Die 13 Regeln zur Auslegung der Lehre nach Rabbi Jischma’el

Rabi Jischmael amar – Als Gott durch Mosche das bereits mündlich dem Volk in voller Ausführlichkeit kundgegebene Gesetz niederschreiben ließ, ließ er diese Schrift nach dreizehn Grundregeln abfassen, die es ermöglichten, das schriftliche Wort in solcher prägnanten Kürze herzustellen, dass durch Wiederabwendung dieser gleichzeitig mit der Schrift überlieferten Regeln der ausführlichere Sinn des Gesetzgebers aus dem schriftlichen Wort erforscht werden kann.

Diese Regeln sind:

1. Kal vaChomer

Die Gegenstände des Gesetzes sind je nach den für sie gegebenen Bestimmungen kalim leichter, oder chamurim schwerer. So ist z.B. Jom Tow, an welchem die Bereitung von Ochel Nefesch erlaubt ist und dessen Verletzung nicht mit Karet und Sekilah verpönt ist, leichter als Schabbat, an welchem Ochel Nefesch nicht bereitet werden darf, und auf dessen Verletzung Karet und Sekilah steht. Jom Tow ist daher Kal und Schabbat ist Chamur.
Eine Gestattung, die das Gesetz für Schabbat ausspricht, gilt daher stillschweigend auch für Jom Tow, und eine Untersagung, die für Jom Tow ausgesprochen ist, gilt stillschweigend auch für Schabbat. Dieser Schluss vom Leichten auf das Schwere und vom Schweren auf das Leichte heißt: Kal vaChomer.

2. Gserah schavah

Wenn überliefert ist, dass zwei Gesetze, bei welchen der gleiche Ausdruck gebraucht ist, sich gegenseitig erläutern, z.B. der bei Pessach und Tamid gleichlautende Ausdruck „b’Moedó“ (s. Bamidbar 9, 2; 28, 2), womit gegeben ist, dass beide „docheh Schabath veTumah“ (d.h. sowohl Schabath als auch Unreinheit verdrängend sind), dass also beide sowohl am Schabbat als auch, wenn nicht anders möglich, wie beTumath Meth (im Eintreten eines Todesfalls), zu vollziehen sind.

3. Binjan Aw

Damit, dass Dewarim 19, 15 um einen Zeugen zu bezeichnen bei „Ed ehad“ ausdrücklich „ehad“, beigefügt ist, ist der Lehrsatz gegeben (seh banah Aw), dass überall, wo „Ed“ ohne diese Beifügung steht, es nicht Zeuge, sondern Zeugnis bedeutet, welches mindestens auf zwei Zeugen beruhen muss.

4. Chlal uFrat

Wenn auf einen Kollektivbegriff, auf einen Gattungsbegriff, z.B. „Behemah“ (Tier), ein darin enthaltener Teilbegriff, z.B. „Bakar“ (Rind) genannt ist (Wajikra 1,2), so ist das Gesetz nur auf diesen Teilbegriff beschränkt: „Ejn b’Chlal mah scheb’Frat“ (es ist nicht in der Gesamtheit, was in der Einzelheit). Das Gesetz vergegenwärtigt den Gattungsbegriff und nennt dann den Teilbegriff, um damit zu sagen, dass aus der ganzen Gattung nur die genannten Arten gemeint sind.

5. Prat uChlal

Wenn auf den Teilbegriff der Gesamtbegriff folgt, z.B. „Hamor o Bakar veChol Behemah“ (Esel und Rinder und alles Vieh), (s. Schemot 22,9), so hat es die entgegengesetzte Wirkung und schließt alles ein (Klal mosif äl haPrat).

