Altes und neues Wunder

Vorbemerkung: Rabbi Meïr, einer der bedeutendsten Tannaiten (Lehrmeister der Mischna), verschmähte es nicht, Tora zu lernen bei dem Häretiker Ascher – alias Elischa ben Abuja, ebenfalls ursprünglich ein Tannaiter, der aber infolge persönlicher tragischer Erlebnisse vom Judentum abgefallen war.

»Ich übernehme von meinem Lehrmeister nur den essentiellen Wahrheitskern, aber die äußere unwesentliche Schale beachte ich nicht.« So erklärt Rabbi Meïr seinen eigenartigen Studiengang.

In diesem Sinne möchte ich von dem großen Anti-Judaisten Sigmund Freud das Grundprinzip vom überwältigenden Einfluß des Unterbewußtseins auf die menschliche Persönlichkeit akzeptieren, aber ohne die materialistische Auffassung von der Seele als einem kausal prädestinierten restlos determinierten Mechanismus. Nur so erklärt sich unter anderem die elementare ursprüngliche Verbundenheit des jüdischen Volkes, einschließlich der vom Glaubenszentrum entferntesten Mitglieder, zum Pessach-Fest.

Mit traditionellem Nationalgefühl kommen wir hier als Erklärung nicht weiter. Vielmehr muß man annehmen, daß auch der – scheinbar – ungläubige Jude zutiefst in seinem Innern von der Wahrheit der jüdischen Glaubenslehre durchdrungen ist: von der übersinnlichen wunderbaren Existenzgrundlage des jüdischen Volkes. Unser surviving während der sogenannten vier Exile – Arba Galujot – spottet jeder natürlichen Erklärungsmethode, wie das Überleben im ägyptischen Exil – ein Holocaust en Miniature: unter anderem wurden ja alle neugeborenen Knäblein im Nil ertränkt!

Die Midrasch-Chronik berichtet uns auch von einer schwangeren Mutter, welche ihrem Mann bei der unmenschlichen Fronarbeit helfen wollte, um ihn vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Zur Strafe für diese ‚Unbotmäßigkeit‘ erhielt sie vom Fronvogt einen derartigen Schlag, dass sie auf der Stelle abortierte. Sie durfte aber die Zwangsarbeit nicht unterbrechen. Der Fötus fiel in den frischen Lehm und wurde in einen Ziegelstein gebacken. (Diesen Ziegelstein, so berichtet der Midrasch weiter, habe unter den Füßen der himmlischen Majestät sichtbar geschwebt während der g’tlichen Offenbarung der zehn Gebote am Berge Sinai!)

Instinktiv blieben alle jüdischen Individuen verbunden, wieweit sie sich auch offiziell von der jüdischen Glaubenslehre entfernt haben mochten – im Unterbewußtsein gibt es kein Entkommen von der Verbundenheit mit dem traditionellen Glaubensgrundsatz. Und so sind wir in jeder Generation Zeugen eines zweiten Pessach-Wunders, am Pessach wird er durch unsichtbare und unzerreißbare Bande zum traditionellen Pessach-Fest mit allen seinen Vorschriften und Regeln angezogen und mit ihm verhaftet. Dies ist nach den Wundern des Auszuges die Erlösung eines ganzen Volkes aus der Knechtschaft, Errettung vor dem sicheren Völkertod – ein zweites Pessach-Wunder, über die Jahrtausende des Exils und der Diaspora hinweg war das Volk zerstreut über viele Erdteile – arba kanfot ha-olam. Aber überall wo Juden sich auch angesiedelt haben, sobald die Pessach-Zeit naht, erwachen – fast möchte ich sagen, wie ein urhafter Instinkt – die Sehnsucht und der unwiderstehliche Wunsch, das Fest der Erlösung gemäß der uralten Tradition zu feiern.

Wie gesagt, das zweite Pessach-Wunder: Die jahrtausendalte und dennoch ewig junge lebendige Freude an der Begehung des Pessach-Festes auch seiten der entferntesten säkularen Kreise unserer Nation. Geheimnisvolle Strahlen, die aus dem Urgrund der jüdischen Seele – tief aus den Unterbewußtsein – zu Tageslicht des Bewußtseins hervorbrechen, bringen die verlorenen Söhne zurück – volens oder auch nolens!

Wir haben es ja schon ganz weit gebracht. Unsere diese Welt zählt bereits 5748. Was hat unserer Generation – Bürger des Jahres 1988 – das Pessach-Fest an aktuellem Gedankengut zu vermitteln? Die menschliche Geistesgeschichte stellt eine Linie dar, eine Komponente aus den divergierenden Kräften von Statik und Dynamik. Das statische Element stellen die Grundereignisse dar: Schöpfung, Erlösung und Offenbarung. Es ergeht aber an jede neue Generation das geistig-sittliche Postulat, alle seelischen religiösen Aktivitäten täglich in gleichwie neugeborener Jugendfrische zu begehen. »Bechol jom jihju beenecho kachadoschim«. Die Mizwot – die g’tlichen Tatgebote – dürfen niemals wie ein altes Testament aufgefaßt werden, sondern wie ein neues taufrisches Gesetz.

(Der Ausdruck ‚Altes Testament‘ für unsere Bibel stammt wohl von [übel] wollenden christlichen Theologen).

Viele Einzelvorschriften im Zusammenhang mit dem Pessach-Fest realisieren oder symbolisieren diese dynamisch jugendliche Grundhaltung: »Und so sollt Ihr das (Pessach-Lamm) essen: Den Gürtel um die Lenden geschnallt, die Schuhe angeschnürt, den (Wander-) Stab in der Hand, eßt es (schnell) am offenen Feuer gebraten, denn es ist ja ein Pessach-Opfer für Ihn!«

Auch die Zubereitung der Mazzot deutet auf den Begriff von hingebungsvoller Eilbereitschaft: Die Mazzot müssen in behender Geschicklichkeit gebacken werden – möglichst soll die ganze Prozedur von A bis Z nur 18 Minuten dauern. »Der erste Nissan ist kalendarisch Neujahrstag für die Regierungsjahre der jüdischen Könige.«

Zusammenfassend kann gesagt werden: Die g’tlich inspirierten Propheten sehen das Verhältnis Israels zu seinem Schöpfer unter dem Gleichnis eines Liebesverhältnisses von Braut zu Bräutigam. Bekanntlich ist die Fest-Megilla von Pessach Schir ha-Schirim (Lied der Lieder), welches durchwoben und durchzogen ist von der Schilderung einer glühendheißen Liebesbeziehung eines jugendlichen Brautpaars.

So kann man mit Berechtigung definieren: Das Verhältnis Israels zum Weltenlenker beruht auf opferwilliger Liebeshingabe – die Geburtsstunde der jüdischen Nation bringt in seinen Einzelvorschriften und Grundgedanken diese erhabenen Ideen zum Ausdruck, wie es auch der Prophet Jesaja ausdrückt: »So wie sich freut der Bräutigam mit seiner Braut freuen wird sich freuen mit Dir (Israel) Dein Herr«. Ahawat klulotajich: im Liebesüberschwang einer Braut bist Du mir nachgefolgt.

Quelle:  © Chaim Frank (Hrsg.), Rabbiner Pinchas Paul Biberfeld: Kommentare. Biographische Notizen, Erinnerungen und Anekdoten; München, 1998.