, seine Feinde zu zerstreuen und das Böse von der Erde zu entfernen, würde abermals inmitten der Myriaden Seiner Kinder und der Nachfolger aus allen Völkern wohnen. Diese Passage, die unsere Weisen als eigenes Buch betrachteten, spielt auf die Zeit an, die der Prophet Secharja (2, 15) so beschreibt:

Und es werden sich viele Völker dem Ewigen anschliessen an jenem Tage, und sie werden ihm ein Volk sein. Aber er wird in deiner Mitte wohnen …

Haftara zu Be’cha’aloteicha: Secharja II, 14 – IV, 7