6. Chlal uFrat uChlal

Wenn aber zuerst auf den Gesamtbegriff ein Teilbegriff und dann wieder ein Gesamtbegriff folgt, so wird der Teilbegriff zu einem Gesamtbegriff erhoben und schließt alles ein, was die wesentlichen Merkmale des Teilbegriffes hat. Z.B. Dewarim 14,26 „…für alles das deine Seele gelüstet, für Rinder und Schafe, Wein und anderes Getränk, überhaupt alles, was deine Seele wünscht“…

„Alles das deine Seele gelüstet“, ist ein umfassender Gesamtbegriff, „Rinder und Schafe, Wein und anderes Getränk“ sind Teilbegriffe, „überhaupt alles, was deine Seele wünscht“ ist wieder Gesamtbegriff und lässt den Teilbegriff zu dem gemeinsamen Begriff: organische Erzeugnisse der Erde erheben, somit alles einschließen, was die wesentlichen Merkmale dieses Begriffs hat.

7. Chlal hazarich l’Frat

Wenn der Gesamtbegriff zu seiner begrifflichen Erläuterung den ihm folgenden Teilbegriff benötigt, so hat es nicht die auf den Prat (Teilbegriff) beschränkende Wirkung eines Klal uFrat (Pkt. 4) z.B. „vekisahu beAfar“ (und er bedecke es mit Erde) (Wajikra 17, 13), wo der Begriff lechasoth (bedecken) die Erläuterung durch beAfar (mit Erde) erhält, um zu verdeutlichen, dass nicht ein bloßes Zudecken mit Deckel und dgl., sondern ein solches Decken gemeint ist, wobei der zu deckende Stoff mit dem Deckenden sich völlig mischt. Ebenso wenn der vorangehende Prat des folgenden Klal zu seiner begrifflichen Erläuterung bedarf, hat es nicht die Wirkung eines Prat uChlal (Pkt.5).

8. Chal Dawar schehajah biChlal

Z.B. das Feueranzünden am Schabbat war unter allen verbotenen Melachot mitbegriffen und ist in Schemot 35,3 als ein besonderes Verbot hervorgehoben, um für das Gesamtgesetz des Issur Melachah (Arbeitsverbot) am Schabbat die Bestimmung zu lehren, dass sich die Schabbatheiligung in jeder einzelnen verbotenen Melachah (Arbeit) wiederholt, so dass wenn jemand aus Fahrlässigkeit, Bischgagah, mehrere Melachot am Schabbat geübt, er für jede Melachah ein besonderes Chatat zu bringen hat. Der Chiluk Melachoth (Aufteilung der einzelnen Tätigkeiten) soll für die Gesamtregel lehren.

9. Chal Dawar schehajah biChlal… beInjanó…

Z.B. die Schchin-Erkrankungen (Wajikra 13,18-24) waren unter die zuvor besprochenen Haut- und Fleischerkrankungen einbegriffen, sind nun aber zur besonderen Besprechung hervorgehoben und es wird ihnen die Kula, die Erleichterung erteilt, dass sie (V. 23.28) sofort nach der ersten Woche, wenn sie unverändert geblieben, für rein zu erklären sind, während die andern mit ihnen verwandten Erkrankungen noch eine zweite Woche abzuwarten haben (5). Da diese Krankheitszeichen somit in Kula-Richtung von den andern herausgehoben sind, kann auch auf sie nicht die bei ihnen nicht ausgesprochene Chumra (s. V. 15) übertragen werden.

10. Chal Dawar schehajah biChlal… scheló beInjanó…

Z.B. die Erkrankungen im Kopf- und Gesichtsbereich (Rosch veSakan) (Wajikra 13, 29) sind darin von den andern Nega’im (Erkrankungen) völlig verschieden, dass sie nicht durch Sa‘ar Lawan (weisses Haar), wohl aber durch Sa‘ar Zahow (goldenes Haar) (V. 30) Tame (unrein) werden, während bei anderen Nega‘im (V. 3) Saar Lawan Tumah (Unreinheit) bewirkt, Sa‘ar Zahow aber wirkungslos ist. Auf sie ist daher in keiner Richtung aus dem Kapitel der anderen Nega‘im etwas zu übertragen.

