Fastentage als nationale Trauertage

Von Rabbiner S.Ph. De Vries

Schon die Bibel erwähnt Fastentage als nationale Trauertage. Sie wurden eingeführt und akzeptiert, nachdem das erste Staatsgefüge zusammenbrach.

Die größten Unheilstage, die Ablauf und Umfang der nationalen Heimsuchungen veranschaulichen, gelten seither als Trauertage. An diesen Fastentagen vereinigte sich die Reue mit der Buße. Und zwar waren es:

  • der Tag, an dem König Nebukadnezar, der Babylonier, die Belagerung von Jerusalem aufnahm: am 10. Tewet;
  • der Tag, an dem die Babylonier eine Bresche in die Mauern Jerusalems schlugen: am 17. Tammus;
  • der Tag, an dem Jerusalem und der Tempel fielen: am 9. (und 10.) Aw;
  • der Tag, an dem der Statthalter Gedalja ermordet wurde, woraufhin auch der armselige Rest der Bevölkerung das Land aufgeben mußte: am 3. Tischri.

Als der Prophet Sacharja zu einem späteren Zeitpunkt Israel Heil verkündet, verspricht er, dass sich diese Trauertage einst in Freudentage umwandeln werden: »So spricht der Herr Zwaoth: die Fasten des vierten, fünften, siebenten und zehnten Monats sollen dem Hause Juda zur Freude und Wonne und zu fröhlichen Festzeiten werden« (Sach. 8,19).
Sacharja zählt diese Tage nicht in ihrer chronologischen Reihenfolge auf, sondern in der Abfolge der Kalendermonate. Also waren sie auch damals schon feste Fastentage.

Das wurde vor über einem halben Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung geschrieben. Ungefähr sechshundert Jahre später, im Jahr 70 unserer Zeitrechnung, wiederholte sich die Geschichte Israels mit all ihren Leiden. Wieder waren der vierte und der fünfte Monat Zeugen der letzten Zuckungen des Staatslebens von Israel, als es sich in seinem heldenhaften Kampf gegen Rom befand.
Am 17. Tammus fiel der größte Teil der Hauptstadt erst den Babyloniern und sehr viel später auch Titus Vespasianus in die Hände. Noch drei Wochen kämpfte eine tapfere Schar, die sich weder dem Schwert noch dem Hunger ergeben wollte, und verteidigte die Tempelstadt.
Am 9. Aw war auch ihr Schicksal besiegelt. Das war das Ende. Die Struktur des Staates Israel wurde niedergerissen. Der Zweite Tempel ging in Flammen auf.

Seither sind diese vier unglücklichen Daten im Kalender nationale Trauertage, Bußtage. Der Fastentag im Tewet fällt natürlich auf den 10. Tag dieses Monats. Man nimmt an, dass Gedaljas Sterbetag auf den 3. Tischri fällt, weil der 1. und 2. dieses Monats das Neujahr ist. Der Fastentag um die Zerstörung Jerusalems und des Tempels und um ihre Folgen ist der 9. Aw. Dabei war vor allem das zweite Ereignis von ausschlaggebender Bedeutung. Deshalb ist auch der 17. Tammus ein Trauertag.

Inzwischen ist noch ein fünfter allgemeiner Fastentag dazugekommen. Die Einwohner Judas wurden in ihrer überwiegenden Mehrheit schon das erste Mal in die Gefangenschaft nach Babylonien geschickt. Als das Babylonische Reich verfiel und das Persisch-Medische aufstieg, verkündete Kyros der Große die Erlösung des ganzen Hauses Juda. Aber nur etwa fünfzigtausend Menschen suchten die Freiheit im Land der Väter. Die meisten Juden blieben in Babylonien. Dort bedrohte Haman sie später mit der Vernichtung. Esther, die schöne Jüdin, die dank einer Laune des Königs — wahrscheinlich Xerxes — Königin wurde, rettete ihr Volk. Vorher fastete sie. Sie fastete im Nissan. Das Fest, das an diese Rettung erinnert, Purim, das Losfest, fiel in den Monat Adar. Als die Rettung des Volkes als Feiertag verewigt und im Kalender aufgenommen wurde, wurde auch der Fastentag Esthers (תענית אסתר) für alle Zeiten verzeichnet. Genau vor Purim. Die Purimfeiern beginnen am 14. Adar, der Fastentag Esther fällt auf den 13. dieses Monats.

Das sind die fünf allgemeinen Fastentage. Die nationalen Trauertage. Der große Versöhnungstag wird nicht dazu gezählt. Wie schon weiter oben erklärt, hat dieser Tag einen ganz anderen Sinn und steht für sich allein da.

Die Geschichte hat dem jüdischen Volk in den späteren Jahrhunderten keine Atempause eingeräumt, sondern hat seine Befürchtungen um Unheil für das ganze Volk wachgehalten. Der 9. Aw insbesondere war ein schwerer Tag, der immer finsterer wurde. Auch der Bar-Kochba-Aufstand, der letzte große Befreiungskrieg gegen Rom, dessen Seele Rabbi Akiba war und der so erfolgreich begonnen hatte, ging am 9. Aw im Jahr 135 unserer Zeitrechnung mit der vollständiger Niederlage und Vernichtung des ganzen Heeres zu Ende. Ein 9. Aw war auch die letzte Frist, zu der die Juden im Jahr 1492 Spanien verlassen konnten. Das Land, in dem vierhundert Jahre lang die Seiten des jüdischen Lebens mit »Goldenes Zeitalter« betitelt waren.

Es war also unmöglich, insbesondere diesen Tag zu vergessen. Aber auch die anderen allgemeinen Fastentage gingen nicht verloren. Jerusalem und das Land der Väter lebten fort im Judentum. Das Gelübde, das die Vorfahren einst an den Flüssen Babylons abgaben (Ps. 137, 6-7), galt auch für die späteren Generationen: »Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein.«

 

Quelle: Jüdische Riten und Symbole, von S. Ph. De Vries, Marixverlag, Neuauflage 2005, Neu übersetzt und bearbeitet von Miriam Magall

Dieses Buch gilt sowohl für Juden als auch für Nichtjuden noch immer als das Standardwerk über die jüdische Religion, über die Bräuche und Vorschriften innerhalb des jüdischen Alltags.

Aus den Wurzeln der Tradition erklärt Rabbi S. Philip de Vries, der 1944 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet wurde, Riten, Symbole, Feiertags- und Alltagsbräuche, Übungen und Gebete, um das Judentum, seine historischen und moralischen Hintergründe sowie seine Glaubensformen Juden und Nichtjuden verständlich zu machen.