11. Dawar schehajah biChlal… beDawar chadasch…

Z.B. Ascham Mezora ist dadurch von anderen Aschamot durch eine neue Bestimmung gegensätzlich unterschieden, dass von seinem Blut, statt auf den Misbeach (Altar), an Bohen Jad (Daumen) und Bohen Regel (Großer Zeh) (Wajikra 14, 14) gegeben wird. Daher bedurfte es K.14, V.13 der ausdrücklichen Erklarung: „…er schlachte hernach das Schaf …am Heiligen Ort“, dass im übrigen das Ascham Mezora ganz wie die andern Opfer zu behandeln ist; sonst hätte man meinen können, dass durch das Dawar Chadasch (die Neuerung) es auch von sonstigen Ritualvorschriften in Bezug auf die Altaropfer ausgenommen sei.

12. Dawar halamed meInjanó

z.B. aus dem Zusammenhang mit „lo tirzach, lo tinaf“ (morde nicht, ehebreche nicht), die mit Todesstrafe belegte Verbrechen sind, wird auch das lo tignow (stehle nicht) nicht auf Gelddiebstahl, sondern auf Personen-Diebstahl bezogen, der auch mit dem Tod bestraft wird. Dawar halamed miSofó z.B. aus der Bestimmung in vajikra 14,45, ist das in diesem Kapitel besprochene Haus (V. 34) nur auf ein solches zu beschränken, das aus Stein, Holz und Erde besteht.

13. Schnej Khetuwim hamach’hischim seh et-seh… ad scheh jawo haKatuw haschlischi…

Diese Regel nimmt Bezug auf den Fall wo die eine Aussage der anderen widerspricht, bis eine dritte Aussage beide erläutert. Z.B. in Schemot 20,19 heißt es: Ihr habt gesehen, dass vom Himmel Ich mit euch gesprochen, dagegen K. 19, V. 20: Gott ließ sich auf den Berg Sinai hinab, auf den Gipfel des Berges. Dewarim 4,36 gleicht diesen Widerspruch aus mit den Worten: Vom Himmel hat Er dich Seine Stimme hören lassen, um dich in das Band Seiner Zucht zu nehmen, und auf der Erde hat Er dich Sein großes Feuer sehen lassen, und Seine Worte vernahmst du aus dem Feuer.

„Sei es der Wille vor dir, Gott, unser Gott und unserer Väter Gott, dass der Tempel bald, in unsern Tagen, gebaut werde, und gib unser Anteil an Deiner Lehre, dass wir dort Dir in Ehrfurcht dienen wie in Tagen der Vergangenheit und früheren Jahren“.

Wir schließen auch diese Betrachtung der 13 Regeln des Raw Jischma’el zur Torah-Auslegung mit einem Wunsch, mit dem wir wiederholt Abschnitte unserer Gebete schließen. — Aus unserem heutigen Gottesdienst, der doch nur ein schwacher Nachhall des von Gott im Tempel zu Jeruschalajim gestifteten ist, sehnen wir uns danach, die Zeit zu erleben, in welcher derselbe in der Gottesstadt wiederhergestellt sein wird. Wir bitten aber, dass Gott uns beistehen möge, damit wir jetzt und in jeder Zeit in Erkenntnis und Erfüllung Seines Gesetzes die uns von Ihm beschiedene Lebensbestimmung, jeder nach seinen Kräften und Anlagen, erreichen mögen.
Dann wird auch die Wiederherstellung des Tempels uns nur zu einer volleren Lösung unserer Gott dienenden Aufgabe führen. Hier, am Schluss des unsere eigentliche Tefihlah (Gebet) einleitenden Abschnittes, ist dieser Wunsch um so geeigneter, da wir, uns sofort nach Birkat Hatora unser Tora-Lernen zu betätigen, das Gesetz über das tägliche Opfer aus der schriftlichen Lehre (Parschat Tamid), einen Abschnitt aus der mündlichen, die Opferhandlungen betreffenden Mischna, gelesen haben, dem sich nur noch eine Baraita, als den Schlüssel zur ganzen Tora Schebeal Peh enthaltend angeschlossen hatte. Der Wunsch nach der wiederherzustellenden wirklichen Awodah im Tempel und der vollen Lösung der von uns erwarteten Torapflege war damit gegeben.

Nach dem Sidur nach Rabbiner Samson R. Hirsch
Morascha Verlag, Buchhandlung Zürich